Missing Link: 50 Jahre Radikalenerlass

Eine lange, schlechte Tradition startete am 28. Januar 1972. Die Ministerpräsidentenkonferenz verabschiedete den "Extremistenbeschluss" – mit Folgen.

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Wandzeitung der CDU gegen das Abrücken der SPD-Länder vom Radikalenerlass

(Bild: Von CDU - Diese Datei wurde Wikimedia Commons freundlicherweise von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Kooperationsprojektes zur Verfügung gestellt. CC BY-SA 3.0 de)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Am 28. Januar 1972 verabschiedete die Ministerpräsidentenkonferenz unter Vorsitz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt den "Extremistenbeschluss". Er hielt fest, dass keine Menschen in den Staatsdienst aufgenommen werden dürfen, die nicht jederzeit rückhaltlos für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten. Zur Überprüfung der Einstellung eines Beamtenanwärters sollte der Dienstherr eine Regelanfrage an den Verfassungsschutz stellen. Dieser "Radikalenerlass" sollte verhindern, dass linke Lehrerinnen und Lehrer in die Schulen kommen. Betroffen waren aber auch Hochschulangehörige und studentische Hilfskräfte, Bahnbeamte, Briefträger, Bibliothekare und Verwaltungsangestellte.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Was Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Bundesländer unterschrieben, war zuvor von der Innenministerkonferenz und den Verfassungsschutzämtern ausgearbeitet worden. Letztere waren mit der Beobachtung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) beschäftigt, deren Gründung 1968 von der Großen Koalition noch toleriert wurde. Ab den 70er Jahren kamen diverse K-Gruppen hinzu, etwa der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW). Großen Einfluss auf den Radikalenerlass hatte auch der Bund Freiheit der Wissenschaft, der unermüdlich vor der linken Bedrohung warnte und an die "Treuepflicht" der Beamten erinnerte.

Diese deutsche Besonderheit hatte eine lange, schlechte Tradition. So lehnte sich der Radikalenerlass an das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 an, das alle Beamte aus dem Staatsdienst entfernte, "die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten." Geht man noch weiter zurück, so landet man in Preußen, wo 1819 Friedrich Wilhelm III. in einer Kabinettsorder die Überprüfung der Staatstreue aller Lehrer anordnete: "Durch die nachdrücklichsten Maßregeln muss verhindert werden, dass ein Lehrer der höheren Schulanstalten durch die Tendenz seines Unterrichts die Jugend zu dünkelhafter Anmaßung veranlasse, als stehe ihr schon ein eigenes Urteil über die Zeitereignisse und die öffentlichen Angelegenheiten zu und als sei sie besonders berufen, in die Gestaltung des öffentlichen Lebens tätig einzugreifen oder gar eine erträumte bessere Ordnung der Dinge herbeizuführen." Nach dieser Order wurden fortschrittliche Lehrer wie der 'Turnvater' Jahn im Rahmen der Demagogenverfolgung verhaftet und aus dem Staatsdienst entlassen.

Der in dieser Tradition stehende Radikalenerlass von 1972 wurde von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragen. Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz wurde in SPD-geführten wie in CDU- beziehungsweise CSU-geführten Bundesländern praktiziert. Bei der Eröffnung von Verfahren gegen Beamte oder Beamtenanwärter und bei der Erteilung von Berufsverboten lagen die SPD-Länder deutlich vor den Ländern der CDU/CSU. Während die Praxis der Regelanfrage in SPD-Ländern bereits 1976 zurückgefahren und 1980 eingestellt wurde, lief sie in CDU-regierten Ländern bis 1988 weiter, in Bayern bis 1991.

Insgesamt wurde 3,5 Millionen solcher Anfragen an die Verfassungsschutzämter gestellt, die in 35.000 Fällen Material über die Bewerber lieferten. Diese sollen zu 12.000 eingeleiteten Berufsverbotsverfahren führten, eine Zahl, die einigen Historikern zu hoch erscheint. 2250 Bewerber waren daraufhin von einem Berufsverbot betroffen; 256 Menschen wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Nach einer soziologischen Untersuchung von 1004 Berufsverboten waren 78,8 Prozent Lehrer, 12,1 Prozent Hochschulangehörige und 5 Prozent Justizangestellte, der Rest waren Post- und Bahnbeamte. 41,4 Prozent dieser Gruppe gehörten der DKP und ihren Unterorganisationen an, 14,4 waren Mitglied bei einer der K-Gruppen. Bekanntester Fall dürfte heute das ehemalige KBW-Mitglied Winfried Kretschmann sein, der zeitweilig einem Berufsverbot unterlag, dann aber doch noch Lehrer werden konnte.

Unter den 2250 Fällen von Berufsverboten angehender Bewerber finden sich sieben SPD-Mitglieder. Sie hatten etwa bei Studentenratswahlen gemeinsam mit Mitgliedern des Marxistischen Studentenbundes Spartakus (MSB) auf einer Liste kandidiert. Prominentester Fall war dabei kein angehender Staatsdiener, sondern ein Jurist: 1977 schmiss die SPD den Juso-Bundesvorsitzenden Klaus-Uwe Benneter aus der Partei, weil er mit der DKP zusammengearbeitet und damit gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss der Partei verstoßen haben soll.

Weitere sieben Berufsverbote ergingen nicht gegen links, sondern gegen rechts: Sie wurden gegen Parteimitglieder der NPD ausgesprochen, von denen nach einer Aufstellung aus dem Jahre 1967 rund 1200 Parteimitglieder im Dienste des Staates standen. Großes Aufsehen verursachte der Fall des Gymnasiumdirektors Karl-Heinz Kausch, der im Unterricht über die "Auschwitzlüge" gesprochen sowie Bücher über die Waffen-SS positiv besprochen hatte. Er wurde aus dem Dienst entlassen, klagte aber erfolgreich vor einem Gericht. Als Oberstudienrat degradiert, konnte er mit einer einjährigen zehnprozentigen Kürzung seiner Bezüge wieder unterrichten, weil das Gericht keine Anzeichen dafür sah, dass Kausch die "Pflicht zur Verfassungstreue" missachtet hatte. Was ist schon das mehrmalige Lob der Waffen-SS gegen das "mehrmalige Parken seines Autos vor KBW-Büro", das der Verfassungsschutz zu einem Lehramtsanwärter meldete? Allein das Singen im Hanns Eisler Chor Berlin reichte aus, um aus dem öffentlichen Dienst entfernt zu werden. Schließlich trat dieser auf einer der vielen Konferenzen gegen die Berufsverbote auf.

Vor gut einem Jahr schrieb der Journalist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung über den Radikalenerlass (PDF-Datei), den er als das "folgenreichste Desaster in der Geschichte der alten Bundesrepublik" bezeichnete. Die "bundesweite Gesinnungsschnüffelei bei einer ganzen Generation" führte dazu, dass sich ebendiese Generation vom Staat abwandte. Dabei stand der Erlass nicht allein auf weiter Flur, sondern war nur eines von mehreren Vorhaben, die "linke Subversion" zu verhindern.

Nur ein Beispiel: In Niedersachsen wurde gleichzeitig mit dem Wehrkundeerlass des Kultusministers Peter von Oertzen (SPD) der Versuch gemacht, Unterricht über die Bundeswehr in die Schulen zu tragen. Als eifriger Verfechter des Radikalenerlasses suspendierte von Oertzen bereits am 20. Januar 1972 den Hochschullehrer Peter Brückner vom Dienst. Das musste er nach zwei Semestern zurücknehmen. Sein Nachfolger Werner Remmers (CDU) setzte 1977 ein erneutes Berufsverbot gegen Brückner durch, das 1981 von einem Gericht kassiert wurde.

Wir Oberstufenschüler demonstrierten mit den Studenten in Hannover für Brückner, aber auch für Lehrer wie Heiko Pannemann und Bernd Pagell, die ersten Opfer der Berufsverbote in Niedersachen. "Die Sache", die Zeitung der Niedersächsischen Landesschülervertretung, berichtete monatlich ab Februar 1972 über Lehrer und Lehramtsbewerber, die betroffen waren. Besonders engagierte sie sich für den Hochschullehrer Horst Holzer, der Rufe an die Universität Bremen und Oldenburg bekam, aber als DKP-Mitglied nicht zum Professor berufen wurde.

"Die Sache" – Zeitung der Niedersächsischen Landesschülervertretung

Der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt schrieb das Gedicht Belehrung nach Punkten, in dem er sich die Regelanfrage beim Verfassungsschutz als Lochkarte vorstellte, mit der der Datenspeicher eines Computers gefüttert wird: "Na, und hier in Ihrer Akte – das gibt’s jetzt in jeder Akte – die Bewertungskarte PPD; das ist die politische Personaldatei. Haben wir uns ausgedacht. Echter Fortschritt, Punktbewertung, Lochkartensystem und praktisch so wie die Verkehrssünderkartei. Das objektiviert die Sache ganz enorm. Und damit ist der Gleichheitsgrundsatz bestens garantiert und ist alles demokratisch, haha. Und so funktioniert die Sache: Jeder Minuspunkt ein Loch, und ist die Minuspunktzahl von 45 dann erreicht, dann: Juppdika und ratata: der Datenspeicher wirft die Karte aus, und wir wissen: Wieder mal ein Radikaler, bietet nicht Gewähr, voll einzutreten jederzeit für diese freiheitliche und so weiter, na Sie wissen schon!"

Die größte Beachtung fand der Radikalenerlass indes im europäischen Ausland. Gleich am Anfang der Verbotspraxis ereignete sich ein internationaler Vorfall, als wenige Tage nach Inkrafttreten des Extremistenbeschlusses dem belgischen Marxisten und Ökonomen Ernest Mandel am 28. Februar 1972 in Frankfurt/Main die Einreise verweigert wurde. Mandel, ein ehemaliger KZ-Insasse und Führer der Vierten Internationale, hatte einen Ruf als Professor an das Berliner Otto-Suhr-Institut erhalten, dem sich der dortige Wissenschafts- und Kultursenator Werner Stein (SPD) unter Berufung auf den Radikalenerlass widersetzte. Erst 1978 wurde das Einreiseverbot für den Belgier durch Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) aufgehoben.

Besonders in Italien und Frankreich, wo die kommunistischen Parteien in den 70er Jahren eine wichtige Rolle spielten, sorgte der Radikalenerlass für Empörung. Das Wort "Berufsverbot" wanderte in die französische Sprache. Der spätere französische Präsident François Mitterrand schrieb eine Serie von Artikeln, die die deutschen Berufsverbote scharf kritisierten. Er solidarisierte sich mit der aus dem Schuldienst entfernten Lehrerin Silvia Gingold, der Tochter des Résistance-Mitglieds Peter Gingold.

Das führte wiederum dazu, dass das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung für zwei Millionen Deutsche Mark eine Anzeigenserie startete, um Bundesdeutsche auf Ferienreisen in diesen Ländern auf politische Diskussionen vorzubereiten. Wenn sie gefragt werden, warum es in Deutschland keine kommunistischen Briefträger oder Lokomotivführer oder eben auch Lehrer geben darf, sollten sie antworten: "Es gibt bei uns kein Berufsverbot. Auch dann nicht, wenn jemand extreme Meinungen vertritt. Aber unsere Beamtengesetze sehen vor, dass Gegner des demokratischen Staates nicht im Staatsdienst beschäftigt werden dürfen. Grundsätzlich gilt: Niemand wird aus dem Staatsdienst wegen seiner politischen Überzeugung entlassen. Sondern nur aufgrund aktiver Handlungen gegen die Demokratie."

Begründungen für Berufsverbote und politisch motivierte Entlassungen – Eine Auswahl an dokumentierten Fällen

"Inzwischen sollten wir uns allerdings fragen, ob einige in unserem Land die Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst nicht übertreiben. Überzogene Reaktionen der Verwaltung verdienen mit Recht Kritik. Denn: das gewachsene Vertrauen in die Stabilität unserer Demokratie erfordert mehr Toleranz und Gelassenheit. Das ist auch wichtig, wenn Europa – wie durch die Direktwahl des Europäischen Parlaments im nächsten Jahr – weiter zusammenwachsen soll."

George Orwell hätte an dieser Form der Sprach-Narkotisierung seine Freude gehabt. Die hatte zumindest der Karikaturist, der dazu eine Sandburg namens "Burg Burgfrieden" zeichnete, auf der ein geifernder Deutscher seine Sippe beim Burgbau antreibt, während Franzosen und Italiener mit Brot und Wein am Strand auf schlichten Decken zusehen, was die Deutschen da treiben. Überschrieben ist das Ganze mit "Die Deutschen ordnen alles. Mit Sicherheit." Die skurrile Ferienaufklärung erschien 1978 fünf Wochen lang vor den Sommerferien in Illustrierten wie dem Spiegel und dem Stern.

Die Deutschen ordnen alles. Mit Sicherheit.

(Bild: Dokument aus: Stern 34/1978)

Zu dieser Zeit hatte Willy Brandt längst eingesehen, dass der Radikalenerlass ein kapitaler Fehler war. 1976 nannte er das Vorgehen einen "Irrtum", während sein engster Zuarbeiter Horst Ehmke von einem "politischen Missurteil" sprach. Im Wahljahr 1976 machte hingegen die CDU mit dem Slogan Wahlkampf: "Wir werden nicht zulassen, daß Kommunisten unsere Kinder zu Kommunisten erziehen."

Später zogen weitere Sozialdemokraten nach und nannten den Erlass einen politischen Exorzismus oder gaben den "Kerlen in der Verwaltung" die Schuld, die Regelanfrage beim Verfassungsschutz exzessiv zu nutzen. Als einziges prominentes SPD-Mitglied verteidigte der "linke" SPD-Politiker Peter Glotz den Radikalenerlass. Er habe "durchaus das erreicht, was er erreichen sollte: der Zustrom zu kommunistischen Parteien wurde sichtbar verringert." Das Aufkommen der Alternativbewegung und der Grünen zog Glotz nicht ins Kalkül.

Der Erlass war nicht nur Bundes-, sondern Ländersache, und die Länder legten ihn sehr unterschiedlich aus. Die meisten Berufsverbote gab es im SPD-geführten Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg unter Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU), einem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Richter. Die wenigsten im Saarland, das 1985 als erstes Bundesland die Regelanfrage abschaffte. Die auf Bundesländer aufgeschlüsselten Zahlen stammen vom III. Russell-Tribunal, das sich 1978 und 1979 unter Vorsitz des Herzegowiners Vladimir Dedijer mit dem Radikalenerlass beschäftigte. Dedijer selbst fiel unter das System der "politischen Erwünschtheit" im sozialistischen Jugoslawien und hatte in Belgrad ein Lehrverbot.

Das Tribunal stellte in seinem Schlussgutachten fest, dass durch die Praxis der Berufsverbote die UN-Deklaration der Menschenrechte und die deutsche Verfassung verletzt wurden: "Sie wurden verletzt nicht nur durch die Berufsverbote – und das sind Tausende von Fällen –, sondern bereits das gesamte Verfahren stellt eine Menschenrechtsverletzung dar. Zehntausende sind davon betroffen." Zu einem ähnlichen Urteil kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 1995. Er verhandelte den Fall der Jevener Lehrerin Dorothea Vogt, die als DKP-Mitglied aus dem Staatsdienst entfernt wurde. Das Gericht stellte fest, dass das Land Niedersachsen "unverhältnismäßig" gehandelt habe. Das Urteil führte dazu, dass Vogt eine Wiedergutmachungszahlung erhielt, auch wenn Juristen bezweifelten, dass es sich um einen Sieg der Menschenrechte handelte, wie viele Zeitungen schrieben.

Bereits das III. Russell-Tribunal forderte neben der Aufhebung des Radikalenerlasses eine Entschuldigung der Bundesregierung für die Menschenrechtsverletzung. Zum 50. Jahrestag des Extremistenbeschlusses gibt es eine Reihe empfehlenswerter Dokumentationen, etwa die der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Auch die ARD berichtete in einer Dokumentation über die Jagd auf die Verfassungsfeinde. In der Dokumentation kommt der bereits erwähnte Journalist Prantl zu Wort, der seit einem Jahr eine Entschuldigung der Politik fordert und dabei auf die neue Bundesregierung setzt: "Es bricht dem Staat keine Zacken aus der Krone, wenn er erklärt, dass die millionenfachen, generalmisstrauischen Überprüfungen der Siebziger- und Achtzigerjahre falsch waren. Es bricht dem Staat auch kein Zacken aus der Krone, wenn er in geeigneten Fällen Schadensersatz leistet."

(bme)