Peer gewinnt

Das Peer-to-Peer-Prinzip hat seit den 1990ern das Internet aufgemischt. Jetzt erobert es die klassische Wirtschaft – und greift Banken, Energieversorger und andere etablierte Branchen an.

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Von
  • Niels Boeing
  • Claudia Wessling
Inhaltsverzeichnis

Das Peer-to-Peer-Prinzip hat seit den 1990ern das Internet aufgemischt. Jetzt erobert es die klassische Wirtschaft – und greift Banken, Energieversorger und andere etablierte Branchen an.

Der Mann mit dem mächtigen dunklen Vollbart beugt sich in den Knien und gestikuliert nachdrücklich mit beiden Armen, damit sein Publikum auch wirklich aufmerkt: "Zum ersten Mal seit der industriellen Revolution sind die Kernelemente des Wirtschaftens in den Händen großer Teile der Bevölkerung."

Als Yochai Benkler von der Harvard Law School 2005 diese These auf einer TED-Konferenz aufstellt, sind das – noch – kühne Worte. In den sozialen Netzwerken sammeln sich gerade die ersten Nutzer, das iPhone ist noch nicht erfunden, die Banken machen Bombengeschäfte, die Energiewende bedroht noch nicht die großen Energieversorger.

Doch der Jurist mit dem prophetischen Gestus ist sich sicher: "Soziale Produktion ist eine Tatsache, keine Modeerscheinung. Sie ist die kritische, langfristige Verschiebung, ausgelöst durch das Internet." Benkler ist davon überzeugt, dass die erstaunliche Erfolgsgeschichte freier Software, allen voran des Betriebssystems Linux, mehr ist als eine Episode, auf die sich Ökonomen keinen Reim machen können. Die wunderten sich damals noch, wie Zigtausende Programmierer gemeinsam, meist ohne Entlohnung und erst recht ohne Führung durch eine Konzernspitze, hochwertige Software schreiben können.

Zehn Jahre später ist der wallende Bart gestutzt, doch die Ereignisse haben gezeigt: Benkler war auf der richtigen Fährte. Immer mehr talentierte und gewiefte Individuen schließen sich zusammen, um internetgestützt untereinander Geschäfte zu machen, miteinander Dienstleistungen zu erbringen, die früher straff organisierten Unternehmen vorbehalten waren. Diese "Peer-to-Peer-Ökonomie" ist längst der Entwicklung von Software oder Enzyklopädien entwachsen.

Sie ist ins Hotelgewerbe eingedrungen, in Transportdienstleistungen, in die Vermittlung von Kapital, die Erzeugung sauberer Energie. In Großbritannien nimmt bereits ein Viertel der Bevölkerung an der P2P-Ökonomie teil, in Schweden gar mehr als die Hälfte. Die Idee steht damit für eine neue Art des Wirtschaftens, die in letzter Konsequenz das Ende großer Konzerne in ihrer heutigen Form bedeuten kann. Aber wie weit trägt sie wirklich? Kaum etwas kann diese Frage wohl besser beantworten als ein Blick nach dort, wo die P2P-Technologie ihren Ursprung nahm: in der Computertechnik.

Das Internet neu erfinden

Eigentlich basiert schon die Grundidee des Internets auf einem dezentralen Ansatz: Jeder Internetrechner gibt Datenpakete, die nicht für ihn bestimmt sind, einfach an seine Nachbarn weiter – er ist so zugleich Sender und Empfänger. Auf dieser Grundlage hat sich jedoch aus technischen Gründen ein hierarchisches Konzept durchgesetzt, das sogenannte Client-Server-Modell: Ein Anbieter stellt auf seinen Servern und zu seinen Bedingungen Dienste zur Verfügung. Die Clients, also die Kunden, sind meist nur noch passive Empfänger von Daten.

Aber diese Architektur gerät zunehmend in die Kritik. Denn die Zentralisierung des Internets ist durch das Aufkommen des Cloud-Computings noch stärker geworden: Die meisten Server stehen heutzutage nicht mehr bei den Dienste-Anbietern, sondern sie laufen in riesigen Datenzentren als virtuelle Maschinen. Zentrale Datenspeicher verbrauchen aber nicht nur viel Energie. Sie sind auch gegenüber kriminellen Angriffen besonders verletzlich, wie zuletzt Fälle von massenhaftem Datenklau bei Unternehmen wie Sony, Ebay oder der US-Bank JPMorgan Chase belegten. Auch die anhaltenden Enthüllungen geheimdienstlicher Internet-Schnüffeleien haben bei den Usern zu einem gravierenden Vertrauensverlust geführt.

Peer-to-Peer-Netze (P2P) greifen die ursprüngliche Idee des Internets wieder auf. In P2P-Netzen sind alle Rechner gleichberechtigt. Dateien zum Beispiel liegen nicht auf einem zentralen Server, sondern sind über das gesamte Netz verteilt. "P2P könnte die Technologie sein, die durch dezentral eingesetzte Anwendungen das Internet demokratisiert", sagt Özalp Babaoglu. Der Informatiker von der Universität Bologna forscht seit vielen Jahren an dezentralen, selbstorganisierten Computernetzen. Er findet es "sehr unglücklich", dass Peer-to-Peer-Netzwerke und die dazugehörigen Internet-Protokolle wie BitTorrent immer noch häufig nur mit dem illegalen Austausch von Filmen, Musik oder anderen Copyright-geschützten Produkten in Verbindung gebracht – und so diskreditiert werden. "Das ist einfach eine falsche Charakterisierung. P2P ist der Kern der grundlegenden Protokolle, die das Internet zum Laufen bringen", sagt Babaoglu.

Die Verfechter dezentraler, P2P-basierter Lösungen haben mit den Internet-Piraten nur die technischen Konzepte gemein. Sie setzen sich für mehr Eigenkontrolle des Users ein: Dieser entscheidet selbst, wie viele Daten oder Rechenkapazität er verfügbar macht und auf was er selber zugreift. Internetriesen wie Google, Amazon oder Facebook würde so das Wasser abgegraben. An einem solchen basisdemokratischen User-Netzwerk arbeiten auch die schottischen Unternehmer David Irvine und Nick Lambert in ihrer Firma MaidSafe.

Ihr ehrgeiziges Ziel: "Wir wollen das Internet ersetzen." Den Quellcode des Systems, das von Datenspeicher, Internettelefonie bis zu E-Mail verschiedenste Services bieten soll, hat Maid-Safe offengelegt. Die Netzwerkteilnehmer verschicken Datenpakete verschlüsselt und können selbst entscheiden, wie viel sie von sich preisgeben. "Unsere Daten gehören uns selbst und niemandem sonst", sagt Irvine.

Einfach umzusetzen ist das Vorhaben aber offensichtlich nicht. Seit mehr als sieben Jahren tüfteln die Schotten bereits daran. Die Unterstützung der Netzgemeinde haben sie jedoch nach wie vor: Bei einer Auktion in den Internetwährungen Bitcoin und Mastercoin sammelte MaidSafe im vergangenen Jahr binnen weniger Tage umgerechnet acht Millionen Dollar ein.

Auch der Informatiker Babaoglu weiß um die Schwierigkeiten, ein größeres P2P-Netzwerk verlässlich zum Laufen zu bringen. Gemeinsam mit einem Forscherkollegen hat er einen Software-Prototyp für die Entwicklung dezentraler Clouds entworfen. "So ein System mit Millionen Teilnehmern ist natürlich nicht statisch. Sie schalten ihre Rechner an und aus, sind mal am Netz, mal nicht", beschreibt er das Problem, das die Forschung auch "churn" nennt – in Anlehnung an das englische Wort für "Butter rühren".

Um trotzdem herauszufinden, auf welchen Knotenpunkten gespeicherte Daten abzuholen wären, entwickelten Babaoglu und sein Kollege ein spezielles Protokoll. Es beruht auf der Idee des "Gossip" – des Getratsches. So wie sich in einem Großraumbüro immer wieder neue Mitarbeiter am Kaffeeautomaten treffen, tauschen die Netzwerkteilnehmer immer wieder neueste Infos mit zufällig gewürfelten Netzwerk-nachbarn aus. Zum Beispiel darüber, welche Knotenpunkte gerade erreichbar sind. "Das war ein erster Schritt, aber es bleiben so viele Fragen offen", sagt Babaoglu.

Zum Beispiel die nach der Sicherheit. "In einem dezentralen Netzwerk verlassen wir uns auf Ressourcen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen", sagt Babaoglu. Schon bei kommerziellen Clouds besteht ein Manipulationsrisiko. "Dieses finden wir bei dezentralen Lösungen millionenfach verstärkt." Durch Zerteilung und Verschlüsselung ließen sich Daten zwar so unangreifbar machen, dass sie sogar nicht vertrauenswürdige Teile eines Netzes unbeschadet durchlaufen könnten. Bislang gebe es aber keinen effizienten Weg, um etwa Computerberechnungen auf dezentralen Rechnern vor Eingriffen zu schützen. Ungelöst sind auch juristische Fragen. Wenn etwa ein Mitglied des dezentralen Netzwerks dies für kriminelle Taten missbraucht, wer haftet dann?

Eine der schwierigsten Fragen sei aber "die Entwicklung von Anreizen, die Mitmachen belohnen und Trittbrettfahren unattraktiv machen", sagt Babaoglu. Bei Filesharing-Portalen ist der Anreiz klar: Wer beispielsweise Musik zur Verfügung stellt, kann auch selbst Stücke herunterladen. Wissenschaftliche Untersuchungen können mit Renommee werben: Wer seinen Computer dem Projekt seti@home für die Suche nach außerirdischem Leben zur Verfügung stellt, könnte auch selber ein klein bisschen Geschichte schreiben, wenn irgendwann etwas gefunden würde. Aber all das sind eng begrenzte Anwendungen.

"Es gibt keine allgemeingültige Lösung, was Sicherheit, Datenschutz und Mitmachanreize betrifft", sagt Babaoglu. Für vorstellbar hält der Informatiker auf bestimmte Anwendungen begrenzte Konzepte. Als ökonomisches Modell für Google, Amazon und Co. würden die dezentralen Netze auf absehbare Zeit nicht interessant, glaubt er. "Dezentrale Lösungen sparen vielleicht Strom für Serverfarmen. Aber die Fülle der damit einhergehenden Probleme ist so groß, dass die Firmen eher bei ihren zentralisierten Lösungen bleiben dürften."

Bei MaidSafe wird diese Skepsis des Forschers nicht geteilt: Die schottischen Unternehmer Irvine und Lambert wollen Teilnehmer mit monetären Anreizen locken. Aktivitäten im Netzwerk werden mit Einheiten einer kryptografischen Wertmarke belohnt, die für andere Dienste eingelöst werden können. Noch in diesem Jahr soll eine erste Beta-Version des Netzwerks vorliegen. Lambert zeigte sich jüngst auf einer Tagung über die Zukunft des Internets überzeugt: De- zentrale Netzwerke würden am Ende die großen Datenzentren ersetzen – "und die Geschäftsmodelle der großen Tech-Konzerne hoffentlich verbessern".

Noch mag das eine bloße Hoffnung sein. Aber vermessen ist sie nicht. Denn P2P funktioniert bereits in einem Bereich, in dem Nutzer mindestens ebenso empfindlich sind wie im Umgang mit Daten: beim Geld.

An den Banken vorbei

Geschichten wie die von Celia Gay sind derzeit aus Großbritannien zuhauf zu hören. Der Newton Food Farm in der grünen Hügellandschaft zwischen Bristol und Bath wäre um ein Haar der eigene Erfolg über den Kopf gewachsen. Was mit einem kleinen Hofverkauf und einer Kaffee-Ecke an-gefangen hatte, mauserte sich zu einem echten Run auf ihren kleinen Hof. Wollte sie ihre Kunden nicht verprellen, musste sie ihr winziges Café ausbauen. Doch woher Geld nehmen?

"Es gab keine Fördergelder für den ländlichen Raum mehr, in der Rezession waren diese Finanzierungen ausgetrocknet", erzählt Gay. In der Zeitung hatte sie über die Plattform Funding Circle gelesen. Gay meldete sich an und schrieb ein Gesuch nach einem Privatdarlehen aus. Mit Erfolg: 915 Personen waren bereit, der Landwirtin Geld zu leihen – insgesamt 60000 Pfund.

Im Mutterland der Finanzindustrie boomt das "P2P Lending" wie in keinem anderen EU-Land. "Unsere Plattformen haben dabei geholfen, Darlehen in Höhe von 2,6 Milliarden Pfund an Privatpersonen und Firmen in Großbritannien zu vermitteln", sagt Christine Farnish, Vorsitzende der britischen P2P Finance Association (P2PFA) zum Transaktionsvolumen im vergangenen Jahr. Noch 2012 waren es nur 267 Millionen Pfund gewesen.

Dutzende Plattformen haben das Geschäft mit der Kapitalbeschaffung inzwischen weit über das Crowdfunding hinausgetrieben. Werden über Dienste wie Kickstarter Spenden oder Finanzierungen mit Vorkaufsrecht eingeworben, vermitteln Plattformen wie Funding Circle, Zopa oder RateSetter direkte Darlehen oder Unternehmensanteile. Die Wachstumsraten sind beeindruckend: Das P2P Lending an Firmen hat zwischen 2012 und 2014 um 250 Prozent zugelegt, das Equity Crowdfunding, bei dem Anteile verkauft werden, gar um 410 Prozent, wie ein aktueller Report der britischen Innovations-Förderorganisation Netsa zeigt. Im Schnitt werden gut 73000 Pfund von knapp 800 Personen eingeworben. Auch in den USA hat sich das P2P Lending längst etabliert, die Marktführer sind dort Lending Club und Prosper.

Dass die Szene prosperiert, hat mehrere Gründe. Kostengünstige technische Möglichkeiten, um eine Plattform aufzusetzen, treffen auf Verbraucher, die durch den Umgang mit sozialen Netzwerken aufgeschlossener sind für netzbasierte Geschäfte an den Banken vorbei. "Der Boom hat allerdings auch damit zu tun, dass die Banken sich nach der Finanzkrise eher zurückhalten, Kredite an kleine oder junge Firmen zu vergeben", sagt Dorothea Schäfer, Ökonomin und Expertin für alternative Finanzdienstleistungen am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW. "Angebote bis 100000 Euro sind dünn gesät, da hat sich eine Lücke aufgetan."

In die stoßen nun die P2P-Finanzdienstleister. "Anders als Banken haben sie nicht diese enormen Kosten, die ein verzweigtes Filialnetz mit sich bringt, mit Tausenden von Beschäftigten und einer alternden IT-Infrastruktur", sagt Christine Farnish. Sie hält das P2P-Finanzgeschäft für eine disruptive Entwicklung, die den Bankensektor noch aufmischen wird.

Mächtige Bankhäuser wie Goldman Sachs oder die Royal Bank of Scotland sondieren daher längst, wie sie sich an die Großen des P2P Lending anhängen können. Santander UK etwa ist bereits eine Partnerschaft mit Funding Circle eingegangen und schickt Kreditanfragen an die Plattform weiter, die im Gegenzug Finanzprodukte von Santander UK bewirbt.

Trotz jährlicher Wachstumsraten von 100 und mehr Prozent ist jedoch nicht sicher, dass die P2P-Finanzdienstleister die Banken von morgen sind. Einerseits bieten sie Darlehensgebern Zinsen von fünf, sechs Prozent – deutlich mehr, als Geldanlagen im Bankgeschäft derzeit bringen. Geplatzte Kredite können andererseits die neuen Dienste, die allesamt noch vergleichsweise geringe Umsätze machen, schneller ins Straucheln bringen als die großen Player mit ihren Kapitalreserven. "Ein großer Ausfall von Kreditnehmern könnte in der Szene einen Schock auslösen", warnt Dorothea Schäfer.

Der P2P-Finanzsektor sieht sich aber gewappnet. Zopa, die 2005 gegründete älteste britische Plattform, habe anfangs bewusst nur an wenige, gut ausgewählte Personen Darlehen vermittelt, sagt Unternehmenssprecher Mat Gazeley. "Dadurch konnten wir nach zwei Jahren zeigen, dass das Modell funktioniert. Dank eines konservativen Umgangs mit Kreditrisiken gab es nur wenige Ausfälle." Auch jetzt wird bei Zopa maximal ein Viertel der Kreditbewerber zur Vermittlung zugelassen. Doch Luke O'Mahony von RateSetter macht sich nichts vor: "Zu glauben, man wäre als Geschäft zu klein und uninteressant für Betrüger, ist naiv." Sowohl Zopa als auch RateSetter hatten sich deshalb schon vor Gründung des Branchenverbands P2PFA ehrgeizige Sicherheitsheitsrichtlinien gegeben. RateSetter hat zudem als Head of Compliance mit Simon Pearse einen langjährigen Mitarbeiter der britischen Finanzaufsicht gewonnen.

Die alternativen Finanzdienstleister wären auch schlecht beraten, die laxen Kreditgeschäfte der traditionellen Banken zu wiederholen. Schließlich hat ihnen deren Crash 2008 erst zum Erfolg verholfen. Wenn es also für Geld funktioniert, warum dann nicht auch für Energie? Batteriespeicher im Keller und Solarmodule auf dem Dach legen den Grundstein, erste Anbieter stellen bereits die Energieversorgung auf den Kopf.

Eine Zukunft ohne Großkraftwerke

Über viele Jahrzehnte sah die Architektur des Stromnetzes so aus: Einige wenige Energieerzeuger speisen aus großen Kraftwerken ein berechenbares Angebot von Elektrizität in ein Netz ein. Doch nun mischen immer mehr Kleinsterzeuger in der Stromproduktion mit – und das in einem schwer berechenbaren, weil wetterabhängigen Ausmaß. Was für die Energiewirtschaft zum Problem wird, sehen andere als Aufbruch in ein neues Zeitalter. "Wir kommen weg von der Versorgerwirtschaft, in der Strom einfach aus der Steckdose kommt", sagt Justus Schütze, Mitbegründer von buzzn.

Die Firma aus München will das P2P-Prinzip in der Energieversorgung etablieren, indem sie einen Energieaustausch zwischen "Stromnehmern" und "Stromgebern" organisiert. Stromgeber sind dabei alle, die etwa auf dem Dach ihres Hauses eine Solaranlage betreiben, den Strom aber nicht vollständig verbrauchen. Den Überschuss vermittelt buzzn an Verbraucher, die grünen Strom haben wollen. "Es wird nur Strom aus dem Buzzn-Verbund weitergegeben. Wir wollen keine Wasserkraft aus Norwegen dazukaufen", sagt Schütze. Deshalb wird für das Lastprofil eines Tages immer ein leichter Überschuss als Puffer einkalkuliert. Physikalisch bleibe an den Stromflüssen durch das bestehende Netz zwar alles gleich, betont Schütze.

"Aber die Geldflüsse ändern sich." Nämlich direkt von Stromgebern zu Stromnehmern. Denen zahlt buzzn einen Eurocent mehr Einspeisevergütung, als im Erneuerbare-Energien-Gesetz vorgesehen ist. Der eine Cent addiert sich zwar nur zu bescheidenen Erträgen. Er ist indes nicht der einzige Anreiz, sich am Buzzn-Verbund zu beteiligen. Es geht um ein Modell für eine dezentrale Energieversorgung, in der die Bürger selbst zu Produzenten werden.

Für manche Gesellschafter, die kein eigenes Dach mit einer Solaranlage haben, sei es ein Ansatz, mit dem sie als Stromnehmer "gefühlt" den Solarstrom selbst erzeugen und verbrauchen, sagt Wolfgang Bauer von "Solarpark München". Der Solarpark in Hadern ist bereits Teil des Buzzn-Modells, und "wir planen derzeit, mit weiteren Anlagen zu buzzn umzusteigen".

Buzzn testet zudem eine App, mit der sie den Abgleich zwischen Stromangebot und -bedarf immer näher an eine "Echtzeit-Bilanzierung" heranführen will. Über die App sollen sich "Stromgruppen" bilden, die genau wissen, wann sie wie viel Strom verbrauchen können. Bei Bedarf können sie zudem Überschüsse an andere Gruppen abgeben. "Wir hoffen, dass es eine Art Volkssport wird, die eigene Stromgruppe möglichst autark zu machen", sagt Schütze.

Die physikalische Grundstruktur des Netzes ist mit diesem Ansatz indes noch nicht angetastet. Doch auch hier brüten kluge Köpfe weltweit unter dem Stichwort "paketbasierte Stromübertragung" über einer neuen Lösung. Die Mainzer GIP AG beispielsweise, ursprünglich aus der IP-Netztechnik kommend, will das Stromnetz nach dem Vorbild des Internets umbauen.

Anstatt eines riesigen Netzes bestünde ein paketbasiertes "Quantum Grid" aus vielen kleineren Teilnetzen. In ihm müsste die Frequenz des Wechselstroms nicht mehr flächendeckend auf 50 Hertz gehalten werden. Stattdessen ließe sich auch Gleichstrom, etwa aus Photovoltaik-Anlagen, verteilen. Wird in einem Teilnetz mehr Energie verbraucht als produziert, speisen andere Teilnetze ihren Überschuss ein – möglichst selbstorganisiert.

Neue Leitungen bräuchte man dafür nicht, aber eine intelligente Strom-Infrastruktur: Denn innerhalb der Netze und zwischen ihnen sollen "Digital Grid Router" gezielt den Strom weiterleiten – und zwar nach dem Vorbild der Datenübertragung in Paketform: Ein solches "Energiepaket" besteht aus drei Teilen: Der Kopf enthält die Start- und Zieladresse, ein Leistungsprofil und Kommandos, die Leitungen zwischen den Netzen freischalten. Die "Payload" ist nutzbarer Strom, der Lampen oder Haushaltsgeräte antreibt, gefolgt von einem dritten Datenpaket, das die Leitungen wieder abschaltet. Kleine Stromspeicher, wie der jetzt von Tesla vorgestellte Powerwall, puffern überschüssige Energie und stabilisieren das Teilnetz.

Dass so etwas im Prinzip geht, haben die japanischen Ingenieure Hiroumi Saitoh und Junichi Toyoda bereits 1996 gezeigt, damals noch für auf 50 Hertz synchronisierte Netze. Forscher der Universität Kyoto um Takashi Hikihara und Rikiya Abe von der Universität Tokio haben in den vergangenen Jahren das Konzept des "Paketstroms" weiterentwickelt. Nun könne man einen praktischen Einsatz der Technik erwägen, schreibt die Gruppe in einem Paper. Noch ist die dazu erforderliche Leistungselektronik aber nicht tauglich für den Massenmarkt.

Als die GIP AG sich ihre Idee eines Digital Grid Routers 2009 patentieren ließ, schien ein digitales Stromnetzes noch eine kühne Vision zu sein. "Inzwischen ist die Energiebranche offener für solche Ansätze", sagt Forschungschef Bernd Reifenhäuser. Die Firma arbeitet nun mit Antonello Monti an der RWTH Aachen (E.on ERC) zusammen, um das Energie-Internet voranzutreiben. "Bis die Technologie breit einsetzbar ist, sind aber noch zehn Jahre Entwicklungsarbeit nötig", sagt Reifenhäuser.

Alle arbeiten für Alle

Vielleicht ist bis dahin ja auch die Wirtschaft bereit für neue Formen der Kooperation. Einige Enthusiasten wie der belgische Theoretiker Michel Bauwens, Gründer der P2P Foundation, sehen bereits jetzt "eine neue Art ethischer Ökonomie" heraufziehen.

Die Entwicklung der Sharing Economy, die eine P2P-Struktur mit der Idee des Teilens verbinden wollte, mahnt aber zur Vorsicht. Da ist etwa der Fall Airbnb. Aus der sympathischen Idee, Gästen in einer Stadt vorübergehend nicht genutzte Wohnungen zu überlassen, ist ein globaler Dienst geworden, der in Metropolen Wohnungsmärkte belastet. So kommen in angesagten Vierteln von Berlin-Kreuzberg 100 Airbnb-Angebote auf eine freie Mietwohnung.

Da ist auch der Fall Uber. Die netzgestützte Mitfahrzentrale vervielfacht zwar die Alternativen zu Taxis und öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Preisalgorithmus von Uber ist indes blind dafür, warum die Nachfrage in die Höhe schießt: Bei einer Geiselnahme in Sydney 2013 schnellte der Preis auf den Höchstwert, als panische Passanten aus der Innenstadt flüchten wollten.

Der Physiker Dirk Helbing, bekannt geworden für seine Forschung zum Schwarmverhalten von Verkehrsteilnehmern, geht dennoch davon aus, dass sich zurzeit ein tiefgreifender Wandel vollzieht: Der Homo oeconomicus weicht dem "Homo socialis". In einer Simulation ließen Helbing und Kollegen Marktakteure eine Evolution von 120 Generationen durchlaufen. Diejenigen, die ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren, gewannen nur wenig evolutionäre Fitness hinzu. Diejenigen, die mit anderen kooperierten, überflügelten hingegen ab der 40. Generation den Homo oeconomicus.

Nimmt man Helbings Untersuchungen als Indiz, könnte P2P sich gegenüber der "Old Economy" durchsetzen, weil es langfristig mehr Erträge bringt. Helbing jedenfalls ist optimistisch: "Die Menschheit hat jetzt die Chance, in eine Ära der Kreativität und des Wohlstands einzutreten, die auf sozialen Prinzipien aufgebaut ist und durch moderne IT-Systeme ermöglicht wird." (nbo)