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Geschickt eingefädelt

Emily Singer

Mit Hilfe von neuartigen Mikrofäden aus Proteinen können Biotech-Forscher im Tierversuch durch Verletzungen verlorenes Muskelgewebe wieder herstellen – und das großflächiger als mit anderen Verfahren.

Mit Hilfe von neuartigen Mikrofäden aus Proteinen können Biotech-Forscher im Tierversuch durch Verletzungen verlorenes Muskelgewebe wieder herstellen – und das großflächiger als mit anderen Verfahren.

Viele Verletzungen kann die moderne Medizin heutzutage nahezu perfekt heilen. Schwere Muskelverletzungen gehören leider nicht dazu. Eine Entwicklung von Forschern des Worcester Polytechnic Institute könnte diese Lücke vielleicht schließen: Mit Hilfe von eingepflanzten „Mikrofäden“ haben sie stark geschädigtes Muskelgewebe von Labormäusen weitgehend regeneriert. Die Fäden bestehen aus demselben Material, das die Bildung von Blutgerinnseln auslöst.

„Wir vermuten, dass sich die Muskelzellen an diesen Fasern wie an einem Gerüst entlang ausbreiten“, erklärt George Pins, Biotechniker und Erfinder des Konzepts. „Die Zellen wachsen in die Lücke, die im Muskel klafft, aber in einer geordneten Weise.“ Dadurch bleibe keine nennenswerte Vernarbung zurück.

Die ist bislang das große Problem für Mediziner gewesen. Wird Muskelgewebe etwa in einem Autounfall teilweise zerstört, wächst zwar neues Gewebe nach, formt aber dicke Narben, so dass der Muskel nicht mehr so gut arbeiten kann wie zuvor. Zwar gibt es verschiedene Ansätze, dem zu begegnen: Einige Wissenschaftler probieren es mit Ersatz-Muskelzellen aus der Petrischale, andere mit Stammzellen, die in den Muskel gespritzt werden, um neues Gewebe zu bilden. Bei diesen Methoden ist die Anzahl der neuen Zellen aber immer viel zu gering, um den Muskel einigermaßen wiederherzustellen.

„Die Ausrichtung der nachwachsenden Zellen ist enorm wichtig“, betont Kevin Parker, Biotechniker an der Harvard University. Denn damit sich Muskeln wieder zusammenziehen können, dürfen ihre Grundbausteine, die so genannten Sarkomere, nicht kreuz und quer durcheinander wachsen. Sarkomere enthalten mehrere Proteinen, die sich geordnet zusammenziehen können, und haben im Ruhezustand eine Länge von etwa zwei Mikrometern.

Hier kommen nun die neuen Mikrofäden ins Spiel. Sie bestehen aus Fibrin, einem Protein, das die Wundheilung startet. Auch in synthetischem Gewebe wird es eingesetzt. Um die Fasern herzustellen, verwenden Pins und seine Kollegen einen Extrusionsprozess: Aus zwei Röhren werden Fibrinogen, das Ausgangsmaterial von Fibrin, und das Eiweiß Thrombin gepresst. Das Thrombin hilft als Katalysator Fibrinogen-Molekülen, sich zu Fibrin zu verbinden.

Auf die Fäden wurden dann Muskelzellen aus menschlichem Gewebe gegeben, das bei Operationen zurück geblieben war. Die Zellen wurden zuvor chemisch so behandelt, dass sie sich „verjüngen“, also weniger spezialisiert sind als vorher – ähnlich, aber nicht so stark, wie dies bei induzierten pluripotenten Stammzellen geschieht.

Um die Fasern zu testen, entfernten die Forscher Labormäusen etwa ein Drittel des vorderen Schienbeinmuskels. In die Wunde pflanzten sie dann die mit den Zellen präparierten Mikrofäden ein. Zum Vergleich: Mit einem Durchmesser von 50 bis 100 Mikrometern sind die Fäden rund fünf bis zehnmal dicker als die Zellen.

Die Forscher vermuten nun, dass das Fibrin-Gerüst ähnliche Prozesse aktiviert wie bei der natürlichen Wundheilung. Unter verschiedenen Molekülen, die sich an die Fäden anlagern, ist auch eines, das Fibrin wieder in Fibrinogen zerlegt. Dieses wiederum signalisiert den umgebenden Zellen, sich in die Lücke zu bewegen und dort neues Gewebe zu bilden.

Bereits kurz nach der Implantation setzte diese Zellmigration ein. Nach einer Woche begannen die Mikrofasern sich aufzulösen, und die Forscher konnten beobachten, wie neue Muskelfasern allmählich ihren Platz einnahmen. Nach zehn Wochen war die Wunde wieder ausgefüllt. Es gebe auch Hinweise, dass die Mäuse in dem Prozess eigene neue Muskelzellen gebildet hätten, sagt Pins’ Kollege Ray Page. Derzeit testen die Forscher, ob die regenerierten Muskeln wieder genauso funktionieren wie zuvor.

Tiere, bei denen die Wunden von selbst heilten, hätten viel mehr Narbengewebe ausgebildet, so Page. Dieses besteht im Wesentlich aus dem Strukturprotein Collagen. „Stattdessen haben wir eine Menge gut organisierter Muskelzellen entdeckt“, sagt Page. In diesem Ausmaß sei es noch keiner Gruppe gelungen, einen schwer verletzten Muskel zu regenieren.

Page führt den Erfolg neben der geordneten Zellmigration auf einen zweiten Faktor zurück: Die Mikrofäden hätten die Blutzufuhr während der Heilung erleichtert. Die hat sich in anderen Verfahren als Problem erwiesen. „Einer der Gründe für den Test mit den Fasern war, zu herauszufinden, ob sie Blutgefäßen und Muskelzellen zugleich Platz lassen“, erläutert Page.

Harvard-Forscher Parker bestätigt dies. „Wenn ich einfach nur einen Fleischklumpen in eine klaffende Muskelverletzung einfüge, geht ihm in der Mitte irgendwann der Sauerstoff aus. Mit Raum zwischen den Zellen können die lokalen Blutgefäße jedoch hineinwachsen.“ Parker selbst experimentiert mit noch feineren Fäden, um Herzmuskelgewebe neu zu bilden. In der medizinischen Gewebezüchtung würden derzeit aber erst wenige Wissenschaftler diesen Ansatz verfolgen, sagt Parker.
(nbo [1])


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