Grüne Chemie

Die Chemie-Industrie will ihr Öko-Image verbessern. Sie spart Energie, setzt auf nachwachsende Rohstoffe und propagiert Nachhaltigkeit. Doch der Wandel vom Großverschmutzer zum Umweltfreund gelingt nicht immer.

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Von
  • Susanne Donner

Die Chemie-Industrie will ihr Öko-Image verbessern. Sie spart Energie, setzt auf nachwachsende Rohstoffe und propagiert Nachhaltigkeit. Doch der Wandel vom Großverschmutzer zum Umweltfreund gelingt nicht immer.

Eine Creme, „aber bitte ohne Chemie“, ruft die Kundin in der Drogerie. Sonst bekomme sie gereizte Haut. Der Verkäufer nickt verständnisvoll. Viele Kunden verlangen heutzutage Naturprodukte. Synthetisches vom Parfüm über Plastik bis zum Pestizid schadet der Gesundheit oder der Umwelt, manchmal sogar beidem – so die landläufige Meinung. Eine ganze Disziplin – die Chemie – ist zum Sinnbild der Entfremdung des Menschen vom Leben und von der Natur geworden.

Die Überzeugung, dass chemische Produkte so lebensfeindlich nicht sein müssen, trieb den 28-jährigen amerikanischen Chemiker Paul Anastas 1991 dazu, eine grüne Chemie zu fordern. Bis heute gelten seine zwölf Leitprinzipien als Fundament einer nachhaltigen chemischen Produktion: Abfall vermeiden statt entsorgen, Ressourcen wie Erdöl und Wasser schonen, erneuerbare Rohstoffe bevorzugen, gefährliche Chemikalien ersetzen und Anlagen sicher betreiben – so einige seiner eingängigsten Regeln. Barack Obama würdigte Anastas’ Pionierrolle, indem er ihn 2009 zum Forschungsleiter der amerikanischen Umweltbehörde, der Environmental Protection Agency, ernannte.

Tatsächlich hat sich die Zahl der Chemieunglücke stark verringert, nicht nur in den USA. Immer seltener gelangen hierzulande gefährliche Substanzen unbeabsichtigt in die Umwelt. Die Berufsgenossenschaft Chemie lobt die Branche als eine der sichersten des produzierenden Gewerbes, sie verzeichnet pro Jahr weniger als 15 Arbeitsunfälle auf tausend Beschäftigte. Der Regen in Deutschland ist weniger sauer, weil giftige Schwefeldioxide weitgehend aus den Abgasen gefiltert werden. Und auch das Wasser aus Rhein, Oder und Donau fließt sauberer als vor 20 Jahren.

Alles schön? „Die Umweltprobleme fahren mit den Produkten aus dem Werkstor hinaus“, behauptete schon in den 1990er-Jahren Manfred Krautter, damals Leiter der Chemie-Kampagne bei Greenpeace. Statt Nitratverbindungen und Salzen schwimmen Medikamente im Abwasser. Global betrachtet sind Flüsse und Böden stärker mit Flammschutzmitteln und Kunststoff-Weichmachern belastet als in den siebziger Jahren. Wie steht es also wirklich um die Umweltfreundlichkeit der Chemieunternehmen?

Viel ist geschehen. Etliche Chemikalien sind umweltverträglicher geworden, von der Herstellung in der Fabrik bis zur Anwendung im Haushalt. Eine zunehmende Zahl an Produkten basiert auf nachwachsenden Rohstoffen. Und trotzdem ist das Beherzigen von Anastas’ Regeln bis heute nicht selbstverständlich. Lange Innovationszyklen hemmen den ökologischen Fortschritt. Auch ist nicht immer umweltfreundlich, was mit dem Etikett „grün“ verkauft wird. Statt grüner Chemie propagieren die meisten Unternehmen ohnehin lieber das Konzept der Nachhaltigkeit, da ihnen der Blick auf die Ökologie allein zu eng erscheint. Schließlich sei auch die Wirtschaftlichkeit der Produktion ein langfristig notwendiges Ziel, und die Sozialbedingungen beim Hersteller wie bei den Zulieferern müssten stimmen. Der Nachteil dieser an sich ganzheitlichen Herangehensweise: Der Begriff der Nachhaltigkeit lässt sich beliebig auslegen und daher für alles und jedes beanspruchen.

2600 Kilometer Röhren winden sich über das Gelände der BASF in Ludwigshafen. Öl, Säure und Lösemittel fließen in haushohe Stahlbottiche. „Nachhaltigkeit“, sagt Pressesprecher Holger Kapp, „da könnte ich Ihnen Hunderte Interviewpartner vermitteln.“ Das Organigramm des Unternehmens führt einen Nachhaltigkeitsrat und ein Nachhaltigkeitszentrum auf. Der weltweit größte Chemiekonzern verfolgt seit 2002 selbst auferlegte Umweltziele, die er mit moderner Umwelttechnik und innovativer Chemikalienproduktion erreichen will: Aus den Schloten sollen bis 2020 rund 70 Prozent weniger Schadstoffe entweichen als 2002. In die Gewässer sollen 60 Prozent weniger Schwermetalle, Stickstoffverbindungen und organische Chemikalien eingeleitet werden. Gleichzeitig will BASF seine Energieeffizienz um 25 Prozent steigern, die produktionsbezogenen Treibhausgas-Emissionen um ein Viertel senken. Seit 1990 ist der Kohlendioxid-Ausstoß des Unternehmens um 41 Prozent zurückgegangen.

Im vergangenen Jahr heimste BASF zusammen mit dem amerikanischen Konzern Dow Chemical den renommiertesten Preis für grüne Chemie ein: den Presidential Green Chemistry Award der amerikanischen Umweltschutzbehörde, der im Namen des US-Präsidenten vergeben wird. Beide Unternehmen haben gemeinsam ein ökologisches Verfahren zur Erzeugung der Massenchemikalie Propylenoxid entwickelt. Aus dem chemischen Grundbaustein entstehen so vielfältige Produkte wie Dämmstoffe, Basismaterialien für Kühlgeräte, Autos, Möbel oder Arzneien und Chemikalien zur Flugzeugenteisung.

Bei der üblichen Herstellung von Propylenoxid fallen eine Menge unerwünschter Nebenprodukte an, meist mehr als 50 Prozent. In Fachkreisen war ein nebenproduktfreier Erzeugungsweg schon lange bekannt, und zwar mithilfe von Wasserstoffperoxid, jenem Mittel, das Haare bleicht. Bei dem neuen Verfahren bleibt als Überrest nur Wasser zurück. Die Effizienz musste allerdings noch verbessert werden.

Acht Jahre lang steigerten Mitarbeiter den Ertrag an Propylenoxid Stück für Stück auf über 90 Prozent. Die Prozessoptimierung verschlang einen zweistelligen Millionenbetrag. Doch die Investition zahlte sich aus. Das so entwickelte Verfahren namens HPPO (Hydrogen-Peroxide-Propylen-Oxide, zu Deutsch: Wasserstoffperoxid-Propylenoxid) verbraucht etwa 35 Prozent weniger Energie verglichen mit herkömmlichen Techniken, da das Produkt nicht aufwendig gereinigt werden muss. Laut Ökoeffizienzanalyse der BASF entsteht zudem bis zu 80 Prozent weniger Abwasser.

2008 nahm die erste HPPO-Anlage in Antwerpen ihren Betrieb auf. Ein Koloss aus Stahl, in dem jedes Jahr 300000 Tonnen der klaren Flüssigkeit geköchelt werden. Zurzeit errichtet Dow Chemical in Thailand eine weitere Fabrik. Auch das Konkurrenzgespann Evonik und Uhde hat ein HPPO-Verfahren zur industriellen Reife gebracht. In Südkorea läuft die erste Anlage der beiden deutschen Firmen. Doch ausgerechnet in Ludwigshafen wird Propylenoxid noch nach altem System – weniger ökoeffizient – erzeugt. Warum ersetzt BASF die Technik nicht? „Es wäre ökonomisch und ökologisch nicht sinnvoll, das Verbundsystem umzustellen, in dem viele Produktionsanlagen miteinander verknüpft sind“, entgegnet Jürgen Dahlhaus, Technologiemanager für die Propylenoxid-Erzeugung bei BASF. Chemieanlagen laufen gewöhnlich mehr als 30 Jahre. Haben sie sich amortisiert, sind sie wie Großkraftwerke Gelddruckmaschinen. Diese langen Innovationszyklen hemmen schnellen ökologischen Fortschritt.

Das HPPO-Verfahren ist ein Paradebeispiel für grüne Chemie. Es arbeitet materialsparend, da fast ausschließlich das gewünschte Produkt und kaum Abfälle entstehen. Berechnungen des Umweltbundesamts legen jedoch nahe, dass dies nicht der Normalfall ist. Die Ressourceneffizienz der chemischen Industrie ist von 1991 bis 2003 nahezu gleich geblieben. Klaus Günter Steinhäuser, Leiter des Fachbereichs Chemikaliensicherheit beim Umweltbundesamt, glaubt nicht an eine Trendwende (siehe Interview Seite 69). „Wir haben immer noch zu viele Verfahren, bei denen auf ein Kilogramm Produkt zehn Kilogramm und mehr Nebenprodukte kommen.“

Dagegen ist die Energieeffizienz dem Umweltbundesamt zufolge im selben Zeitraum kontinuierlich gestiegen. Für eine Tonne einer gewünschten Chemikalie werden heute deutlich weniger Strom und Wärme verbraucht als in den 90er-Jahren – nach Berechnungen des Umweltbundesamts wuchs die Energieproduktivität von 1994 bis 2003 um 40 Prozent. Eine Steigerung, die Anastas’ Maximen für eine grüne Chemie gut entspricht.

Wesentlich zu dieser Energieeinsparung beigetragen hat der Boom der Katalysatoren, glaubt Matthias Dries, Leiter des Exzellenzclusters der Katalyseforschung „UniCat“ in Berlin (siehe Artikel Seite 70). Katalysatoren sind chemische Reaktionshelfer, die nicht im Prozess verbraucht, sondern im Reaktorkessel zyklisch weiterverwendet werden. 80 Prozent der chemischen Verfahren nutzen solche Hilfsstoffe, weltweit summierte sich der Umsatz mit ihnen 2007 auf 16 Milliarden Dollar. Auch in der Natur sind Katalysatoren das Schwungrad ...

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(nti)