Missing Link: Wackre neue Welt, herrliche Geschöpfe – Huxleys "Schöne neue Welt"

Vor 90 Jahren erschien die Dystopie "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley auf Deutsch. Der "Roman der Zukunft" stand rasch auf Listen verbotener Bücher.

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(Bild: PHOTOCREO Michal Bednarek/Shutterstock.com)

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Huxleys "Brave New World" erschien im Februar 1932 in England und im Mai in Deutschland unter dem Titel "Welt – wohin?". Der Titel geht auf ein Shakespeare-Zitat zurück, das in verschiedenen deutschen Übersetzungen existiert. Der "Roman der Zukunft" gehört bis heute zu den Top-Titeln auf der Liste der verbotenen Bücher. 1938 kam er auf die Liste des "schädlichen und unerwünschten Schrifttums" der Nationalsozialisten. Erst mit der Neuübersetzung im Jahre 1953 wurde der Roman in Deutschland bekannter und prompt mit "1984" von George Orwell verglichen. Dabei hatten beide Zukunftserzählungen nur eines gemeinsam: Sie sagten beide voraus, dass in der Zukunft das metrische System gelten wird.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die von Huxley beschriebene "Schöne neue Welt" hat das Jahr 2540 nach unserer Zeitrechnung erreicht, umgerechnet das Jahr 632 nach Ford. Henry Ford ist der Gott dieser Welt, in der der ungezügelte Konsum Pflicht ist. Die Menschen werden künstlich in großen Produktionsanlagen aufgezüchtet, die wiederum von Menschen bedient werden. Durch pawlowsche Konditionierung, Stromstöße und Schlafhypnose werden sie konditioniert, ihr Leben in einer bestimmten Kaste zu verbringen. Jedwedes Extrem ist verboten. Wer sich unwohl fühlt, nimmt die Droge Soma. Dafür kann die Sexualität innerhalb der eigenen Kaste schrankenlos ausgelebt werden: jede(r) gehört jedem.

Der Titel "Welt – wohin?" geht auf ein Shakespeare-Zitat zurück, das in verschiedenen deutschen Übersetzungen existiert.

(Bild: Woodland987, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

In dieser heilen Welt macht ein Alpha-Männchen namens Bernard Marx mit einer Frau namens Lenina Crowne Urlaub in einem Reservat in der amerikanischen Wüste. Dort leben die Pueblo-Indianer so, wie sie immer gelebt haben. Kinder werden von Müttern geboren und wachsen in einer Familie auf. Bei ihrem Besuch stoßen Bernard und Lenina auf zwei Außenseiter, eine Mutter mit ihrem nun schon erwachsenen Sohn, die offenbar von der zivilisierten Welt im Reservat vergessen wurden. Dennoch spricht der Sohn Englisch, das er sich mit Hilfe der gesammelten Werke Shakespeares beigebracht hat.

Bernard erreicht, dass Mutter und Sohn die Todeszäune des Reservates überfliegen und in die Zivilisation zurückkehren können. Dort erzeugt der "Wilde", Mr. Savage genannt, beträchtliches Aufsehen. Er wird zum Medienstar, während seine Mutter im Soma-Vollrausch dem Tod entgegendämmert. Mit den Idealen von Shakespeare im Kopf kann er nicht die lockeren sexuellen Beziehungen eingehen, die die Gesellschaft fordert. Er flieht in eine Einöde und geißelt sich, wie er es im Reservat von den Indianern gelernt hat. Von den zivilisierten Menschen mit ihren Flyvern eingeholt, kommt es zu einer "Versöhnungsorgie", bei der der Wilde sich auspeitscht und tags darauf erhängt.

Aldous Huxley schrieb seinen Roman im Frühjahr 1931 in seinem Haus im französischen Sanary-sur-Mer. Ursprünglich hatte Huxley die Idee, eine Parodie auf die Science Fiction von H.G. Wells zu schreiben, besonders auf dessen 1923 erschienenen Roman "Menschen, Göttern gleich". Doch unter dem Eindruck wissenschaftlicher Veröffentlichungen veränderte sich das Thema. Besonders beschäftigte er sich mit der In-vitro-Fertilisation des US-amerikanischen Arztes Gregory Pincus, dem späteren Erfinder der Anti-Babypille.

Weitere Themen wurden durch die Schrift Daedalus, or, Science and the Future des britischen Genetikers und Marxisten J. B. S. Haldane angestoßen. Die hemmungslose Sexkultur und die Konsumvergötterung der schönen neuen Welt war eine Überspitzung "amerikanischer" Verhältnisse, über die Huxley entsetzt war – obwohl er selbst eine "freie Ehe" führte.

Huxley hatte zudem auf einer Schiffsreise die Autobiographie "Mein Leben und Werk" von Henry Ford gelesen. Im Herbst 1931 überarbeitete er seinen Roman, um so viele Fordismen wie möglich im Buch zu haben. Zentral ist dabei das Interview, das Henry Ford im Jahr 1916 der Chicago Tribune gegeben hatte: "I don't know whether Napoleon did or did not try to get across there and I don't care. It means nothing to me. History is more or less bunk. It's tradition. We don't want tradition. We want to live in the present and the only history that is worth a tinker's dam is the history we make today." (Ich weiß nicht, ob Napoleon versucht hat, hinüberzukommen oder nicht, und es ist mir auch egal. Es bedeutet nichts für mich. Geschichte ist mehr oder weniger Quatsch. Das ist Tradition. Wir wollen keine Tradition. Wir wollen in der Gegenwart leben, und die einzige Geschichte, die einen Pfifferling wert ist, ist die Geschichte, die wir heute machen.)

Die permissive, genetisch optimierte geklonte Menschheit in der neuen Welt kennt im Jahre 632 nach Ford keine Geschichte. Sie kennt keine Angst und sie lebt dank der Droge Soma in schönstem Gleichmut. Abwechslung gibt es im Fühlorama, einer Weiterentwicklung des Kinos, beim Sex und beim Sport. Man spielt Golf oder Riemannflächentennis.

Aldous Huxley, 1925.

(Bild: Henri Manuel, Public domain, via Wikimedia Commons)

In seinem Roman variierte Aldous Huxley die Szene des Großinquisitors aus Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow". Bernard Marx, sein Freund Helmholtz Watson und der Wilde werden in die Bibliothek des Weltcontrollers Mustapha Mond geführt, der ihnen einen Vortrag über die friedliche, stabile neue Welt hält: "Die Menschen sind glücklich, sie haben alles, was sie wollen, und nie wollen sie, was sie nicht haben können. Es geht ihnen gut, sie leben in Sicherheit, sie sind niemals krank, sie fürchten den Tod nicht, sie wissen nichts von Leidenschaft, nichts vom Altern, sie werden nicht von Müttern und Vätern geplagt, sie haben keine Ehefrauen, keine Kinder, keine Lieben, denen ihre Gefühle gelten, sie sind so konditioniert, dass sie praktisch nichts anderes können, als sich zu verhalten, wie sie es sollen. Und wenn irgendetwas schiefgeht, gibt es Soma."

Es gibt Huxley-Interpretationen, die auf eine weitere Vorlage verweisen, nämlich Jewgeni Samjatins Dystopie "Wir" aus dem Jahre 1920. Das wurde sowohl von Huxley wie von Samjatin bestritten. Viel auffälliger sind die Parallelen zu einem anderen, heute vergessenen deutschen Roman "Das Automatenzeitalter" von Ri Tokko alias Ludwig Dexheimer. Auch in diesem 1930 veröffentlichten Roman leben die Menschen friedlich in einer Riesenstadt, auch hier werden neue Menschen in vitro herangezüchtet und leben ein Dasein ohne Armut, Krankheit und schlechte Laune.

Das liegt daran, dass Dexheimer sich genau wie Huxley von Haldanes Daedalus inspirieren ließ. In Bezug auf die menschliche Geschichte schlägt Dexheimer im "Automatenzeitalter" jedoch einen ganz anderen Weg ein: Es gibt in ferner Zukunft ein Zentralmuseum mit den Schätzen aller Kulturen, mit allen Büchern, Filmen und Fotos, die jemals veröffentlicht wurden. Die Menschheit sollte sich an die schaurige Vorgeschichte erinnern und den Frieden hochhalten.

Der britisch-amerikanische Autor und Essayist Christopher Hitchens hat sich mehrfach mit Aldous Huxley beschäftigt. Von ihm stammt etwa das Vorwort zur aktuellen Ausgabe der Brave New World. In seinem Text "Goodbye to all that" beschäftigte sich Hitchens 1998 mit der Frage, warum das Fach Geschichte für Amerikaner so gut wie keine Rolle spielt, ganz in der Tradition eines Henry Fords. Dabei verglich Hitchens die Dystopien von Orwell (über den er ein Buch geschrieben hatte) und Huxley: "Orwell's was a house of horrors. He seemed to strain credulity because he posited a regime that would go to any lengths to own and possess history, to rewrite and construct it, and to inculcate it by means of coercion. Whereas Huxley ... rightly foresaw that any such regime could break because it could not bend. In 1988, four years after 1984, the Soviet Union scrapped its official history curriculum and announced that a newly authorized version was somewhere in the works. This was the precise moment when the regime conceded its own extinction. For true blissed-out and vacant servitude, though, you need an otherwise sophisticated society where no serious history is taught." (Orwells Dystopie war ein Haus des Schreckens. Er schien die Glaubwürdigkeit zu strapazieren, weil er ein Regime postulierte, das alles tun würde, um die Geschichte zu besitzen, sie umzuschreiben und zu konstruieren und sie mit Hilfe von Zwang einzupflanzen. Wohingegen Huxley ... zu Recht voraussah, dass ein solches Regime zerbrechen würde, weil es sich nicht anpassen kann. 1988, vier Jahre nach 1984, strich die Sowjetunion ihren offiziellen Geschichtslehrplan und kündigte an, dass eine neue autorisierte Version in Arbeit sei. Das war genau der Moment, in dem das Regime seine eigene Abschaffung einräumte. Für eine wirklich glückselige und freie Knechtschaft braucht man allerdings eine ansonsten hoch entwickelte Gesellschaft, in der keine ernsthafte Geschichte gelehrt wird.)

Im Jahre 1946 wurde Aldous Huxley gefragt, ob er nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges eine Neufassung seines Romans angehen möchte. Das lehnte Huxley ab, schrieb aber ein neues Vorwort, das ein Zitat des Philosophen Nicolai Berdjajew ersetzte, der 1919 über die russische Utopie spekuliert hatte. Huxley schrieb: "Faktisch bleiben uns ... nur zwei Möglichkeiten: entweder eine Reihe nationalistischer, militarisierter totalitärer Regime, deren Fundament der Terror der Atombombe und Folge wäre (oder, bei begrenzten Konflikten, die Perpetuierung des Militarismus), oder ein totalitäres, aus dem rasanten technischen Fortschritt im Allgemeinen und der Atomrevolution im Besonderen erwachsenes supranationales Gebilde, das um der erforderlichen Effizienz und Stabilität willen die Gestalt der Wohlfahrts-Tyrannei von Utopia annähme. Wie man sich bettet, so liegt man."

(bme)