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Ferndiagnose für Giftwolken

Denis Dilba

Gefahrenstoffe aufzuspüren bedeutet oft ein hohes Risiko für Rettungskräfte. Technische Helfer wie Flugroboter könnten den Job übernehmen.

Gefahrenstoffe aufzuspüren bedeutet oft ein hohes Risiko für Rettungskräfte. Technische Helfer wie Flugroboter könnten den Job übernehmen.

Der Anruf ereilte Roland Harig in der Halbzeitpause. Irgendetwas mit seinem neuen Infrarotspektrometer, das Gefahrstoffe in der Luft aus sicherer Entfernung erkennt, stimme nicht, beschwerte sich die Berliner Polizei. Noch am Nachmittag vor dem DFB-Pokal-Finale 2006 hatte der Juniorprofessor am Institut für Messtechnik der Technischen Universität Hamburg-Harburg das Gerät in den oberen Rängen des Olympiastadions mit aufgebaut und getestet – da funktionierte es noch einwandfrei. Jetzt aber, bellte der Einsatzleiter in den Hörer, zeige es dauernd Fehlalarme an: Über der gesamten Bayern-Fankurve solle laut dem System eine riesige Ethanol-Wolke hängen, das könne doch nicht sein. Er habe ihn beruhigen können, sagt Harig heute, "das Gerät hat damals richtig und äußerst genau gemessen: Die Wolke stammte aus der Atemluft der feiernden Fans."

Die Bierdunst-Schwade blieb die einzige nennenswerte Entdeckung an diesem Abend. Zum Glück – denn Harigs Apparatur ist dafür ausgelegt, geringste Spuren ganz anderer Stoffe zu erkennen: die von chemischen Kampfstoffen wie Sarin oder VX-Gas. Auch Chemieunfälle und die kontinuierliche Überwachung von chemischen Betrieben oder großen Ballungsräumen stehen im Fokus der Technologie. Im Ernstfall kommt es auf jede Sekunde an: Schnell verfügbare Informationen über die freigesetzten Stoffe, deren Konzentrationen sowie der betroffenen Gebiete können Leben retten. Bisher allerdings mussten sich die zuständigen Einsatzkräfte für diesen Job oft selbst in Gefahr bringen. Derzeit gängige Methoden, vom einfachen Gas-Prüfröhrchen und tragbaren Detektor bis zur Gas-Chromatografie mit anschließender massenspektrometrischer Analyse, erfordern allesamt Proben des unbekannten Gases. Und die müssen direkt am Ort des Geschehens genommen werden.

Harigs neues Infrarotspektrometer dagegen erledigt die mitunter gefährliche Gasaufklärung aus einer Entfernung von bis zu zehn Kilometern, selbst bei Dunkelheit. Das Abbild der Gaswolke wird dann auf dem Computerbildschirm in die Google-Earth-3D-Darstellung des betreffenden Ortes eingeblendet und zeigt so genau, wo sich die Gefahr befindet. Die Genauigkeit dabei ist verblüffend: Unter einer Milliarde Gasteilchen erkennt die Fernaufklärung einige wenige Gefahrstoff-Moleküle. Die Reichweite hängt vom Wetter ab: Vor allem Nebel reduziert sie bis auf zwei Kilometer, da die Infrarotstrahlung an den Tropfen gestreut wird. Die Einsatzkräfte können damit auf einen Blick die genaue stoffliche Zusammensetzung, die Konzentration und die Ausbreitung der Gaswolke ausmachen – und dann gezielte Gegenmaßnahmen einleiten.

Das Grundprinzip, nach dem Harigs Fernerkundungssystem mit dem Namen HYGAS arbeitet, basiert auf der spektralen Analyse allgegenwärtiger Infrarotstrahlung. Diese wird bei normaler Umgebungstemperatur von allen Objekten wie Gebäuden, Bäumen oder Personen und direkt vom Himmel abgegeben. Fällt das natürliche Infrarotlicht auf eine Gaswolke, absorbieren oder emittieren deren Moleküle abhängig von ihrer jeweiligen räumlichen Struktur für sie charakteristische Infrarot-Wellenlängenbereiche. Durch diesen eindeutigen Spektral-Fingerabdruck kann fast jede gasförmige Substanz eindeutig identifiziert werden. Dazu fängt ein Infrarot-Detektor-Array im Spektrometer zunächst die durch die Gaswolke modifizierte Infrarotstrahlung auf. Ein Abgleich mit den zuvor in einer Datenbank gespeicherten Spektralprofilen von allen relevanten Stoffen liefert daraufhin die genaue Zusammensetzung der potenziellen Gefahrstoffwolke. Der Computer sortiert dabei auch die Spektralspuren der natürlich vorkommenden Gase aus, beispielsweise Wasserdampf oder Ozon, deren Konzentration man nicht messen will.

In der aktuell vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderten HYGAS-Version steckt ein völlig neuartiges De-tektor-Array: 65536 Sensoren arbeiten parallel und kommen auf rund 32000 Auswertungen pro Sekunde. Der ebenfalls von Harig entwickelte Vorgänger-Prototyp musste noch mit einem Sensor auskommen und schaffte gerade mal 16 Spektren pro Sekunde. Anstatt erst nach mehreren Minuten ermittelt HYGAS die genaue Konzentration einer Gefahrstoffwolke jetzt in Echtzeit.

"Das Gerät muss vor allem robust genug für die Feldanwendung und leicht aufzubauen sein", fordert Robert Müller vom Umweltdienst der Feuerwehr Hamburg, der seine Erfahrung als Anwender in das HYGAS-Projekt mit einbringt. Auch eine einfache Bedienoberfläche sei unabdingbar. Die komplizierte Elektronik von HYGAS wird daher von einem etwa Schuhkarton-großen Edelstahlgehäuse geschützt. Ein klappbares Stativ mit schwenkbarem Aufsatz soll künftig dafür sorgen, dass das System mit wenigen Handgriffen einsatzbereit ist. Müller hat dazu eine Art Gefahrenampel angeregt: Zusätzlich zur 3D-Darstellung der Wolke blinkt die gemessene Konzentration des Gases grün, wenn sie unterhalb des zulässigen Toleranzwertes liegt – und gelb oder rot, wenn dieser bald erreicht wird beziehungsweise überschritten wurde.

Der gleichen Aufgabe wie HYGAS, allerdings mit einem ganz anderen Ansatz, widmet sich das ebenfalls vom BMBF geförderte Projekt "AirShield". Christian Wietfeld, Leiter des Lehrstuhls für Kommunikationsnetze an der Technischen Universität Dortmund, will eine Armada fußballgroßer Flugroboter in Dienst stellen, die bei Chemieunfällen, Großbränden oder auch nuklearen Störfällen ausschwärmt und Gefahrstoffwolken aufspürt. Anders als bei HYGAS bringt Wietfeld die Sensorik direkt zum Gas. Jedes einzelne der sogenannten Unmanned Aerial Vehicles (UAV) mit jeweils vier Minirotoren kann mit leicht abgewandelter Standard-Gassensorik ausgestattet werden. Messtechnik für die gängigsten Gefahrstoffe wie Benzol, Ammoniak und Kohlenmonoxid ist standardmäßig an Bord. Denn auch bei AirShield gilt: Die Technik muss in der Hektik des Einsatzes für die Feuerwehrleute möglichst einfach zu bedienen sein. Deshalb lassen sich die einzelnen rund zwei Zentimeter hohen und breiten Mini-Detektoren so simpel wie Legosteine in die UAVs einsetzen. "Vor Ort müssen unsere Luftroboter nur noch aufgebaut werden, dann drückt man einen Knopf, und sie fliegen los", sagt Wietfeld. Per Fernsteuerung werden sie dann zum Gefahrenherd dirigiert.

Ab Ende des Jahres könnten ausgewählte Feuerwehren bereits mit ein oder zwei solcher UAVs sichere Aufklärung betreiben. Künftig sollen gleich Dutzende der Drohnen in der Luft als intelligenter Schwarm zusammenarbeiten. Das heißt: Sie müssen nicht mehr einzeln ferngesteuert werden, sondern agieren als selbstständig arbeitendes Team in Höhen von über 100 Metern. Dabei ermitteln die UAVs über Funk die Positionen der nächstgelegenen Gruppenmitglieder. Gibt man den UAVs einmal die grobe Position des Gefahrengebietes an, kann sich der Schwarm optimal verteilen – und so die Ausdehnung, die Bewegungsrichtung sowie die Konzentration der Schadstoffwolke vermessen. Diese Steuerung sei aber alles andere als trivial, sagt Wietfeld, dazu seien noch mehrere Jahre Forschungsarbeit nötig. Das Fernziel: Die UAVs werten selbstständig Satellitenbilder mit Positionsdaten aus und ziehen los. Wie beim HYGAS-Projekt werden auch die AirShield-Messwerte in einem Google-Earth-ähnlichen Geoinformationssystem als 3D-Grafik am Computerbildschirm dargestellt. Bis zum nächsten Sommer soll eine erste UAV-Flotte einsatzbereit sein.

Neben Feuerwehr, Polizei und Katastrophenschutz sind vor allem auch Forscherkollegen aus anderen Disziplinen an den neuen Systemen brennend interessiert. Ein Geologe, berichtet Harig, wolle mit HYGAS den exakten Kohlendioxidausstoß von Vulkanen bestimmen, und Klimatologen liebäugeln laut Wietfield bereits mit den AirShield-Drohnen, um damit teilweise Wetterballons zu ersetzten. Der Markt für unsere Technologie ist offenbar noch größer, als wir zu hoffen wagten", freut sich Wietfeld. (bsc [1])


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