Missing Link: Zweite Elektrifizierung – die Geburt einer neuen Auto-Industrie?

Vor über hundert Jahren wurden schon einmal Autos in Berlin gebaut – von einem Elektrokonzern. Gibt es Parallelen zu Tesla in Grünheide?

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(Bild: Herr Loeffler/Shutterstock.com)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

In Teil 1 ging es um einen Digitalkonzern, der zum führenden E-Auto-Hersteller geworden ist (Missing Link: Tesla, die Antriebswende und das Legacy-Problem der Autoindustrie, 17.10.2021).

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

In Teil 2 ging es darum, wie Teslas um Batterien, Chips und Software herum gebaute mobile devices der etablierten Industrie Kopfzerbrechen bereiten (Missing Link: Tesla in Grünheide – erleben wir eine disruptive Elektrifizierung?, 24.10.2021).

Ein Beitrag von Timo Daum

(Bild: 

Timo Daum/Fabian Grimm

)

Timo Daum, geboren 1967, Timo Daum ist Physiker, kennt sich mit dem Digitalen Kapitalismus aus, ist Gastwissenschaftler beim Institut für digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung in Berlin. Zuletzt ist im Frühjahr 2019 sein Buch "Die Künstliche Intelligenz des Kapitals" bei der Edition Nautilus erschienen.

Im dritten Teil geht es um die rund um Teslas Werk in Grünheide entstehende neue Industrie. Parallelen zu ersten Elektrifizierung Anfang des letzten Jahrhunderts drängen sich auf, als schon einmal in Berlin Autos produziert wurden. An vorderster Front damals mit dabei: Die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG).

Vier Jahre nach Gründung der AEG im Jahre 1887 fällt der Startschuss für die Elektrifizierung von Industrie und Alltagsleben. Dem aufstrebenden Elektro-Start-up gelang es erstmals auf der Strecke zwischen Frankfurt und Lauffen, den verlustarmen Stromtransport erfolgreich zu demonstrieren – der Durchbruch für die Drehstromtechnologie.

Strom konnte von nun an dort produziert werden, wo es am günstigsten war, zum Beispiel in großen Kraftwerken, da er nun fast verlustlos über große Strecken transportiert werden konnte. Als Folge davon entstand etwa in Oberschöneweide zwischen Berlin und Köpenick ab 1897 ein ganz neuer Industriestandort – buchstäblich auf der grünen Wiese.

Wenige Jahre später steigt die AEG auch in die Automobilproduktion ein und gründet die Neue Automobil-Gesellschaft (NAG). 1902 erfolgte die Übernahme des Karosserieherstellers Kühlstein, der mitsamt Personal und vielen für die Automobilproduktion wichtigen Patenten eingekauft wird. Kühlstein wartete bereits 1897 mit der ersten in Deutschland produzierten Elektrodroschke auf. 1911 gab es in Berlin bereits 2000 Taxis, in London sogar 7000.

Laut dem Autohistoriker Halwart Schrader spielte diese Entwicklung für den Aufstieg der NAG eine entscheidende Rolle. Neben Taxis und Lastwagen wurden vor allem Luxuslimousinen gebaut, auch solche mit Elektroantrieb. 1908 kam mit dem Puck ein kleineres Modell hinzu. "Ihr Renommee holte sich die Marke NAG aber – wie Mercedes, Maybach und Horch – im Bereich der Luxus- und Prestigewagen", so der Automobil-Historiker Robert Gloor. NAG war nach dem Ersten Weltkrieg der wahrscheinlich erfolgreichste Hersteller von Sport- und Rennwagen.

1904 wurde die Anlage der NAG in Oberschöneweide fertig, produziert wurde in einem 70 Meter langen Gebäude auf fünf Geschossen. Die Montage begann im obersten Stockwerk, die halbfertigen Wagen wurden mit Lastenaufzügen auf die nächstniedrigere Ebene befördert, bis sie schließlich ebenerdig aus dem Gebäude gefahren werden konnten.

Die NAG produzierte am Standort Oberschöneweide mit 600 Mitarbeitern circa zehn Fahrzeuge täglich. Die Fahrzeuge wurden, wie damals üblich, in "zweckmäßiger Massenherstellung" gebaut, sprich von Facharbeitern in Handarbeit montiert. Das damals größte Werk in Berlin war die Protos, mit einem Output von etwa 800 Automobilen pro Woche. Lange sollte der Automobilboom auf der schönen Weide jedoch nicht andauern.

Denn in Amerika ging derweil Ford mit einem neuen Produktionssystem an den Start und drängte mit seinem Modell T auf den Weltmarkt. 1913 installierte Clarence Avery bei Ford in Detroit die erste bewegliche Produktionsstraße und verkürzt die Montagezeit des Modell T dadurch von 12 Stunden auf 93 Minuten. Der Siegeszug des Ford Model T beginnt, 1915 ist dann jedes zweite Automobil auf der Welt ein Model T, Ford erreicht eine für die damalige Zeit sagenhafte Jahresproduktion von 181.789 Stück.

Doch Ford optimierte weiter, 1925 rollte alle 30 Sekunden ein Modell T vom Band, gleichzeitig wurde das Auto immer billiger, der Preis ging stetig nach unten, von 850 Dollar im Jahr 1908 – was schon ein Kampfpreis war – auf 298 Dollar im Jahr 1923. 1929 dann sorgen amerikanische Unternehmen für sage und schreibe 85 Prozent der weltweiten Automobilproduktion.

Deutsche Autohersteller benötigten ein Vielfaches der Zeit, die Ford für sein schnörkelloses Massenmodell benötigte. Nicht nur bauten sie ihre Fahrzeuge nach altem Muster mit vielen Facharbeitern, ihre breite Modellpalette erschwerte Rationalisierungen zusätzlich – Daimler bot 1923 ganze 57 unterschiedliche Modelle an. Ford konzentrierte sich auf ein einziges, für das es zudem nur eine Farbvariante gab: Schwarz.

Bereits 1912 hatten deutsche, aber auch britische und französische Hersteller Schutz vor amerikanischen Importen gefordert. Bald erreichten amerikanischer Autos ein Drittel Marktanteil in Deutschland, bei LKW und großen Hubräumen sogar die Hälfte. Die NAG stellte 1934 die Autoproduktion vollständig ein.

Erst in der Nachkriegszeit sollte es Volkswagen gelingen, die Massenproduktion auf großer Skala einzusetzen, als in der Autostadt Wolfsburg mit Fords Produktionsmethoden Einzug hielten. Mit dem noch in der Vorkriegszeit von Ferdinand Porsche designeten VW Käfer gelang dann die deutsche Antwort auf die amerikanische Konkurrenz, der Volkswagen wurde zum erfolgreichsten Auto der Geschichte. Jahre später konnte VW dann mit dem Golf seinen eigenen Rekord einstellen und erneut Maßstäbe setzen, was die Stückzahlen angeht.

Gut 120 Jahre nach der Gründung der Neuen Automobilgesellschaft wird Berlin/Brandenburg erneut zum Automobilstandort – auch diesmal unter Elektrizitäts-Vorzeichen. Tesla baut als einziger großer Hersteller in Europa ausschließlich Elektroautos. Und wieder bekommen die deutschen Premiumhersteller Schwierigkeiten mit der amerikanischen Konkurrenz – ganz wie vor einhundert Jahren. Eine halbe Million Fahrzeuge oder fast 10.000 pro Woche sind das angepeilte Produktionsziel, das, so das Handelsblatt, mit nur 12.000 Beschäftigten (davon je 5000 in Endmontage und Qualitätsprüfung und 2000 in der Batteriezellfertigung) und 918 Robotern erreicht werden soll.

Noch bevor die Produktion richtig hochgelaufen ist und während die angepeilte halbe Million Fahrzeuge pro Jahr noch in weiter Ferne sind, machen die Fahrzeuge des amerikanischen Herstellers Tesla das elektrische Rennen – auch auf dem deutschen Automarkt. Im ersten Quartal 2022 führen Tesla Model Y und Tesla Model 3 die Zulassungsstatistik an, gefolgt von Fiat 500 und Hyundai Kona. Tesla verkaufte 14.408 Fahrzeuge, fast dreimal so viele wie VW.

Die vermeintlichen Tesla-Killer ID.4 und ID.3 aus dem Hause Volkswagen tauchen erst an siebter beziehungsweise neunter Stelle auf. Dabei sollte doch der ID.3 nach Käfer und Golf bei VW eine Ära prägen und das Volksauto des Elektrozeitalters werden (daher der Name ID.3, das dritte iconic product in der Geschichte des Hauses).

Tesla tritt gleich in mehrfacher Hinsicht in die Fußstapfen Fords, in seinen Fabriken produziert es im Wesentlichen nur ein Modell (in Berlin das Model Y), und das auch mit wenigen Farb- und Ausstattungsvarianten, ganz wie Ford beim Model T, dem Massenvehikel der Verbrenner-Zeit. Auch heute ist demgegenüber bei der etablierten Konkurrenz die Modell-, Farb- und Ausstattungsvielfalt verwirrend groß. Und sie verzetteln sich auch weiterhin, das gerade vorgestellte neue Flaggschiff aus München, der BMW 7er ist in drei Motorvarianten zu haben (Verbrenner, Hybrid und batterieelektrisch). Und Tesla ist viel produktiver als die deutsche Konkurrenz. Tesla braucht nur zehn Stunden, um ein Auto zu bauen, die Konkurrenz von VW laut Herbert Diess dreimal so lang für den ID.3.

Derzeit sind sie bei der Herstellung von E-Autos nicht konkurrenzfähig, Tesla verdient als einziges Unternehmen mit den Fahrzeugen überhaupt Geld. Kein Wunder, sind sie doch überwiegend immer noch mit Verbrennern beschäftigt, rund 95 Prozent aller derzeit vom Band laufenden Fahrzeuge, also praktisch alle, bekommen einen fossilen Motor verpasst. Die deutschen "Premiumhersteller", allen voran Daimler, Horch (Audi) und die Bayerischen Motorenwerke haben sich zu lange auf ihre beherrschende Rolle im Luxussegment der Verbrenner verlassen.

Auch die Fabriken aus der Verbrenner-Ära stellen keinen Vorteil der etablierten Hersteller dar, im Gegenteil, sie werden zur Altlast. VW hat die größte Fabrik der Welt in Wolfsburg stehen, und trotzdem machen sie es Tesla nach und beabsichtigen, ebenfalls eine neue Fabrik auf der grünen Wiese zu errichten, voraussichtliche Fertigstellung: 2026.

Eine Industrie mit neuen Standorten, neuen Produktionsverfahren und neuen Playern ist am Entstehen: am Standort Grünheide in Brandenburg bei Berlin, aber nicht nur dort – viele weitere vorwiegend im Osten Deutschlands werden zur Basis dieser neuen Industrie rund um Batterien, Elektroautos und Computerbauteilen. Hier geben sich die Zulieferer die Klinke in die Hand: Bosch, Continental, Zahnradfabrik Friedrichshafen, der Roboterhersteller Kuka – alle wittern sie Geschäfte mit Tesla. ZF-Chef Wolf-Henning: "Tesla ist ein guter Kunde."

Rund um Tesla siedeln sich Zulieferer an, insbesondere für Batterietechnologie. Schon bevor die Tesla-Pläne für die Gigafactory bei Berlin bekannt wurden, hatte sich der heute weltgrößte Batterie-Hersteller CATL für eine Fabrik in Ostdeutschland entschieden, in diesem Fall in Thüringen. Und Intel platziert seine neue Chip-Fabrik in Magdeburg, etwa in der Mitte zwischen Wolfsburg und Grünheide. Selbst ein Hersteller aus Vietnam sucht derzeit in Deutschland nach einem Produktionsstandort. VinFast, der vietnamesische Autohersteller, arbeitet mit der deutschen Handelsagentur zusammen, um einen Standort für den Bau von Elektroautos und -bussen zu finden.

Eine neue Industrie entsteht, die – das wird immer deutlicher – herzlich wenig mit der alten fossilen Autoindustrie zu tun hat, die Synergien und Überschneidungen sind weit geringer, als in der Branche lange Zeit angenommen wurde. Ein schnelles Einholen von Tesla durch die etablierten Hersteller ist ausgeblieben und gerät auch für die Zukunft in weiter Ferne. Tesla will in einem Jahrzehnt 20 Millionen Fahrzeuge pro Jahr verkaufen – weit mehr als doppelt so viel wie derzeit die gesamte Volkswagen-Gruppe.

Die Folge: Die deutschen "Premiumhersteller" Daimler und BMW ziehen sich aus dem Volumengeschäft zurück, konzentrieren sich auf Nischenmärkte und Luxuskundschaft – ganz so wie Daimler zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Und bei Volkswagen? Im Juli 2021 hieß es noch: "Volkswagen wird bis 2025 Marktführer bei Elektrofahrzeugen sein." Daran glaubt heute bei VW keiner mehr, neuerdings heißt die Parole "Marge und Qualität" – eine Chiffre für „klein aber fein“.

(bme)