Europa reloaded

Wie wirken sich politische Entscheidungen und wirtschaftliche Impulse auf die Gesellschaft aus? Um volkswirtschaftliche Prozesse zu analysieren und Langzeitwirkungen zu testen, lässt die EU die größte agentenbasierte Wirtschaftssimulation der Welt bauen.

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Von
  • Ralf Grötker
Inhaltsverzeichnis

Bloß nicht nach dem Gießkannenprinzip! Wenn es um Forschungs- oder Wirtschaftsförderung geht, herrscht seltene Einmütigkeit unter den Experten: Gleichmacherei à la Gießkanne bringt wenig. "Exzellenz-Cluster" oder "Leuchttürme" hingegen, also die gezielte Förderung kleiner Inseln, genießen einen besseren Leumund. Zu Recht?

"Gute Argumente gibt es für beide Strategien", meint Herbert Dawid, Professor für Wirtschaftspolitik und mathematische Wirtschaftsforschung in Bielefeld. Doch belastbare Belege, ob die Finanzierung von Erfolg versprechenden Vorzeigeprojekten tatsächlich effizienter ist als die berüchtigte Breitenförderung, existieren kaum. Das europaweite Projekt "Eurace" soll künftig die Antwort auf solche Fragen liefern – und zwar auf Knopfdruck. Acht europäische und ein amerikanisches Forschungsinstitut haben sich in Eurace zusammengeschlossen, um nicht weniger als die gesamte europäische Wirtschaft im Computer zu simulieren.

Nicht nur der Rechenaufwand dafür ist beeindruckend – das gesamte Projekt läuft auf vierhundert parallel geschalteten "IBM pSeries 575"-Rechnern, die in Oxford stehen. Auch der wissenschaftliche Ansatz unterscheidet sich grundlegend von bisherigen ökonomischen Modellen: Die Simulation basiert auf virtuellen Wesen ("Agenten"), die individuelle Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, die Arbeit suchen, miteinander Handel treiben, Geld verdienen, sparen und ausgeben. Deren Verhalten basiert zwar nach wie vor auf vorgegebenen Parametern, doch die stützen sich auf empirische Beobachtungen aus Psychologie und Sozialforschung – und sie können sich im Verlauf einer Simulation ändern.

Wenn die verschiedenen Eurace-Teilbereiche wie Arbeitsmarkt, Kredit- und Finanzwesen wie geplant im Laufe dieses Jahres zusammengeschaltet werden, beherbergen sie insgesamt eine Million Agenten. Damit wäre Eurace nach Angaben des Konsortiums das "bei weitem größte und vollständigste agentenbasierte Modell der Welt". Durch seine Größe, hoffen die Forscher, sollen auch seltene Phänomene entdeckt werden, die bei kleineren Simulationen unter den Tisch fallen würden. Zudem ermöglicht es die große Zahl der Agenten, die Heterogenität Europas mit all seinen unterschiedlichen Regionen abzubilden.

Mit diesem Mega-Modell sollen Fragen geklärt werden, die bislang außerhalb des Horizonts der Wirtschaftsforschung lagen. Herkömmliche ökonomische Modelle betrachten die Wirtschaft nämlich als eine Art Schaukelstuhl, der von irgendetwas – etwa dem Ölpreis-Schock – angestoßen wird und langsam wieder zum Stillstand kommt, wenn Angebot und Nachfrage sich dem Gleichgewicht nähern. Menschen kommen in solchen Modellen nur als Homo oeconomicus vor: Akteure, die topinformiert, rational-eigennützig und – vor allem – alle gleich handeln. Doch diese Modelle können nicht erklären, warum Systeme aus sich heraus Neues hervorbringen. Und sie sind blind für Krisen, die durch die Eigendynamik eines Marktes entstehen.

"Am Ende soll Eurace eine Plattform bieten, wo man sich als Wissenschaftler zusammen mit einem Politikberater an das Modell setzen kann, um Dinge durchzuspielen", sagt Herbert Dawid. Er zählt zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet des agentenbasierten Modellierens und ist innerhalb des Eurace-Projekts für den Teilbereich Arbeitsmärkte und Realwirtschaft zuständig. Anders als bei herkömmlichen Modellen werden dabei Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern ihre Wechselwirkung berücksichtigt.

Was die Simulation schon heute konkret leisten kann, lässt sich in Dawids Bielefelder Büro besichtigen. In seinem bereits fertig gestellten Bereich des europäischen Gesamtmodells – mit zunächst vierhundert Einwohnern und zehn Firmen in zwei Regionen – hat er sich schon einmal mit der Erforschung des Gießkannenprinzips befasst. Dazu entwickelten die Bielefelder Forscher ein komplexes Wechselspiel zwischen Agenten und Gesellschaft: Das Verhalten jedes Agenten wird durch fünf Parameter bestimmt (s. Kasten Seite 30). Die Agenten suchen sich gemäß ihrer Fähigkeiten eine Arbeit, erhalten entsprechenden Lohn, müssen Kosten für den Weg zur Arbeit in Kauf nehmen und geben ihr Einkommen zu einem gewissen Teil auf eigens eingerichteten Marktplätzen wieder aus. Die Unternehmen ihrerseits brauchen qualifizierte Mitarbeiter, um ihre Produktivität zu erhöhen. Das wiederum beeinflusst den Preis ihrer Produkte und damit auch den Konsum aller anderen Agenten.

In Simulationen spielten die Wissenschaftler zwei Varianten durch: Einmal das Modell Gießkanne, bei dem die Fähigkeiten der Arbeiter durch flächendeckende Fortbildungsmaßnahmen in beiden Regionen gleichzeitig angehoben wird. Und das Modell Leuchtturm, bei dem ausschließlich in eine einzige Region investiert und diese zu einem Elitestandort entwickelt wird. Das Ergebnis: Leuchtturm-Regionen liegen zwar mittelfristig vorne, was Beschäftigungsrate, Wirtschaftsleistung und Preisentwicklung betrifft, langfristig hat die gleichmäßige Förderung über beide Regionen hinweg aber die günstigeren Auswirkungen auf Arbeitslosenzahlen und die wirtschaftliche Entwicklung.

Der Grund dafür: Anfangs können die Unternehmen in der Leuchtturm-Region durch die vielen qualifizierten Arbeitskräfte in ihrer Umgebung effizientere Herstellungsverfahren einsetzen und entsprechend günstiger produzieren als ihre Konkurrenten in der nicht geförderten Region. Doch irgendwann können die Elite-Produzenten den Bedarf nach den von ihnen billig angebotenen Produkten gar nicht mehr decken. Der Anstieg der Produktion wird so wieder gebremst. Am Ende ist deshalb der insgesamt entstehende Wachstumsschub kleiner, als wenn die Fähigkeiten breit gestreut wachsen würden.

Diese Art der Modellierung wird oft als "evolutionär" bezeichnet. Nach Dawid kommen selbst in einem einfachen Modell, in dem die Regeln, nach denen Agenten handeln, konstant bleiben, evolutionäre Mechanismen zum Tragen, die systemstabilisierend wirken: "Die Unternehmen mit den besseren Regeln werden zum Beispiel ganz einfach an Größe zunehmen, womit dann auch diese speziellen Regeln im Gesamtsystem an Bedeutung gewinnen." Für zukünftige Versionen des Modells ist darüber hinaus eine dynamische Anpassung von Verhaltensregeln vorgesehen – durch Imitation von erfolgreichen Strategien.

Die Bereiche, in denen agentenbasierte Simulationen angewandt werden, reichen bis hin zu konkreten betriebswirtschaftlichen Fragen. In einer früheren Arbeit ist Dawid etwa der Frage nachgegangen, welche Folgen für Unternehmen und Konsumenten es hat, wenn Autohersteller eine immer größere Anzahl verschiedener Fahrzeugtypen in immer schnelleren Abständen auf den Markt bringen. Das Ergebnis: höhere Kosten für die Hersteller, schlechtere Qualität für die Kunden. Und im "Journal of Evolutionary Economics" galt eine Publikation der Simulation, wie sich Angebot und Nachfrage für "grüne" Produkte entwickeln. Dieses Modell geht davon aus, dass der einzelne Akteur sowohl "persönliche" wie "soziale" Bedürfnisse hat. Letztere werden befriedigt, wenn jemand das gleiche besitzt wie sein Nachbar. Auf diese Weise erzeugt das Modell einen Mechanismus, der einigen Produkten zu größerer Verbreitung verhilft. Das Ergebnis: Bio-Produkte erobern den Markt schneller, wenn sie plötzlich eingeführt werden, als wenn viele Hersteller ihr Produktdesign allmählich ändern.

Ein anderes wichtiges Anwendungsfeld für die Agentenmodelle sind die Finanzmärkte – und insbesondere die Entstehung von Spekulationsblasen. "Noch sind die Modelle nicht ausgereift genug, um uns etwas über neue Produkte im Kreditwesen und ihre Auswirkungen auf den Markt sagen können", meint Blake LeBaron, Spezialist für agentenbasierte Modellierungen von Finanzmärkten an der Brandeis University in Massachusetts. "Aber einige generelle Prinzipien lassen sich schon aus den Modellen ableiten. 'Blasen' sind in agentenbasierten Modellen eher die Regel als die Ausnahme."

Einige Agententheoretiker gehen weiter und wagen konkretere Hypothesen. So hat Cars Hommes, der an der Universität Amsterdam ein Projekt zur Modellierung von Finanzmärkten leitet, mit Kollegen schon vor Jahren ein Modell entwickelt, das demonstriert, wie Aktienmärkte durch die Bündelung und den Weiterverkauf von Krediten über mehrere Banken hinweg unter bestimmten Umständen an Stabilität verlieren. Ein Modell der Finanzforscher John Geanakoplos, J. Doyne Farmer und Stefan Thurner führt sogar vor, wie durch gegenseitige Kredite eine immer stärkere Vernetzung zwischen den Akteuren geknüpft wird und so das Risiko steigt, dass das gesamte System umkippt. Was zu beweisen war. Die derzeitige Finanzkrise ist nach Aussage dieser Simulationen kein Betriebsunfall, sondern fester Bestandteil des Systems.

Aber wie aussagekräftig sind all diese Modelle? Liefert eine agentenbasierte Simulation tatsächlich auch die besseren Ergebnisse? Als erster Anhaltspunkt bietet sich eine Überprüfung dessen an, was Ökonomen "stilisierte Fakten" nennen: allgemeine Wesenszüge wirtschaftlicher Entwicklungen, die als empirisch gesichert gelten wie die Beobachtung, dass die Aktienmärkte abwechselnd immer ruhige Phasen und solche großer Turbulenzen durchmachen. Die herkömmlichen Ökonomie-Modelle mit Agenten, die alle gleich handeln, können diese Effekte nicht erklären. Die Agentensimulation schon.

Nach der klassischen Theorie müssten sich auch Preisunterschiede von Produkten längerfristig ausgleichen. De facto tun sie dies jedoch nicht immer. Im Agentenmodell sieht das so aus: Unternehmen haben unterschiedliche Ressourcen und Informationen. "So könnten zum Beispiel Preisunterschiede zwischen den Produkten zweier Anbieter dadurch entstehen, dass die Qualität der Produktionsanlagen und der Mitarbeiter differieren", erklärt Dawid: "Dadurch entstehen Kostenunterschiede, die sich am Ende auch in den Preisen widerspiegeln."

Eine weitere Methode für den Plausibilitätscheck von Modellen sind empirische Zeitreihen. Solche Zeitreihen gibt es in besonders großer Quantität und gut aufbereiteter Form für Finanzmärkte, aber auch für soziale Verhältnisse. So wurde kürzlich im "Journal of Economic Behavior and Organization" ein Modell vorgestellt, das der Frage nachgeht, ob die vermehrte Inhaftierung von Kriminellen, wie in den letzten Jahren unter dem Motto "Three strikes and you're out" in den USA praktiziert, zu einer Reduktion von Verbrechen führt. Das Ergebnis der Simulation mit fünftausend Agenten, die auf zwanzig verschiedene Wohnviertel verteilt sind, bestätigt die Ergebnisse langjähriger empirischer Untersuchungen: Mehr Inhaftierung führt nicht zu weniger Verbrechen.

Dass eine Simulation empirisch beobachtbare Zeitreihen und stilisierte Fakten bestätigen kann, ist allein allerdings noch kein Beweis für ihre Richtigkeit. Im Nachhinein kann man ein Modell leicht darauf trimmen, dass es bestimmte Effekte produziert. Dieser Verdacht kann auch nicht pauschal ausgeräumt werden. Denn für die agentenbasierten Modelle, anders als für die etablierten makroökonomischen Theorien, gibt es noch keine akzeptierten Standardverfahren, um zu testen, ob Ergebnisse durch zufällige Einstellungen bestimmter Parameter verzerrt werden. Erschwerend hinzu kommt die Komplexität solcher Simulationen. "Agentenmodelle haben oft fünfzig, manche auch hundertfünfzig Parameter", sagt Thomas Brenner, Professor für Wirtschaftsgeografie an der Uni Marburg. "Rechenmodelle alter Schule hingegen kaum mehr als fünf bis zehn." "So groß ist der Spielraum, der uns zur Verfügung steht, auch wieder nicht", entgegnet Dawid auf den häufig vorgetragenen Einwand. Die Agenten orientierten sich schließlich an der menschlichen Natur. Einige Modelle werden deshalb mit psychologischen Experimenten auf ihre Plausibilität hin geprüft.

Ob die agentenbasierte Simulation einmal die herkömmlichen Wirtschaftswissenschaften mit ihren physikalischen Gleichgewichtsmodellen und holzschnittartigen Vorstellungen vom Homo oeconomicus ersetzen wird? Herbert Dawid glaubt nicht an eine Revolution in der Wirtschaftswissenschaft. "Bei welcher Art Probleme kann man mit unseren Modellen Einsichten gewinnen und mit den anderen nicht?": Diese pragmatische Frage hält er für interessanter als einen Methodenstreit. "Es ist gut möglich, dass der herkömmliche Ansatz auf vielen Feldern gar nicht zu schlagen sein wird", meint auch Cars Hommes von der Universität Amsterdam. "Stattdessen könnten sich aber Politiker und Politikberater an agentenbasierte Modelle halten, um auszutesten, wie sich größere Kurswechsel bemerkbar machen, die weit vom bisherigen Pfad der Politik abweichen", – so wie die Wirtschaftsförderung nach dem Gießkannenprinzip. (bsc)