Japan ubiquitär

Mit so genannten "Next Generation Networks" (NGNs) will Japan die Weltmarktführerschaft für seine Informations- und Kommunikationstechnik zurückerobern.

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Von
  • Martin Kölling

Kozo Takahara hat eine Mission. Den Planeten will der Präsident von Japans Forschungsinstitut für Telekommunikation und Wirtschaft ("Rite") retten – durch den von Japan ausgehenden Ausbau allgegenwärtiger (ubiquitärer) Netzwerke. Immer wieder hämmert der ehemalige Spitzenbürokrat des Telekommunikationsministeriums Japans Elektronik- und Telekommunikationskonzernen seinen Leitsatz "Rette den Planeten" in die Köpfe. Denn die Manager dächten kleingeistig nur an ihren Gewinn, habe Takahara als Vize-Minister bei seinen Gesprächen immer wieder feststellen müssen: "Ihnen fehlt die Vision." Der Blick fürs Ganze, für den geradezu religiösen Charakter der Vollvernetzung der Menschheit.

Das englische Wort "ubiquitous", so philosophiert der Ex-Beamte, trage die religiöse Bedeutung von "Gott ist omnipräsent" in sich. "Auch der Buddhismus beschrieb das Konzept der vernetzten Gesellschaft bereits vor 2000 Jahren in der Avatamsaka Sutra", behauptet Takahara gar und rezitiert aus dem großen Buch der asiatischen Religion: "Die Buddhas erkennen mit ihrer Weisheit, dass der ganze Kosmos der Seienden ohne Ausnahme so wie das große Netz im Indra-Palast ist, sodass alle Seienden wie die Edelsteine an jedem Knoten des Indra-Netzes untereinander unendlich und unerschöpflich ihre Bilder und die Bilder der Bilder in sich spiegeln."

Um den seiner Meinung nach vorhandenen Mangel an Einsicht in derlei große Weltzusammenhänge zu beheben und den Planeten von den Vorzügen neuer, noch schnellerer Netze "Made in Japan" zu bekehren, will das "Rite" weltweit Symposien zur Verbreitung der segensreichen Wirkung der Datennetzwerke der nächsten Generation ("Next Generation Networks", NGNs) durchführen. Die erste Veranstaltung fand Ende Januar in Japan statt, denn die Rolle des Vorpredigers fällt in Takaharas Gedankengebäude ganz natürlich seinem Heimatland zu. Schließlich sind in keinem anderen Land (außer vielleicht Südkorea) die Netzwerke so weit ausgebaut wie in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt.

Nur weiß davon die Welt bisher noch nicht so recht, beklagt Kanichiro Aritomi, Takaharas Nachfolger als Vize-Minister im Ministerium für Telekommunikation. "Wir haben eine Infrastruktur, die unter den führenden der Welt ist", sagt er. Einen Datendurchsatz von 1,5 Megabit pro Sekunde würde in Japan anders als im Rest der Welt nicht "Breitband" genannt werden. "Aber Japan ist zu schwach, die Informationen weltweit zu verbreiten." Der Weltmarktanteil an IT-Anlagen wie Handys, Servern und Computer-Lösungen sei immer noch klein. Das soll nun mit der so genannten "u-Japan"-Strategie geändert werden – "Ubiquitous Japan" heißt die Parole. Bis 2011 hofft das Ministerium Japans NGN-Beteiligte auf eine ähnlich hohe Wettbewerbsfähigkeit wie den lokalen Automobilbau zu bringen, in dem Toyota weltweit führend ist.

"Wir sollten ein Krisengefühl teilen", mahnt Japans Top-IT-Bürokrat. Mit diesen Worten will er seine Industrie anstacheln, sich nicht auf den heimischen Lorbeeren auszuruhen und global zu denken. Denn der Ist-Zustand in dem fernöstlichen Inselreich kann leicht zur Arroganz verleiten: Ende 2006 gab es fast 15 Millionen DSL-Leitungen mit Datendurchsätzen von bis zu mehreren Dutzend Megabit pro Sekunde. Die Zahl der Glasfaser-Kunden mit bis zu 100 Megabit pro Sekunde steigt exponentiell auf über sieben Millionen. Dazu kommen noch über 60 Millionen Verträge für mobile Hochgeschwindigkeitsnetze, die nur zum Teil auf dem UMTS-Standard beruhen. Bis 2010 geht die Industrie davon aus, dass alle vernetzungswilligen Haushalte breitbandig vernetzt sind.

Und während die Welt noch Aufholjagd spielt, bereitet Japan bereits den Quantensprung vor. Der größte Mobilnetzbetreiber der Welt, NTT Docomo, will ab 2009 mit der Installation eines NGN-Mobilnetzes beginnen, das Daten in der Endausbaustufe mit 100 Megabit pro Sekunde durch den Äther jagen kann. Glasfaserleitungen werden in der neuen Dekade sogar das Zehnfache an Daten transportieren können.

Dennoch macht Telekommunikationspolitiker Aritomi Probleme aus: "Ein Drittel der Nutzer fühlt Unbehagen angesichts der neuen Möglichkeiten. Wir müssen ihre Sorgen ansprechen", sagt er. Eine der wichtigsten Herausforderungen für die Akzeptanz aller neuen Angebote werde das Thema Datensicherheit im Zeitalter vereinheitlichter Multi-Dienste-Plattformen, meint etwa Tadashi Morita von Sonys IC-Card-Abteilung. Die vertreibt unter anderem den Felica-Chip, der inzwischen in Handys und elektronischen Fahrkarten digitalem Geld in Japan zum Durchbruch verholfen hat. "Auf der Kundenseite wird das Problem der Wahrung der Privatsphäre sehr bald sehr ernst genommen werden", meint er. Nicht nur Hacker könnten die Bewegungen und Transaktionen der Menschen verfolgen und genaue Profile anlegen.

Diese Möglichkeiten dürfe man den Menschen nicht verschweigen, fordert Morita. "Ich persönlich glaube nicht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist, aber sie besteht." Sehr wichtig sei daher, dass Unternehmen und Staaten das Einverständnis ihrer Bürger für die Schritte hätte. "Die Nutzer müssen sich der Gefahren bewusst sein", sagt Morita.

Darüber hinaus müssen die gesetzlichen, infrastrukturellen Bedingungen genauso wie echte Standards geschaffen werden, um weltweit alle Geräte wirklich miteinander verbinden und gemeinsam betreiben zu können. "Dazu müssen die Interfaces aller Ebenen der NGNs komplett offen sein, denn Interoperabilität ist in der Zukunft noch wichtiger als heute", sagt Aritomi. Dabei harrt am Fundament der vollvernetzten Welt zunächst noch die Server-Sicherheit ihrer Lösung. Denn viele Dienste werden nur ein Gerät oder eine Chipkarte für Transaktionen nutzen – oder nur einen Master-Nutzernamen samt Passwort. Denn welcher Kunde will sich schon Dutzende verschiedener Nutzernamen und Kennwörter für all die elektronischen Dienste seines vollvernetzten Lebens merken?

Die japanischen Unternehmen arbeiten bereits daran, die Plattformen zu vereinheitlichen. Aber ob sie ihre Vorarbeiten auch wie von der Regierung erhofft global in Weltmarktführerschaft ummünzen können, bezweifeln selbst örtliche Manager. "Ich denke nicht, dass die Japaner wie allgemein angenommen Frühanwender sind", unkt der japanische Statthalter des US-Konzerns Cisco Systems, Fumihiko Shinoura. "Die Verbraucher sind es bei Endgeräten, aber im Geschäft und in der Infrastruktur sind Japaner eher konservativ." Auf dem Weltmarkt der Telekommunikationsindustrie oder auch bei Software und Inhalten spielen sie daher kaum eine Rolle.

Ob den japanischen Unternehmen der Wandel von Endgeräte-Herstellern zu Anbietern von Lösungen, Software und Inhalten gelingt, ist tatsächlich noch offen. Allerdings gibt es bereits einige Start-ups, die sich als globale Unternehmen positionieren. So verspricht beispielsweise Bellrock Media in Japan und den USA Inhalte und Dienste anzubieten, "die in der Welt der mobilen und breitbandigen Unterhaltung den Maßstab setzen", wie die Firma meint. Und der Software-Entwickler Yappa versucht, mit dreidimensionalen Benutzeroberflächen den Umgang mit Daten und Informationen bei Handys zu revolutionieren.

Beiden Unternehmen ist eines gemeinsam: Sie haben sich Expertise in Übersee eingekauft. Bellrock erwarb im Februar 2007 den US-Softwareentwickler Moderati, Yappa schon vor mehreren Jahren eine israelische Softwareschmiede. Diese grenzüberschreitenden Bünde sind für Cisco-Mann Shinoura die Zukunft auch für Japans Großkonzerne. Japanische Gerätetechnik und Ciscos Netzwerk-Expertise würden in der NGN-Ära ein formidables Paar abgeben. Ob die japanischen Allianzpartner da anbeißen? (bsc)