zurück zum Artikel

Missing Link: FAZ auf Facebook ist wie Müsli bei McDonald's

Andreas Wilkens

Gesehen im April 2011 in Barcelona.

(Bild: heise online / anw)

Kein Freibier, kein Atomkrieg, Trump weg. Es blieben ein paar Fragen offen zu Sozialen und "klassischen" Medien. Aus Antworten ergeben sich neue Fragen.

Das Weiße Hause ist enttrumpt, der Exorzismus hat begonnen und wird noch länger dauern, aber wenigstens hat der Irre mit den gelben Haaren seinen Atomkoffer unbenutzt abgegeben. Die Überschrift des Missing Link vor zwei Wochen [1] hat sich also endgültig als Unfug erwiesen. Und nun klingt schon wieder hier eine Überschrift nach Clickbait, so wie vor zwei Wochen, als es hieß: "Freibier für alle – Trump löst mit Linux Weltkrieg aus". Wat schall dat? – wie Menschen mit nördlichem Zungenschlag fragen würden.

Die Überschrift sollte nicht nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen und mir die Gelegenheit geben, zum ersten Mal während meiner Tätigkeit für heise online "Freibier" in eine Überschrift zu schreiben; sie war auch als Test gedacht, ob sich Google und die Leser überhaupt locken lassen; zu den Ergebnissen komme ich später. Die heutige Überschrift birgt im Gegensatz zu jener vor zwei Wochen aber nicht nur Unfug, sondern eine These. Zu der komme ich auch später.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Zunächst soll mir wie voriges Mal ein exemplarischer Leserbeitrag [3] im Forum dazu dienen, weitere Fragen zu beleuchten, die vor zwei Wochen aufgeworfen wurden:

"Ich habe letztens gelesen, dass, wie immer bei der ARD, die neuen Volontäre in einer geheimen Wahl eine Art Bundestagswahl simulieren sollten. Sie sollten für die Partei stimmen, die sie eben jetzt bei einer BTW wählen würden. 92% stimmten in Summe für Die Linken, Die Grünen und die SPD. 92%. Selbst ich habe es nicht glauben wollen, aber es war so krass."

Der Leser spielt offenbar auf ein "Datenprojekt" von Volontär:innen an, das voriges Jahr in der Verbandszeitschrift des DJV Journalist veröffentlicht wurde [4]. Dafür wurden im April 2020 alle Volontär:innen der ARD und des Deutschlandradios kontaktiert. Von 150 Angeschriebenen nahmen 86 teil. Aus einer der Fragen des Datenprojekts ergab sich, dass 57,1 Prozent Bündnis 90/Die Grünen wählen würden, 23,4 Prozent Die Linke, 11,7 Prozent SPD. In der Tat ergibt sich daraus ein Anteil von 92,2 Prozent für eine politische Ausrichtung, die grob dem linken Spektrum zugeordnet wird, während sich aus Umfragen in der Gesamtbevölkerung unter Menschen im Alter von 18 bis 39 Jahren ein solcher Anteil von mehr oder weniger 50 Prozent ergibt. Allerdings hatten in dem "Datenprojekt" 77 der Voläntär:innen geantwortet, weshalb keineswegs behauptet werden kann, dass so gut wie "alle" Nachwuchsredakteur:innen "links" seien – abgesehen davon, dass es nicht wenige Menschen gibt, die die Grünen heute weiter rechts verorten würden als vor 20 Jahren.

Aufgabe eines Lesers in einem Forum ist es natürlich nicht, die Zahlen genauer zu beleuchten, das obliegt in der Berichterstattung den Journalisten, die sich nach dem Pressekodex [5] des Presserats richten. Laut dem sollten sie bei Umfragen "die Zahl der Befragten, den Zeitpunkt der Befragung, den Auftraggeber sowie die Fragestellung" mitteilen. "Zugleich muss mitgeteilt werden, ob die Ergebnisse repräsentativ sind." Umfragen sind nämlich kein Beweis, sondern höchstens ein Indiz für Meinungen und andere Tendenzen in einer Grundgesamtheit, und zwar wenn sie bestimmte Anforderungen an statistische Verfahren erfüllen. Beispielsweise an Landtags- und Bundestagswahlen zeigen sich regelmäßig die Abweichungen der Umfragen und Prognosen vom eigentlichen Ergebnis, und die können wie zum Beispiel zur Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten erheblich sein.

Die Umstände des "Datenprojekts" hat vor diesem Hintergrund das Medien-Magazin Übermedien beleuchtet [6] und auch, welches Echo es in der Öffentlichkeit erzeugte; bis hin zur AfD [7], die sich zu der Behauptung versteigt, der von ihnen so benannte "Staatsfunk" sei extrem linkslastig, und dabei verkennt, dass der Staat zurzeit wahrlich nicht linkslastig regiert wird – wenn wir von dem oben genannten und auch von der AfD benutzten politischen Spektrum ausgehen.

Können wir von einer politischen Partei erwarten, dass sie dieselbe Sorgfalt anlegt, zu der Journalisten durch den Pressekodex verpflichtet sind? Eine Partei vertritt Überzeugungen und will Menschen von ihrer Sache überzeugen. So wie bei Umfragen ist es auch hier Aufgabe der Journalisten, diese Überzeugungen nach ihrer Konsistenz und ihrem Wahrheitsgehalt abzuklopfen. Dafür eignen sich öffentliche Äußerungen sowie Partei- und Wahlprogramme. Die AfD meint, der öffentlich-rechtliche Rundfunk werde "in einer Weise von der Politik dominiert, die einer Demokratie unwürdig ist". Statt einer Vollversorgung mit einer "Zwangsgebühr" fordert die Partei eine Art Pay-TV.

Die Behauptung, der öffentlich-rechtliche Rundfunk werde von der Politik wenn nicht dominiert, dann wenigstens beeinflusst, ist nicht von der Hand zu weisen. Das wurde spätestens offenbar, als der damalige Programmdirektor des Bayerischen Rundfunks Helmut Oeller am 22. Mai 1986 dafür sorgte, dass die Sendung "Scheibenwischer" des Kabarettisten Dieter Hildebrandt in seinem Sendegebiet nicht ausgestrahlt wurde [8]. Es ist aber über die meisten Parteien hinweg politischer Konsens, die beitragsfinanzierte Grundversorgung zu erhalten. Dabei wird beständig diskutiert, wie sich die demokratische Kontrolle mit dem Anspruch der Staatsferne reformieren lässt, zum Beispiel in der Konrad-Adenauer-Stiftung [9].

Politik im Gesamten ist ein ständiger Prozess der Konsensfindung. Selbst innerhalb politischer Parteien gibt es oft Dissenz, Parteien sind keine homogene Masse. Für die Öffentlichkeit abgebildet wird diese Konsensfindung auf Parteitagen und in den Plenardebatten von demokratisch gewählten Parlamenten. Weit entfernt von jedem Verständnis dafür diffamierten die Nationalsozialisten den Reichstag als "Quatschbude". Darum sollten alle Alarmglocken angehen, wenn eine politische Partei oder Bewegung versucht, den Bundestag verächtlich zu machen.

Fraglich ist – um auf die oben genannte Umfrage zurückzukommen –, ob der journalistische Nachwuchs über die gesamte Berufslaufbahn hinweg seine politischen Überzeugungen beibehält. Woraus auch immer er es schließt, der hier zitierte Leser behauptet, ich sei "links". Mehr auf Bakunins als auf Barzels Seite war ich gewiss zu der Zeit meiner Reifeprüfung nach Jahren heftigen Generationskonflikts mit meinen konservativen Eltern. Utopien sind ein Privileg der Jugend, Realismus ist das der Erwachsenen. Nicht alles, was junge Menschen denken, ist zu verwerfender Unsinn. Lebendig gehaltene Flausen können die Erfahrung verbrämen und im Laufe der Jahre zu einer ständigen inneren Konsensfindung beitragen: "Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche." (F.W. Bernstein). Und selbst wenn "linke" Journalisten ihrer alten Überzeugungen treu bleiben, ist es nicht gewiss, dass sie diese frei in ihre Arbeit einfließen lassen können, denn Medienunternehmer bestimmen eine gewisse Ausrichtung und öffentlich-rechtliche Anstalten sind bestrebt, Meinungsvielfalt zu schaffen.

"In Deutschland wie auch in den USA wird die klassische Medienlandschaft von linken Angestellten in den Redaktionsstübchen extremst dominiert. Die veröffentlichte Meinung ist tendenziell einseitig und repräsentiert ca. (grob geschätzt) 50% der Bevölkerung, wobei natürlich nicht jeder tendenziell linke Bürger genau so (manchmal radikal linke) Meinungen vertritt wie manche Medien."

So wie sich die AfD durch das "Datenprojekt" der Volontär:innen in ihrem Vorurteil bestätigt sieht, der "Staatsfunk" sei "links", so setzte der ehemalige US-amerikanische Präsident Donald Trump den Kollegen von CNN und anderen Medien schon vor seiner Amtszeit und erst recht in seinen Pressekonferenzen im Weißen Haus die Eselsmütze auf und stellte sie mit dem Ruf "Fake News" in die Ecke. Korrespondenten berichten, dass sie auf Großveranstaltungen mit Trump von tausenden Menschen angeschaut und ausgebuht wurden, wenn sie auf der Bühne begrüßt wurden, und dass ihnen mulmig wurde, weil nicht wenige der Anwesenden bewaffnet waren. Gute Journalist:innen fragen sich trotz oder gerade in solchen Situationen immer noch, wie sie ihren Anspruch auf ausgewogene Berichterstattung erfüllen können.

Einige US-amerikanische Medien hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Trumps Äußerungen Faktenchecks zu unterziehen und wiesen ihm tausende Lügen nach. Diese Faktenchecks und meine eigenen Anschauungen zum Thema Trump haben mich zu dem Urteil gebracht, mit dem 45. Präsidenten hatten die USA jemanden an ihre Spitze gesetzt, der zumindest der Demokratie des eigenen Landes sehr geschadet hat. Er hat sich tatsächlich als der "erste Internet-Troll" als US-Präsident erwiesen, als den ich ihn vor gut vier Jahren tituliert hatte [10]. Schon allein wenn ich dies vorbringe, werden mich einige Leser als "links" ansehen, zumindest als einseitig. Schließlich habe Trump auch Positives bewirkt, beispielsweise dafür gesorgt, dass Israel gegenüber der arabischen Welt nun nicht mehr so isoliert wie zuvor dasteht, und er habe im Gegensatz zu seinen direkten Vorgängern keinen Krieg angefangen. Dem steht aber eine Überzahl gefährlich polarisierender und radikalisierender Äußerungen und Taten des Ex-Präsidenten gegenüber.

"Schon vor der Aufdeckung von Relotius' Fantasiegeschichten aus linker Sicht, haben haufenweise Leser dies dem Spiegel angezeigt. Der hat aber immer auf sein tolles Faktenchecker-Team verwiesen (20 Leute). Man wollte einfach nicht die tollen erfundenen Stories gefährden, die doch so toll zeigten, wie dumm z.B. die Trottel-Trumper sind. Ideologie geht halt oft vor Wahrheit bei den klassischen Medien heutzutage."

Der Spiegel hat in dem Abschlussbericht [11] seiner Aufklärungskommission zu den Vorgängen um den Reportage-Fälscher Claas Relotius eingeräumt, dass Journalistenpreise und der Verweis darauf von Ressortleitern Druck auf die Mitarbeiter insbesondere des Gesellschaftsressorts ausgeübt haben. Im Zusammenhang mit einem E-Mail-Wechsel zwischen Relotius, seinem Ko-Reporter Juan Moreno und dem damaligen Ressortleiter Matthias Geyer geht hervor, dass für die Reportage "Jaegers Grenze" explizit ein US-Amerikaner gesucht wurde, der Trump-Wähler war. Moreno, der maßgeblich dafür gesorgt hatte, dass die Fälschungen aufgedeckt wurden, schätzt in seinem Buch "Tausend Zeilen Lüge" viele Relotius-Reportagen als nicht nur sprachlich gefällig ein, sie würden auch inhaltlich kaum anecken, da sie den Vorerwartungen der Leser:innen entsprächen.

Die Relotius-Affäre ließ das "Sturmgeschütz der Demokratie" (Rudolf Augstein) sozusagen nach hinten losgehen, ausgerechnet zu einer Zeit, als die "Lügenpresse"-Rufe auf deutschen Plätzen lauter wurden. Der Spiegel tat das einzig Richtige, er ließ seine Strukturen durchleuchten. Dabei blieben Aspekte offen: In dem Abschlussbericht der Aufklärungskommission taucht das Wort "Eitelkeit" nur einmal auf, nämlich aus dem Munde Morenos, der sich selbst dessen bezichtigte, während Relotius von den Spiegel-Verantwortlichen als bescheiden und zurückhaltend charakterisiert wurde. Dabei müsste doch auch zur Diskussion stehen, ob nicht die Kultur der Journalistenpreise und das Genre der Reportage selbst auf dem Prüfstand stehen sollten, um der Eitelkeit der Journalisten den Nährboden zu entziehen. Doch selbst Moreno hält an dem Genre fest.

Der Spiegel hat versucht, sich in seiner Selbstuntersuchung gründlich an den eigenen Ansprüchen und Zielen zu messen: "Sagen, was ist", lautete das Diktum seines Gründers, also der Wahrheit verpflichtet sein. Wenn Objektivität unerreichbar ist, sollte größtmögliche Intersubjektivität angestrebt werden. So wird ideologielastige Kritik vermieden, stattdessen werden auch nach außen hin alle Akteure an ihren eigenen Ansprüchen gemessen.

"Die sozialen Medien waren hier ein Ventil für viele Konservative, auch einmal ihre Sicht der Dinge darzustellen und in Teilen auch zu zeigen, dass die linken Medien nicht selten einen Teil der Story einfach mal weglassen oder sogar glatt 'Fakten' erfanden."

Spiegel-Titel vom 12. November 2016.

(Bild: Der Spiegel)

Die "andere Sicht der Dinge", also eine "andere als links" findet nicht nur in sozialen Medien ihre Bahn. Zum Beispiel griff die Welt den Spiegel kurz nach Trumps Wahl zum US-Präsidenten im November 2016 – also noch vor der Relotius-Affäre – direkt und grundsätzlich an [12]. Das Nachrichtenmagazin hatte Trump auf seinem Cover als Meteor mit Feuerschweif dargestellt, der bedrohlich auf die Erde zusteuert. Diesen "Knalleffekt" sah die Welt nicht als Bruch des Spiegel mit einem aufklärerischen Anspruch, sondern als konsequente Fortsetzung jahrzehntelang gepflegter einseitiger Berichterstattung. Die Welt ging dabei so weit zu schreiben: "Mit seiner Fokussierung auf die Fehler im System trägt das 'Sturmgeschütz der Demokratie' beim Publikum kräftig dazu bei, Politik zu delegitimieren."

"Natürlich wurden die Konservativen ziemlich stark in den sozialen Medien und das behagte den klassischen Medien überhaupt nicht. Und dauernd korrigiert zu werden auch nicht. Früher hatte man die totale Deutungshoheit. Sowas gibt man ungerne auf. Deswegen hat es immer einen speziellen Geschmack, wenn Angestellte von klassischen Medien indirekt Zensur befürworten. Natürlich nur dann, wenn es eine politisch andere Meinung ist."

In diesem Licht ließen sich Erkenntnisse von Kommunikationsforschern [13] sehen, dass beispielsweise AfD-nahe Beiträge in sozialen Medien im Vergleich zum Zuspruch der Wähler in sozialen Medien mengenmäßig überrepräsentiert sind. Wir könnten hier eine scharfe Trennlinie ziehen zwischen den "alten Medien" mit den "linksgrünen" Journalisten und den "sozialen Medien" mit den "Konservativen" – wenn es nicht auch "rechte herkömmliche Medien" gäbe und sich "Rotrotgrün" nicht auch in sozialen Netzen präsentierten und wenn obendrein nicht der Verdacht bestünde, die "Konservativen" bedienten sich Bots, um ihre Reichweite zu erhöhen.

Der indirekte Vorwurf, indirekt Zensur zu fordern, trifft mich nicht: Wie ich vor zwei Wochen ausführte, betreiben die sozialen Medien selbst bereits eine Art Zensur, indem sie ihren Nutzern nicht das gesamte potenzielle Angebot präsentieren. Auch obliegt es den Betreibern von Facebook, Twitter & Co., einzelne Nutzer komplett auszusperren, wie jetzt mit Trump geschehen. Und nur dann, wenn die gesamten "klassischen Medien" als "links" rubriziert würden, blieben den "Konservativen" in der Tat als Hauptkanal für ihre Meinungsbekundungen im Wesentlichen die sozialen Medien.

"Ich weiß nicht, ob der Autor dieses Kommentars einige der letzten Überschriften seines Blattes gelesen hat zum Thema Trump, Republikaner und die Monopolisten aus Silicon Valley: Von Ausgewogenheit war da 0% zu spüren. Leider verliert der Autor über diesen Aspekt seiner rosarot gezeichneten klassischen Medienwelt kein Wort. Schade. Chance vertan."

Wenn ich einen Kommentar zum Sturm aufs Capitol mit der Meinung verbinde, soziale Medien sollten geschlossen werden, und am Sonntag darauf einen meinungsgefärbten Missing Link als Fortsetzung dazu veröffentlichen lasse, darf ich mich da wundern, wenn mir hier nun direkt unterstellt wird, 0% ausgewogen zu sein? Aber bevor ich mich auf diesen Vorwurf einlasse, müsste zunächst einmal geklärt werden, was außer dem, was in "meinem Blatt" zu Trump, den Republikanern und den Monopolisten im Silicon Valley geschrieben stand, sonst noch berichtenswert gewesen wäre.

Meine Arbeit als Journalist besteht nur zu einem Teil aus recherchieren und schreiben, der größere Teil besteht aus nachdenken über die Themen als solche und über die Zusammenhänge zu anderen Themen, und reflektieren der eigenen Tätigkeit, wie ich vor zwei Wochen erläuterte. Der Sinn der Übung ist es auch, mir der Heuristiken bewusst zu werden, die im schnellen Nachrichtengeschäft beim Schreiben von Meldungen überhandgewinnen können, die weniger, aber auch in den ebenso schnell verfassten Kommentaren zum Tragen kommen können. Eine weitere Stufe der Reflexion stellt die hier dargebrachte Form dar, die nicht nur mich, sondern auch die Leser zum vertieften Nachdenken anregen soll. Sie kann im Vergleich zu einer länger angelegten wissenschaftlichen Untersuchung meist nur Fragen aufwerfen, entsteht aber in einem Prozess "langsamen Denkens", wie es der Psychologe Daniel Kahneman nennen würde, und soll auch die Leser zu solchem anregen.

Wir Journalisten sind ebenso aus diversen Quellen Propaganda ausgesetzt und müssen in uns schauen, ob wir ihr erliegen. Mit unseren Texten und Reflexionen werden wir nicht die erreichen, die auch bei glasklarer Faktenlage ihre Aluhüte nicht abnehmen wollen. Aber sie können diejenigen Menschen erreichen, die zuhören wollen und die Propagandisten glauben würden, wenn es keine Gegenrede gäbe und niemanden, der ihnen bewusst zu machen versucht, dass die Dinge komplexer sind als sie scheinen. Auch daran ist ersichtlich, wie wichtig Meinungsfreiheit ist.

Ein Leser wies mich darauf hin, dass der Umfang meines Artikels kontradiktisch zu meiner Absicht stehe, die Menschen aufzuklären. Für ihn liebe die persönliche "Verständnisgrenze" bei 180 Wörtern. Mit der relativ langen nötigen Lesezeit würde ich von vornherein diejenigen abhängen, die ich erreichen wolle. Ja, ich könnte einen sehr kurzen Artikel verfassen, der lediglich die Sätze enthält: "Denkt nach! Reflektiert Euch!" Dazu müsste manchen Lesern aber vielleicht auch erst einmal gezeigt werden, wie das gehen könnte. Auch ließe sich mit längeren Gedankenflüssen ein Gegenmodell zu den schnellen, kurzen Informationsfragmente in den sozialen Medien setzen, die gerade nicht zum langsamen Denken anregen.

Der Philosoph Michael Hannon von der Universität Nottingham weist auf einen weiteren Aspekt hin, den er durch seine Nachforschungen ermittelt hat: nämlich, dass die politisch sachkundigsten Menschen meist auch die parteiischsten seien. Das erläutert er in einem aktuellen Übersichtsartikel [14] unter einem Zitat von Benjamin Franklin, einen der Gründerväter der USA: "Ein gebildeter Dummkopf ist ein größerer Dummkopf als ein ignoranter." An dieser Stelle würden Kurzatmige, die schnell zu anderem abbiegen, behaupten, ausgiebige Information führe nicht zu einer ausgewogenen Meinung, eher im Gegenteil. Wer Hannons Ausführungen aber weiter folgt, dem wird zunächst einmal die Spannung vorgeführt, die zwischen dem Ideal des "informierten Bürgers" in einer Demokratie und der Korrumpiertheit durch Sachkunde besteht.

Als einen Lösungsweg bietet Hannon an, sich weniger auf das Wissen des Wahlvolks zu konzentrieren als mehr auf die intellektuelle Tugend der Objektivität. Das entspricht dem mir selbst gestellten Anspruch, doch Hannon meint, es bestehe hier die Möglichkeit, dass so auch die politische Apathie gefördert werden könne. Nun, die Flächenwirksamkeit eines Hohlkopfs wie Trump objektiv zu beobachten, könnte mich verzweifeln lassen und in Apathie stürzen. Stattdessen schaue ich besser nach narzisstischen Tendenzen in mir, um Menschen wie Trump und ihre Wirkung besser verstehen zu lernen.

Wenn aus meinen Ausführungen am vorvorigen Sonntag der Eindruck entstanden sein sollte, ich hätte die klassische Medienwelt rosarot gezeichnet, kann das auf dem Missverständnis gründen, ich sähe den gegenwärtigen Zustand der Medien und der Gesellschaft als ideal an. Dem ist nicht so, aber bei allen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die in unserem Land immer noch existieren, hat das nach dem Zweiten Weltkrieg installierte politische System mitsamt den Medien in der Bundesrepublik immerhin dazu geführt, dass Deutschland nicht weiterhin die Welt anzündet und Menschen verbrennt und es den Einwohnern vergleichsweise gut geht.

Es ist weiterhin fraglich, ob unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem dafür geeignet ist, Ungerechtigkeiten zu beseitigen oder auch dem Klimawandel Einhalt zu gebieten. Auf dem Gebiet der Medien haben sich anhand des Spiegel mit seiner Relotius- und der nach dem Nachrichtenmagazin benannten Affäre [15] im Jahr 1962 zwei Extreme möglichen Missstands aufgezeigt, aber ebenso, dass es Mechanismen für eine Aufarbeitung und Korrektur gibt. Vor vierzig Jahren hatte ich in meinem Aufbegehren nicht geglaubt, dass ich jemals so etwas denken, geschweige denn in der Öffentlichkeit schreiben würde. Stabil geblieben ist über die Jahrzehnte meine Skepsis gegenüber der Atomkraft, die mich bis zur Wende der Bundesregierung in der Atompolitik 2011 wohl noch als "Linker" gestempelt hätte.

Die aktuelle Chefin der deutschen Regierung, Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte zu Trump Rauswurf aus den sozialen Medien, der Schritt sei vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit problematisch. Unsere Kolumnistin Julia Reda sieht wiederum Merkels Äußerung als problematisch an [16] und lobt vor diesem Hintergrund den Entwurf der EU-Kommission für einen Digital Services Act. Plattformen sollen demnach zwar weiterhin ihre eigenen Moderationsregeln definieren dürfen, sie müssen aber transparent sein und die Plattformen bei deren Durchsetzung die Meinungsfreiheit beachten.

In die Richtung zielte meine Kritik an den sozialen Medien, sie ging aber noch weiter: Die Nutzer:innen können nicht die Regeln durchschauen, nach denen ihnen die Informationen dort überhaupt präsentiert werden. Ähnlich wie Fast-Food-Unternehmen arbeiten Facebook und Co. mit Methoden, die ihre Nutzer:innen an sie binden, die ihnen Glücks- und Gefühle der Vergemeinschaftung bescheren sollen; sie manipulieren ihre Kunden und Nutzer und wer sich mit ihren Mechanismen auskennt, nutzt sie für seine eigenen Manipulationen.

Schnell denken, schnell essen. Trump ist Fast-Food-Esser und lud die Football-Manschaft des Clemson College vor zwei Jahren zu einer Runde Hamburger, Pizzen und anderer Halbwertnahrung ein.

(Bild: dpa / Susan Walsh)

Als eine seiner Accountinhaberinnen kann Facebook beispielsweise die seriöse Frankfurter Allgemeine Zeitung vorweisen. In Großbritannien kooperiert das Social Network mit Verlagen und bezahlt sie für Nachrichteninhalte; Deutschland soll bald folgen. Die Nutzer sollen dann auch hier – natürlich – personalisierte Vorschläge bekommen. Ein Deckmäntelchen: Bei McDonald's gibt es zwar noch kein Müsli, Salat und nun auch Veganes hat der Konzern aber schon für sich entdeckt. Dabei sollen die Kunden nicht auf den "typischen McDonald's-Geschmack" verzichten, wie es in einer Selbstdarstellung des Unternehmens heißt. So wie Facebook-Nutzer anscheinend auch weiterhin nicht alle Inhalte zu sehen bekommen sollen. Die Bilder werden ja schon von Content-Moderatoren in Billiglohnländern unter schlimmen Bedingungen sortiert [17].

Facebook ist mit seinem Anspruch gescheitert, sozialer Kitt und Instrument der Vergemeinschaftung zu sein. Ähnlich wie sich McDonald's mit seiner halbwertigen Schnellnahrung als Wohltäter geriert, steht dem ein bereits bestehender oder noch drohender Schaden am Gemeinwohl entgegen. Spätestens nach dem Sturm aufs Capitol steht zu befürchten, dass die durch Algorithmen erzeugten Filterblasen, die Hasshäppchen und Lügenbröckchen [18]Trumps und Konsorten in den sozialen Medien zu realer Gewalt führen. Mir erscheint das soziale Experiment als zu gefährlich, als dass es mit Regulierungsmitteln hier und da lediglich gezähmt werden sollte. Schon die bisherigen Maßnahmen wie das NetzDG haben nicht verhindert, dass die Populisten und Verschwörungsideologen auch hierzulande großen Widerhall finden.

Dabei müssen sich die "klassischen Medien" womöglich an ihre eigene Nase fassen: Trumps Absonderungen hätten wohl die Twitterblase nicht so weitläufig bis an die Frühstückstische verlassen können, wenn sie nicht von den Fernsehsendern, Zeitungen und Online-Magazinen ventiliert worden wären. Hier können sich diejenigen zu Wort melden, die meinen, Trump habe mit Faktenchecks entgegnet werden müssen und diejenigen, die meinen, dem Populismus sei am besten nur durch Dethematisierung das Wasser abzugraben [19].

Und da wir beim Stichwort "Experiment" gelandet sind: Auch die Auswertung von Zugriffszahlen ist keine simple Angelegenheit, aber dafür haben wir unsere Analytiker. Die schreiben mir, dass der Artikel "Freibier für alle…" insgesamt etwa 130.000-mal angeklickt wurde und deutlich überdurchschnittliche Zugriffe von Google aufwies. Daraus lasse sich schließen, dass der Artikel von Google angezeigt wurde und bei den Lesern Interesse geweckt hat. Auch überdurchschnittlich war die Zahl der Absprünge im Anschluss, also nachdem die Google-Nutzer auf "Freibier" geklickt hatten, aber nicht "superdramatisch".

Auch soll das "Experiment" intern zu Aufmerksamkeit geführt haben, das Verhältnis von internem Traffic zu Einstiegen auf den Artikel hat sich aber nicht dramatisch verschoben. Die Verweildauer auf dem konkreten Artikel war ähnlich zu den sonstigen Missing Links, nicht kürzer, auch nicht höher; auf die durchschnittliche Dauer habe es also keinen deutlich sichtbaren Effekt gegeben. Relativ ungewöhnlich ist an den Zahlen, dass über die Hälfte der Nutzer, die den Artikel über Google besucht haben, Stammleser waren. Insgesamt gilt aber, dass Suchmaschinen für das Missing Link im Gegensatz zu anderen Formaten keine primäre Quelle sind.

(anw [20])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-5030771

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Freibier-fuer-alle-Trump-loest-mit-Linux-Weltkrieg-aus-5018374.html
[2] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[3] https://www.heise.de/forum/heise-online/Kommentare/Missing-Link-Freibier-fuer-alle-Trump-loest-mit-Linux-Weltkrieg-aus/Ein-Grossteil-der-sog-Journalisten-sind-links-wie-der-Autor-des-Kommentars/posting-38150477/show/
[4] https://www.journalist.de/startseite/detail/article/wie-divers-ist-der-ard-nachwuchs
[5] https://www.presserat.de/pressekodex.html
[6] https://uebermedien.de/54539/wie-links-ist-der-ard-nachwuchs-viel-laerm-um-ein-datenprojekt/
[7] https://afdkompakt.de/2020/11/04/krasse-einseitigkeit-im-staatsfunk-92-der-ard-volontaere-waehlen-linksparteien/
[8] https://www.deutschlandfunkkultur.de/maulkorb-fuer-hildebrandt.932.de.html?dram%3Aarticle_id=129350
[9] https://www.kas.de/documents/252038/4521287/Die+Forderungen+der+AfD+zum+%C3%B6ffentlichrechtlichen+Rundfunk.pdf/a1c00217-8094-6983-60a8-f1435d40851d?version=1.0&t=1567692983720
[10] https://www.heise.de/meinung/Kommentar-Eine-Nacht-in-der-Filterblase-3464099.html
[11] https://cdn.prod.www.spiegel.de/media/67c2c416-0001-0014-0000-000000044564/media-44564.pdf
[12] https://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article159524880/Sturmgeschuetz-der-Demokratie.html
[13] https://www.heise.de/news/Forscher-Twitter-und-Facebook-muessen-mehr-gegen-politische-Propaganda-unternehmen-3749023.html
[14] https://philpapers.org/rec/HANASV
[15] http://www.spiegel-affaere.de
[16] https://www.heise.de/news/Edit-Policy-Trumps-Verbannung-von-Social-Media-Kritiker-verkennen-Gesetze-5026852.html
[17] https://www.heise.de/news/Dokumentarfilm-The-Cleaners-Facebooks-dunkles-Geheimnis-4052722.html
[18] https://www.heise.de/news/Soziale-Medien-Deutlich-weniger-Falschinformationen-nach-Trumps-Twitter-Sperre-5026701.html
[19] https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/november/fuer-eine-demokratische-polarisierung
[20] mailto:anw@heise.de