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Missing Link: Gegen Null – Lars Gustafsson persönlich

Detlef Borchers

(Bild: solarseven / Shutterstock.com)

Wir kommen aus dem Nichts und gehen ins Nichts. Lars Gustafsson hat über dessen Symbol nachgedacht, und auch über den Cyberspace.

Die Tatsache, dass wir Menschen existieren, beruht auf einem geradezu kosmisch unwahrscheinlichen Zufall. Dennoch leben wir hier auf dem Planeten Erde, umgeben von 500 Lichtjahren freien Raums ohne intelligentes Leben. Aus dieser Situation hat der schwedische Schriftsteller und Lyriker Lars Gustafsson am Ende eines schaffensreichen Lebens eine Art Metaphysik der Null entwickelt.

Die Null in der Zeit, das ist der punktförmige Augenblick, in dem wir gerade existieren, mit der Vergangenheit hinter uns und der Zukunft vor uns, wie die Null auf der Grenze zwischen den negativen und positiven Zahlen. Die Null als Zufall steht für das höchst unwahrscheinliche Ereignis, dass es intelligentes Leben gibt.

Die Null ist nichts und doch so wichtig [1], heißt es in einem "Zahlen, bitte!". Es endet mit dem hübschen Satz: "Die 0 ist also weit mehr als nichts..." Für Lars Gustafsson ist die Null hingegen das absolute Nichts, über das es keine Informationen gibt. In seinen kleinen Büchern "Gegen Null", 2011 erschienen, und "Der optische Telegraf", 2018 posthum erschienen, beschäftigte er sich mit der Null und der Entzifferbarkeit von Informationen. Sie bilden gewissermaßen den Abschluss eines umfangreichen literarischen Werkes.

Lars Gustafsson studierte Literatur, Philosophie, Soziologie und Mathematik. Diese Mischung machte es möglich, dass Arbeiten entstanden wie das 1966 veröffentlichte Gedicht "Die Brücken von Königsberg". In ihm befasste er sich mit dem Eulerschen Problem [2], ob man alle sieben Brücken der Stadt Königsberg genau einmal passieren könne, um über den Fluss Pregel zu kommen.

23 Jahre lang war Gustafsson Professor für Germanistik und Philosophie an der Universität in Austin im US-Bundesstaat Texas. Hier schrieb er zahlreiche Romane und Gedichte, beschäftigte sich aber auch mit Technologien und ihrem Einfluss auf den Menschen. Als Beispiel sei sein 1994 geschriebener Aufsatz über den Cyberspace genannt, der 1996 unter dem Titel Der dritte Raum [3] übersetzt wurde.

In ihm vergleicht Gustafsson den Cyberspace mit einem Traum: "Der Traum bot uns ein Vergleichsobjekt zur gewöhnlichen Welt. Jetzt haben wir noch eines: den Cyberspace, wie er im Zusammenwirken zwischen Computern in grossen Netzwerken, zum Beispiel im World Wide Web, entsteht. Er ist als Raum verbunden, aber weder in der Weise des Traums noch des physischen Raums. Und er ist geordnet, doch auch nicht in der Weise des Traums oder des physischen Raums. Seine Ordnung ist grösser als die des Traums. Er ist weniger launenhaft als der Traumraum, aber launenhafter als der physische Raum insofern, als wir auf viel mehr Wegen von einem Ort zum anderen kommen können als im physischen Raum. Das illustriert Gustafsson mit der Suche in einem Bibliothekskatalog, der auf einem Server in Uppsala gespeichert ist.

Cyberspace-Illustration NZZ

Geld ist Information: Lars Gustafsson erkannte 1996 die Machtlosigkeit der Staaten über Kapitalflüsse im Internet.

Seine höchste Ausprägung gewinnt der dritte Raum des Cyberspace mit dem internationalen Finanzsystem, in dem Staaten machtlos werden. "Im dritten Raum spielen sie schlicht keine besonders grosse Rolle mehr. Die Zinsen liessen sich vielleicht beeinflussen, falls sich jemand an die Don Quijotische Aufgabe machen würde, die Zentralbanken abzuschaffen. Doch der neue Souverän hat schon vor recht langer Zeit eine viel effektivere Methode gefunden: Finanzielle Instrumente wie die verschiedenen Typen des Handels mit Derivaten machen es möglich, sie statt dessen ganz zu umgehen. Tatsächlich hat es Derivatenhandel gegeben, solange es ein Bankwesen gibt. Der Unterschied zu früher ist, dass er jetzt im Cyberspace stattfindet. Und also ortlos ist. Wie eine Flutwelle geht die Welle der Information um den Erdball. Sie ist nirgends, und sie ist überall. Das Geld zeigt sein wirkliches Gesicht: Es ist nichts anderes als eine Form von Information. Und daraus, aus Information, besteht der dritte Raum." In diesem Sinne von Gustafsson inspiriert ist der Dritte Raum [4] der Name eines Techno-Projektes. "Auf in den Cyberspace!": Gustafssons Analyse wurde mit einem Wanderer illustriert, der mit einer Kiepe ein Oszilloskop den Berg hinauf schleppt.

Zeit ist das, was Uhren messen, erklärt Gustafsson in seinem Buch "Gegen Null". Dabei ist jede Messung unpräzise und das muss im Rahmen der Standardabweichung [5] berücksichtigt werden, wenn die Zeit mit einem "harmonischen Oszillator" gemessen wird. Im 19. Jahrhundert bestimmte der Psychologe Wilhelm Wundt die Dauer des normalen Jetzt mit 0,04 Sekunden. Doch eigentlich kann das Jetzt nicht gemessen werden.

Gustafsson dazu: "Allen Uhren gemeinsam ist die Tatsache, dass wir nie von Gleichzeitigkeit sprechen können, wenn sie nicht miteinander vergleichbar sind. Was Messung erfordert. Was Kommunikation erfordert. So erhalten wir dann Einsteins Raumzeit – ein eigentümliches Gebilde –, über deren äußere Grenzen wir nicht viel wissen und deren totale Krümmung ebenfalls unklar ist."

Auch im Buch über den "optischen Telegrafen" beschäftigt sich Gustafsson mit der Zeit und dem Problem der Gleichzeitigkeit, die nur eine Gleichzeitigkeit ist, die nur für einen bestimmten Beobachter existiert. So beschäftigt er sich mit dem preußischen Zeitsignal, das auf der Strecke von Konstanz nach Berlin und zurück zwei Minuten braucht und schreibt: "Jede Synchronisierung benötigt Zeit, und die Minuten der preußischen Synchronisierung unterscheiden sich prinzipiell nicht von den 60.000 Jahren, die es braucht, um eine irdische Uhr mit einer 30.000 Lichtjahre entfernten Uhr auf einem geeigneten Tisch eines geeigneten Planeten zu synchronisieren."

Zeichensatz optischer Telegraf

Lichtschnell und doch so langsam: Der optische Telegraf beschleunigte im 19. Jahrhundert die Kommunikation. Nachrichten brauchten nurmehr Minuten vom einen Ende des preußischen Reichs zum anderen.

Vom Problem der gegen Null tendierenden Wahrscheinlichkeit unserer Existenz im Universum und der Zeitbestimmung im Raum gehen wir noch einmal in den Cyberspace, in den dritten Raum einer neuen Geographie der Macht, wie er von Gustafsson beschrieben wurde. Denn in diesem Mitte der 1990er-Jahre geschriebenen Text verweist er auf die blutigen Ereignisse in Tschetschenien und Palästina: "Im Licht dieser Entwicklung wirken die verschiedenen blutigen und manchmal heroischen Versuche, neue territoriale Souveränitäten zu errichten, die an so vielen Stellen auf der Welt im Gange sind – Palästina, Tschetschenien, Quebec –, als ebenso tragische wie theatralische Bemühungen, etwas aufzubauen, das eigentlich hoffnungslos veraltet ist."

Jeder Versuch, diesen neuen Raum mit Gesetzen oder Zwangsmaßnahmen zu beherrschen, wird von ihm als sinnlos angesehen. Unter diesem Gesichtspunkt wird es verständlich, dass Lars Gustafsson im Jahre 2009 empfahl, die schwedische Piratenpartei [6] zu wählen.

Der 1981 zum jüdischen Glauben konvertierte Gustafsson starb am 3. April 2016. Noch für den Tod wählte er eine mathematische Ausdrucksweise: "Ich bin eingeschlossen in mein Leben wie in die Kleinsche Flasche [7] und darüber hinaus gibt es nichts. Buchstäblich *nichts*."

(ea [8])


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[1] https://www.heise.de/hintergrund/Zahlen-bitte-0-Nichts-und-doch-so-wichtig-3940651.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nigsberger_Br%C3%BCckenproblem
[3] https://www.nzz.ch/folio/der-dritte-raum-ld.1616436
[4] https://www.laut.de/Der-Dritte-Raum
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Varianz
[6] http://copyriot.se/2009/05/27/lars-gustafsson-why-my-vote-goes-to-the-pirate-party-english-translation-of-todays-text/
[7] https://www.experimentis.de/physikalisches_spielzeug/mathematisches-spielzeug/kleinsche-flasche-klein-flasche-kaufen/
[8] mailto:ea@ct.de