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Ein Physiker-Blick auf Fettleibigkeit

Richard A. Muller

Fettleibigkeit ist in vielen Ländern fast eine Volkskrankheit. Jenseits aller Diät-Versprechen gibt es einen einfachen Ausweg: weniger essen - oder mehr atmen

Manchmal kann Physik komplexe Probleme mit einer einfachen Gesetzmäßigkeit erklären. Vergangenes Jahr habe ich eine Kolumne verfasst, in der ich den Energieerhaltungssatz auf das zunehmende Problem der Fettleibigkeit anwandte. Mein Argument: Beim Sport verbrennt man so wenige Kalorien, dass man durch ihn allein nicht richtig abnehmen kann.

Doch Sport hilft auf eine andere Art, wie mir viele Leute, mit denen ich inzwischen geredet habe, deutlich machten: Er verändert den Stoffwechsel. Dadurch verbrennen wir mehr Kalorien auf natürliche Art, und unser Essen wird nicht gleich zu Fett.

Hier kommt dann ein weiteres physikalisches Prinzip ins Spiel: Das Gesetz von der Erhaltung der Masse. Genauer gesagt geht es hier um die Erhaltung von Kohlenstoffatomen. Wenn man Nahrung verdaut, gehen die darin enthaltenen Kohlenstoffatome ins Blut über. Wenn sie nicht auf irgendeine Art den Körper wieder verlassen, wird man dadurch zwangsläufig schwerer. Hier liegt die entscheidende Beobachtung: Der einzige effektive Weg für den Körper, verdauten Kohlenstoff wieder los zu werden, liegt darin, ihn mit Sauerstoff zu Kohlendioxid zu kombinieren; das CO2 kann dann durch die Lungen ausgeatmet werden. Ergo: Wenn man den Kohlenstoff im Essen nicht ausatmet, nimmt man zu.

Hierzu einige Zahlen, die ich aus einem Buch über Trainings-Physiologie entnommen habe: Fett, Protein und Zucker enthalten ungefähr 0,1 Gramm Kohlenstoff pro verzehrter Kiloalorie. Bei 2000 Kilokalorien pro Tag (die typische Nahrungsmenge eines Erwachsenen), nimmt man ungefähr 200 Gramm Kohlenstoff auf. Im Ruhezustand werden pro Atemzug ungefähr 0,5 Liter Luft ausgeatmet, die zu rund einem Prozent aus Kohlenstoff besteht - also fünf Milligramm pro Atemzug. Bei 12 Atemzügen pro Minute wird man am Tag rund 120 Gramm Kohlenstoff wieder los. Das ist weniger, als man in der Nahrung hatte - man nimmt also zu.

Die wenigsten von uns liegen aber den ganzen Tag über auf der faulen Haut. Gehen erhöht die Atemfrequenz um den Faktor zwei bis drei. Joggt man mit acht Kilometern pro Stunde, erhöht sich die Frequenz um den Faktor acht bis zehn. Wer das clever kombiniert, wird den gesamten aufgenommenen Kohlenstoff wieder los - und das Gewicht bleibt stabil. Gehen, Laufen und Aktivität im Allgemeinen beschleunigen den Stoffwechsel - man verbrennt Kalorien schneller -, und zugleich erhöht sich die Atemfrequenz.

Viele Leute machen allerdings den Fehler zu glauben, dass eine Stunde mäßigen Sports ihre Körperchmie so stark verändert, dass die Kalorien auch dann schnell verbrannt werden, wenn sie sich nicht bewegen. Wer nicht schneller atmet, behält den Kohlenstoff aber im Körper. Wer abnehmen will, muss also weniger essen - oder mehr atmen. Und der einzige effektive Weg, mehr zu atmen, bleibt Bewegung. Es gibt einfach keine Methode, den Stoffwechsel dazu zu bringen, im Ruhezustand schneller zu arbeiten.

Aber was ist dann mit den Leuten, die ständig essen und trotzdem dünn bleiben? Sind die nicht ein Gegenbeweis für meine Schlussfolgerung? Diese Frage hat mich sehr beschäftigt. Also habe ich solchen dünnen Leuten drei Fragen gestellt: Wie oft gönnen Sie sich einen Snack zwischendurch? Essen Sie immer den Teller leer? Und wie häufig nehmen Sie noch einen Nachtisch?

Das Ergebnis dieser Umfrage: Dünne Leute essen tatsächlich weniger. Das kann ich bestätigen, nachdem ich sie beobachtet habe. Wenn sich Dünne einen Hamburger bestellen, nehmen sie keinen Milchshake dazu. Und die Pommes lassen sie liegen.

Auch bei anderen Diät-Weisheiten liegt die Mehrzahl der Leute falsch. So glauben viele, dass Fast Food schneller dick macht als gesundes Essen. Einige Menschen haben deshalb bereits versucht, McDonald's wegen ihres Übergewichtes zu verklagen. Und im preisgekrönten Dokumentarfilm "Super Size Me" führte Regisseur und Hauptdarsteller Morgan Spurlock kürzlich vor, wie schlimm man aussieht, wenn man 30 Tage lang nur bei McDonald's isst: Er nahm über 12 Kilo zu und musste sich zum Schluss von seinen Ärzten einen angegriffenen Gesundheitszustand diagnostizieren lassen.

Aber ging es dabei überhaupt um Fast Food? Nein. Spurlock testete, was passiert, wenn man zu viel isst. Er entschloss sich, dass er jedes Mal zum Riesen-Menü ("Supersize Meal") greifen würde, wenn es ihm angeboten würde. Spurlock war offenbar klar, dass es offizielle McDonald's-Politik ist, das allen Kunden zu empfehlen. Das Ergebnis: Der Mann verspeiste Riesen-Menüs am Morgen, am Mittag und am Abend. Er nahm so wahrscheinlich gut 6000 Kalorien am Tag zu sich, das dreifache der Menge, die sein Körper eigentlich braucht. Das ist gar nicht so einfach, und tatsächlich hatte Spurlock öfters Probleme, das Essen bei sich zu behalten.

Spurlocks Gewichtszunahme und sein schlechter Gesundheitszustand zum Schluss hatten aber höchstwahrscheinlich wenig mit Fast Food zu tun. Das gleiche wäre wohl auch passiert, wenn er sich Tag für Tag in einem Gourmet-Restaurant vollgestopft hätte. Oder sogar an einer Salatbar, wenn er sich nur dreimal am Tag genügend Käsesauce über sein Grünzeug gegossen hätte.

Fast Food kann gut oder schlecht für einen Menschen sein - das hängt vom persönlichen Cholesterinspiegel und anderen Faktoren wie Vitamin- und Mineralgehalt ab. Für die Gewichtszunahme aber spielt allein die Menge der gegessenen (respektive verdauten) Nahrung eine Rolle - und wie viel davon man wieder ausatmet. Das ist ganz einfach das physikalische Gesetz von der Erhaltung der Masse.

Sollte man McDonald's dafür verdammen, dass dort ständig die Riesenmenüs angepriesen wurden? Ich glaube nicht. Als Reaktion auf Klagen und Gesundheitsrisiken werden derzeit Supersize-Pommes und Supersize-Getränke langsam vom Markt genommen. Aber warum waren die Riesenmenüs überhaupt so erfolgreich? Ich habe selbst sechs Jahre lang ein Restaurant betrieben und konnte die Gäste lange genug beobachten. Sie mögen große Portionen. Sie interessieren sich mehr für die Quantität als für die Qualität der angebotenen Gerichte.

Große Portionen sind besonders gefährlich, weil die Leute dazu neigen, nichts auf dem Teller liegen zu lassen. Meine Mutter sagte mir immer, dass ein armes Kind in Indien verhungern würde, wenn ich meinen Teller nicht leer esse. (Diese Logik habe ich nie verstanden...) Es lag wohl an ihrer eigenen Erfahrung während der Weltwirtschaftskrise - damals waren die Leute arm und das Essen teuer. Heutzutage liegt die Sünde woanders: Wer seinen Teller leer isst, obwohl die Portion zu groß war, verhält sich falsch.

Doch selbst wenn man gelernt hat, sich beim Mittagessen zurückhalten, lauern über den Tah verteilt weitere Gefahren. So sind aus Kaffeepausen in den USA während der letzten 20 Jahre Brownie- und Risenschokokeks-Pausen geworden, zu denen man Kaffee trinkt. Naschen ist allgegenwärtig geworden: Meine Studenten in Berkeley essen während der Seminare, in Vorlesungen und sogar in den Prüfungen. Das ist eine echte Veränderung, und ich glaube sie auch am Körperumfang meiner Studenten sehen zu können.

Ich weiß nicht genau, wie weit verbreitet die Fress-Epidemie ist. Meine Tochter jedenfalls lebt in Frankreich, und von dort erzählt sie mir, dass es als unhöflich, wenn man in Gegenwart anderer einen Schokoriegel isst. In Amerika belohnen sich die Leute ständig mit Essen. Gelangweilt, müde, unausgelastet? Her mit dem Snack, denn das ist der "American Way".

Völlerei wurde einst zu den sieben Todsünden gezählt. Aber davon ist heute nicht mehr viel zu hören. Das muss sich ändern. Und wir müssen anerkennen, dass das Problem nicht bei Fast Food oder einem zu langsamen Stoffwechsel liegt. Wenn wir die Fress-Epidemie beenden, bekommen wir auch die Fett-Epidemie in den Griff.

Von Richard A. Muller; Übersetzung: Ben Schwan.

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Muller ist Physik-Professor an der University of California, Berkeley, und hält dort unter anderem die Vorlesung "Physics for Future Presidents". (sma [1])


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