Schach mit Patenten

Wer mit Technologie Geld verdienen will, kommt um Patente nicht herum. Doch von ihrer ursprünglichen Idee ist nicht mehr viel übrig geblieben. Fluch oder Segen?

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Von
  • Tobias Hürter
Inhaltsverzeichnis

Was wäre wohl aus Richard Snyder geworden, wenn er vor 800 Jahren in Europa gelebt hätte? Es war die Zeit der Ritter, von wehrtüchtigen Edelmännern mit hohen Idealen. Wenn aber ein Ritter in Geldnot geriet, verlegte er sich nicht selten auf Plünderei, Fehden und Straßenraub. Er verkam zum Raubritter. Richard Snyder gebietet über keine Burg, sondern über die texanische Firma Forgent, die ihr Geld mit Videokonferenz- Programmen verdiente - bis zum Hightech-Crash zu Beginn des Jahrtausends. Snyder musste sich nach neuen Geldquellen umsehen. Auf eine besonders ergiebige stieß er im Archiv einer Forgent-Tochter: US-Patent Nr. 4698672. Snyder machte sich und seiner Firma zu Nutze, dass die Schrift ein "Kodierungsverfahren zum Abbau von Redundanzen" schützt, dessen Algorithmus Ähnlichkeiten mit JPEG hat, dem wichtigsten Standard zur Kompression digitaler Bilder. Snyder ging amerikanische, europäische und japanische Elektronikkonzerne um Lizenzgebühren für die Nutzung von Nr. 4698672 an, wodurch nach Angaben des Unternehmens in den letzten zwei Jahren 90 Millionen Dollar in die brache Forgent- Kasse flossen, davon allein 16 Millionen Dollar von Sony.

Das freut Richard Snyder, aber aus Sicht der herrschenden Rechtfertigungslehre für den Erfindungsschutz ist Patent Nr. 4698672 ein Unding. Niemand wird behaupten, dass es den technischen Fortschritt fördert. Im Gegenteil: Womöglich bewirkt Snyders Raubzug, dass JPEG aus Browsern, Scannern und Digitalkameras verschwinden muss. Denn nicht alle Elektronikriesen wollen sich den frechen Texanern beugen, und so hat Forgent 31 Konzerne von Adobe bis Xerox auf Patentverletzung verklagt. Ein Erfolg der Klage, ob im Gerichtssaal oder außerhalb, wäre wohl das Ende des offenen JPEG-Standards. GERN WÜRDE MAN den Fall Forgent im Kuriositätenkabinett des Schutzrechts ablegen. Doch er illustriert die dunkle Seite einer Umwälzung, die sich seit Jahren im Patentwesen vollzieht. Zunehmend gewinnen Patente Bedeutung über den bloßen Erfindungsschutz hinaus. Sie sind zum strategischen Werkzeug geworden, zum Joker in Verhandlungen, zu Schutzmauern und Tretminen, zur Abschreckungs- und Terrorwaffe. Sie gelten als Insignien der Innovationsstärke innerhalb der Unternehmen und nach außen.

Die Industrie rüstet um die Wette: Allein die Zahl internationaler Patentanmeldungen durch deutsche Unternehmen hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Den Ursachen dafür sind Patentexperten des Karlsruher Fraunhofer-Instituts für Innovationsforschung in einer Studie nachgegangen. "Der zentrale Treiber", schreiben Jakob Edler und Kollegen, sei das um sich greifende strategische Patentieren.

Die Folge ist ein Dickicht von Schutzrechten, das selbst großen Konzernen die Bewegungsfreiheit nimmt und jungen Unternehmen den Zugang zum Markt blockiert. Um heute ein neues Mobiltelefon zu entwickeln und zu produzieren, braucht man Lizenzen für hunderte Patente der großen Hersteller. Untereinander haben die etablierten Riesen umfassende Patentaustausch- Abkommen vereinbart - zuletzt etwa Siemens und Microsoft. Neulinge bleiben draußen. Die Gefahr, dass Patente zum Spekulationsobjekt und Machtmittel der Technologiefürsten degenerieren, ist so real geworden, dass die Robin Hoods des Ideenfeudalismus ihre Abschaffung fordern. Auf seiner lichten Seite bietet dieser Wandel indes eine große Chance. Patente könnten zur Basiseinheit der Wissensgesellschaft werden: zu einer stabilen Währung für technisches Wissen. "Patente machen Erfindungen handelbar und konvertibel", sagt Jürgen Schade, der Präsident des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) in München. Das Ende hängt entscheidend vom Verhalten der Akteure ab, von den Managern und Entwicklern, den Patentanwälten und von den "Notenbanken" der Wissensgesellschaft: den Patentämtern.

DER GRUNDGEDANKE VON PATENTEN besteht in einem Tausch: Der Erfinder bereichert den Corpus des allgemein zugänglichen Technikwissens, indem er sein Werk offenbart, und erhält dafür vom Staat das Monopol zur Verwertung seiner Innovation. Solches Recht auf geistiges Eigentum, wenn auch nur auf Zeit, versteht sich keineswegs von selbst, denn im Gegensatz zu materiellen Dingen lassen sich Ideen unabhängig voneinander mehrmals haben. Deshalb ist es üblich, zur Begründung des Erfindungsschutzes seinen vermuteten Nutzen für die Allgemeinheit heranzuziehen. Schutzrechte sollen Erfinder belohnen und anspornen - auch ihre Konkurrenten. Wer nämlich von einem Patent ausgeschlossen bleibt, so der Gedankengang, der mache sich auf die Suche nach Alternativen. Ob solche Argumente aber zutreffen, konnte bisher niemand wirklich nachweisen. Bewirken Patente überhaupt etwas Positives? "Man weiß es nicht", sagt Reto Hilty, Direktor am Münchener Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum. "Das ist eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten."

Am Beginn des Patentrechts standen alles andere als hehre Ziele. Als erstes Patentgesetz der Welt gilt die 530 Jahre alte "Parte Veneziana", die "neue und erfinderische Dinge" für zehn Jahre bei einer Strafe von hundert Dukaten vor Nachahmung schützte. Sie diente vor allem der Staatsräson: Man brauchte bessere Schiffstechnik im Seekrieg gegen die Osmanen. Aber die Parte Veneziana schützte auch friedliche Erfindungen. 1594 unterzeichnete der Doge die Urkunde zum Schutz einer "Vorrichtung zum Heben von Wasser und zum Bewässern von Land". Name des Anmelders: Galileo Galilei. Auch das moderne deutsche Patentrecht hat nicht eben idealistische Ursprünge. Die preußische Ministerialbürokratie Mitte des 19. Jahrhunderts prüfte Patentanträge so pedantisch, dass Werner von Siemens das Anmelden aufgab. 1877 bekam Deutschland nach langem Ringen ein einheitliches Patentgesetz, nicht zuletzt auf Siemens' Betreiben.

Im 20. Jahrhundert fand die Patentpraxis in geordnete Bahnen. Robuster Erfindungsschutz galt als Basis für den Aufstieg der großen Industrienationen. Doch die Ruhe trog: In der westlichen Wirtschaft baute sich ein Gleichgewicht der Abschreckung auf, das Kevin Rivette, Beirat der Boston Consulting Group in San Francisco, als "Mutually assured destruction" charakterisiert: "Die Technologie-Unternehmen horteten Patente, aber nutzten sie rein defensiv", sagt Rivette. Man nahm die Nutzung der eigenen Patente durch die Konkurrenz hin, weil man umgekehrt auch deren Schutzrechte berührte. "Verklagst du mich, verklage ich dich", war die Drohung, die freilich selten in die Tat umgesetzt wurde. Das instabile Gleichgewicht hielt, solange Produkte und Kapital innerhalb der Staatsgrenzen blieben.

ES WAR DER AMERIKANISCHE HALBLEITERKONZERN Texas Instruments, der Mitte der 1980er Jahre mit dem allseitigen Stillhalten brach. Als billige Chips aus Asien den US-Markt überfluteten, entschloss man sich in Dallas zum juristischen Gegenschlag. Man verglich die Produkte der Konkurrenz mit den eigenen Patentschriften und verklagte neun japanische und koreanische Firmen auf Patentverletzung. Die neun außergerichtlichen Vergleiche brachten Texas Instruments insgesamt mehr als eine Milliarde Dollar an Lizenzzahlungen ein. Bald suchte der Konzern sich weitere Klageopfer in Europa und den USA. Das Lizenzgeschäft wuchs zum umsatzstärksten Unternehmensbereich.

Das Beispiel Texas Instruments machte Schule, speziell in der amerikanischen Hochtechnologie. IBM bessert seine Bilanz jährlich mit weit über einer Milliarde Dollar Lizenzeinnahmen aus seinen Schutzrechten auf. Das sei nicht nur für IBM selbst ein Gewinn, meint Jerry Rosenthal, Vice President of Intellectual Property und Licensing, sondern für die gesamte Computerbranche. "Großzügiges Lizenzieren schafft Handlungsfreiheit für alle", sagt er, "nur deshalb konnte diese Industrie sich so schnell entwickeln." Wobei IBM seine Patente nicht aus Nächstenliebe teilt: Dem Ostküstenkonzern liegt an Industriestandards nach seinen Wünschen.

Dass cleveres Taktieren mit Patenten keine rein amerikanische Disziplin ist, zeigen Philips und Sony auf dem Gebiet des Digital Rights Management (DRM), auf dem gerade der Kampf um die künftigen Standards tobt. Weil ihre Schutzrechtarsenale auf diesem Gebiet eher schwach bestückt waren, kauften sie vor zwei Jahren gemeinsam das Unternehmen Intertrust und bildeten auf Basis von dessen rund hundert DRM-Patenten einen Patentpool. Andere Medienkonzerne sind eingeladen, unter Einbringung ihrer Patente an diesem Pool teilzuhaben - zu den Bedingungen von Philips und Sony. Im April entrangen sie Microsoft eine Teilnahmegebühr von 440 Millionen Dollar. Allerdings sehen selbst die Cracks des Schutzrechtsgeschäfts mit wachsender Sorge die Unruhestifter. "Ein echtes Ärgernis" nennt IBM-Manager Rosenthal Unternehmen, deren Haupterwerb im Aufkaufen von Patenten gescheiterter Firmen zum Zweck der Lizenzausschlachtung besteht. In den USA treiben mehrere solcher Patent- Raubritter ihr Unwesen und umschreiben es schmeichelnd mit "Intellectual property development" und "IP portfolio management". Zu ersten kleineren Zwischenfällen in Europa kursieren Anekdoten.

Die großen deutschen Unternehmen beteiligen sich eher widerwillig am florierenden Geschäft mit Patenten. Beim Münchener Halbleiterkonzern Infineon etwa fühlt man sich "hineingezogen" in ein Spiel, aus dem man sich lieber heraushalten würde: "Wir wollen unsere Erfindungen vor allem schützen, weniger mit ihnen handeln", sagt Johannes Willsau, Leiter des Bereichs Corporate Intellectual Capital bei Infineon. Solche Bekenntnisse zur Friedfertigkeit helfen indes wenig, wenn andere Streit suchen. So zanken Infineon und andere Speicherchip-Hersteller seit Jahren mit dem kalifornischen Unternehmen Rambus, das sich in den 90er Jahren an der Entwicklung von Industriestandards für Speicher beteiligte – aber verschwieg, dass seine Patente diese Standards abdecken könnten. Nun fordert Rambus hunderte Millionen Dollar an Lizenzgebühren von den großen Chipproduzenten. Ein Ende der Fehde ist nicht abzusehen.

GANZ SO RAU SIND DIE UMGANGSFORMEN anderswo nicht. In der Chemie- und Pharmabranche kann man durchaus Verfahren und Wirkstoffe entwickeln, ohne fremde Schutzrechte zu berühren. Zudem gelten speziell die deutschen Chemieunternehmen als Meister der Patentrecherche - man hat gelernt, sich aus dem Weg zu gehen. Selbst ein Konzern wie Bayer, der die Rolle eines Technologieführers beansprucht, behält seine Erfindungen meist für sich: "Das Verkaufen von Technologie ist für uns von untergeordneter Bedeutung", sagt Lothar Steiling, der das IP-Management des Konzerns leitet. Entsprechend übersichtlich ist das Geflecht der Lizenzverträge. Bayer schließt "grundsätzlich keine pauschalen Austauschabkommen", sagt Steiling, sondern lieber Verträge über "einzelne Patente". Wobei das einzelne Patent gerade in der Chemie und Pharmazeutik besonders wertvoll sein kann: Der Leverkusener Konzern zahlte laut Presseberichten für die letzten Jahre der Laufzeit seines US-Patents für das Antibiotikum Cipro jährlich 25 Millionen Dollar an den amerikanischen Generikahersteller Barr, damit dieser von einem Angriff auf das Kronjuwel im Bayer-Patentportfolio absehe.

Unter Europäern ist es üblich, Meinungsverschiedenheiten über Patente diskreter zu handhaben. So blieb in Stuttgart und München die äußere Ruhe gewahrt, als Bosch, Deutschlands Patentanmelder Nummer zwei, kürzlich eines der branchen- üblichen Austauschabkommen mit Siemens (Nummer eins) einseitig kündigte. Der Hintergrund: Die Siemens-Autotechniksparte VDO hatte mit Macht - und mit Nutzung von Bosch-Patenten - in den Markt für Einspritzsysteme gedrängt, ein angestammtes Revier von Bosch. Speziell die Entwicklung so genannter Piezo- Einspritzsysteme, einer Schlüsseltechnologie für sparsame Motoren kommender Generationen, hatte VDO so stark vorangetrieben, dass Bosch offenbar das Bedürfnis nach einer Verschnaufpause verspürte. Über Einzelheiten schweigen beide Konzerne. Dabei ist klar, dass sie sich ohne Austauschabkommen auf Dauer nur gegenseitig blockieren würden. Das wiederum eint, und deshalb wird ein neu verhandeltes Abkommen nicht lange auf sich warten lassen. Schach mit Patenten - das ist heute noch ein Spiel für die Großen. Die Studie des Karlsruher Fraunhofer- Instituts belegt, dass die Patentschwemme der letzten Jahre vor allem aus Unternehmen mit über 5000 Mitarbeitern kommt. Bei ihnen zeichnet sich eine Vorwärtsintegration von den IP-Abteilungen her ab: Die Patentmanager geben den Entwicklern vor, in bestimmten Gebieten schützbares Wissen zu erzeugen - etwa um gezielt in Schwachstellen der Konkurrenz hinein zu patentieren. "Die erfinderische Aktivität lässt sich durchaus steuern", sagt Siemens' oberster Patentmanager Winfried Büttner, "diese Erfahrung machen wir immer wieder."

VON DEN PATENTRECHTLICHEN RÄNKEZÜGEN der Großen sollten auch die Kleinen lernen, meint Wolfgang Knappe von der Patentstelle der Fraunhofer-Gesellschaft, sie müssen es sogar: "Junge Technologieunternehmen brauchen von Beginn an eine gute Patentstrategie", sagt Knappe. "Es genügt nicht mehr, wenn Gründer ihre Basiserfindungen anmelden. Sie müssen ihr angepeiltes Marktsegment durch Sperrpatente abstecken." Tatsächlich haben Jakob Edler und seine Kollegen vom Fraunhofer- Institut für Innovationsforschung gerade bei kleineren Unternehmen den Willen zu verstärkter Patentanstrengung registriert - während sie den Großkonzernen nach der Hektik der letzten Jahre nun eine Plateauphase oder gar einen Rückgang der Anmeldungen voraussagen.

Das Defizit im Umgang mit Patenten in Deutschland hat vor drei Jahren auch die Bundesregierung erkannt, und sie ergriff eine Reihe von Gegenmaßnahmen. Sie schaffte das Hochschullehrerprivileg ab, das den Dozenten die Rechte an ihren Diensterfindungen gab, das diese aber wenig nutzten: "Viele Forscher scherten sich nicht um ihr geistiges Eigentum", sagt Erfinderberater Wolfgang Knappe, "sie verwirkten es, indem sie einfach publizierten." Das Bundesforschungsministerium startete eine "Verwertungsoffensive": Eigens eingerichtete Agenturen helfen den Hochschulen beim Schutz und der Kommerzialisierung der nun ihnen zufallenden Erfindungen. In den zuständigen Ämtern ist, abgesehen vom höheren Aufkommen, wenig zu spüren vom Trend zum Patent -- man prüft dort ja nicht die Absicht des Anmelders. Mit Verfahrenstricks haben die Patentbeamten schon lange zu tun: Antragsteller formulieren ihre Ansprüche so, dass sie möglichst nur der Prüfer versteht, aber nicht die Konkurrenz. Bedeutende Neuerungen werden in unscheinbaren Patenten "versteckt".

Manche Anmelder verzögern das Prüfungsverfahren um Jahre und wollen schließlich gar kein Patent: Es genügt ihnen, Unsicherheit zu stiften ("Patent Pending"). Doch solche Trickserei stellt die Prüfer vor weniger Schwierigkeiten als die Ausweitung der Anwendungsgebiete von Patenten. Die Technisierung der Wissenschaften erfasst Disziplinen, die einst fernab der Anwendung lagen: Aus Logik und Genetik entstanden die Software-Industrie und die Gentechnologie. Das Patentwesen muss folgen, und das ist jedes Mal ein juristisches Abenteuer. Darf es Erfindermonopole auf die Nutzung von Lebewesen geben? Von Erbgut? Von Programmcode? Die praktizierten Antworten entstehen in einem Wechselspiel zwischen Anmeldern, Ämtern und Gerichten: Wenn ein Technologiebereich zur Kommerzialisierung heranreift, wächst bei seinen Vertretern das Bedürfnis nach Patentschutz. Erste Anmeldungen werden womöglich zurückgewiesen und vor Gericht geprüft, die nächsten Verfahren richten sich nach den vorigen, bis sich ein konsistenter Umgang mit der neuen Technologie herausbildet.

DER WORTLAUT DER GESETZE kann die Patentpraxis ja nicht bis in alle Einzelheiten regeln", sagt DPMA-Präsident Jürgen Schade, "schon gar nicht im Voraus." So steht zwar im Europäischen Patentübereinkommen, dass "Programme für Datenverarbeitungsanlagen nicht als Erfindungen angesehen werden" - aber nur die Programme "als solche". Wenn sie einen "technischen Effekt" erzielen, so die Auslegung durch die Gerichte, seien sie sehr wohl patentierbar. Nun soll eine EU-Richtlinie die gewundene Formulierung klarstellen, doch die aktuelle Entwurfsfassung ist im allgemeinen Gezerre noch undurchsichtiger geraten. Er frage sich auch, was sie in der Praxis bewirken würde, sagt Ingo Kober, der scheidende Präsident des Europäischen Patentamts (EPA) in München. Seine Vermutung: "Es wäre wohl kaum noch eine Computer-implementierte Erfindung patentierbar."

Am Für und Wider von Softwarepatenten scheiden sich die Meinungen der Patentexperten wie an kaum einer anderen Frage. "Sechzig Prozent unserer Forschungsausgaben fließen in die Software-Entwicklung", sagt Siemens-Manager Büttner. "Dieser Aufwand würde ohne Patentschutz erodieren." Hingegen warnen Open-Source-Anhänger, dass Softwarepatente einzig dem Kartell der Großkonzerne dienen und die Vielfalt der Branche ersticken. Dabei tut man sich schwer, aus prinzipiellen Gründen gegen Softwarepatente zu argumentieren. "Warum sollte man angewandte Software weniger schützen als Erfindungen aus anderen Gebieten der Technik?", fragt DPMAPräsident Schade. Die praktischen Nachteile von Softwarepatenten offenbaren sich in den USA, wo sie schon seit den 80er Jahren freigiebig erteilt werden. Dort haben sie mitnichten den Fortschritt vorangetrieben. Im Gegenteil: "Studien der OECD zeigen, dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zurückgingen und gleichzeitig die Aufwendungen für Rechtsstreitigkeiten wuchsen", sagt Wettbewerbsrechtler Reto Hilty.

Derweil wartet die nächste große Herausforderung auf die Münchener Ämter. "Wir werden uns mit der Patentierbarkeit von Geschäftsmethoden auseinander setzen müssen", prophezeit Jürgen Schade, "dafür ist das Kriterium des technischen Effekts nicht mehr adäquat." Wieder gibt Amerika die Richtung vor: Dort wurde bis vor sechs Jahren so gut wie kein Patent auf eine Geschäftsmethode erteilt, bis ein weich formuliertes Gerichtsurteil die Tore öffnete. "Patente auf Geschäftsmethoden werden auch in Europa kommen", sagt Max-Planck-Jurist Hilty.

Der Atlantik trennt zwei grundlegend verschiedene Patentkulturen. "In den USA herrscht ein viel umfassenderes Verständnis von geistigem Eigentum", sagt EPA-Präsident Kober. Während die europäischen Ämter darauf achten, nur technische Erfindungen mit deutlichem Neuigkeitswert zu schützen, erklärte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1980, patentierbar sei "alles Menschengemachte unter der Sonne". Offenbar nimmt das Patentamt in Washington diesen Spruch wörtlich: Es hat zahlreiche Patente mit äußerst zweifelhafter Erfindungshöhe erteilt, darunter in den letzten Jahren für ein Lasagnerezept, einen Weihnachtsmann-Melder und eine Antenne zur Übertragung von Signalen "schneller als Licht". Der Spaß hört auf, wenn solche Trivialpatente wichtige Technologiebereiche berühren - und damit zum Raubritter- tum verleiten. So behauptete die British Telecom vor vier Jahren allen Ernstes, dass eines ihrer alten Patente sich auf die Weiterleitung durch Hyperlinks im World Wide Web erstrecke, und verklagte amerikanische Internet-Anbieter auf Lizenzzahlungen. Dabei zeigt der Fall, dass Trivialpatente auch in Europa lauern: Vor dem U. S. Patent and Trademark Office hatte schon das Patentamt des Vereinigten Königreichs den Antrag der British Telecom durchgehen lassen.

FÜR DIE ÄMTER KOMMT ES DARAUF AN, tunlichst das richtige Maß an Strenge bei der Patentvergabe zu finden. "Man sollte nicht jede kleine Idee schützen", sagt einerseits Max-Planck- Direktor Reto Hilty, "sondern nur Erfindungen, die wirklich wesentliche Fortschritte bedeuten." Andererseits erinnert der Düsseldorfer Patentanwalt Helge Cohausz daran, dass "viele kleine Verbesserungen oft wertvoller sind als eine große. Wer den Rasierapparat ganz neu erfinden will, wird kaum beim Kunden landen."

Gewinnen oder verlieren Patente an Bedeutung durch all das Lizenzieren, Prozessieren und Feilschen? Es ist vielleicht zu früh für eine Antwort. Das Vorbild USA weist derzeit eher in die falsche Richtung: "Die Rechtsstreiterei hemmt den Markt", sagt IP-Experte Kevin Rivette. Wobei gerade diese Beschwerlichkeiten den Unternehmen durchaus wichtige Lektionen erteilen könnten: "Wenn man richtig mit ihnen umgeht, leiten Patente Kooperationen ein, statt sie zu zerstören." Wenn Patente zur Basiseinheit für den Rohstoff Wissen taugen sollen, müssten sich Regeln etablieren, ihren Wert zu beziffern. Damit tun sich selbst große Unternehmen schwer: Sie können zwar ihre Maschinen bewerten, nicht aber ihr Patentportfolio. Deshalb bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Patentaustausch- Abkommen "nach Stapelhöhe" zu verhandeln -- man zählt die Patente der beiden Partner schlicht gegeneinander auf. Klar, dieses Patentezählen sei eigentlich "Quatsch", räumt ein deutscher Patentmanager ein, dessen Arbeitgeber es selbst praktiziert. Denn ein gutes Patent kann tausend schlechte aufwiegen. Die Siemens'schen Mobilfunkpatente sind gehaltvoller als die Schutzrechte eines Autoherstellers an einem Scheibenwischersystem.

Zur annähernden Bezifferung von Patenten in Euro und Cent bedienen sich professionelle Patentbewerter wie die IPB in Hamburg komplizierter statistischer Methoden der Ähnlichkeitsanalyse in Patentdatenbanken. Doch womöglich könnte nur der freie Markt mit seinem Preismechanismus verlässliche Geldwerte für Patente bestimmen. "Ein Patent ist so viel wert, wie ein anderer dafür zahlt", sagt IBM-Schutzrechtsmanager Fritz Teufel.

Wie auch immer man zum Handeln und Taktieren mit Schutzrechten stehen mag - sie sind Realität, mit der umgehen muss, wer mit Technologie sein Geld verdienen will. Dabei sind Patente an sich weder Segen noch Fluch. Es verhält sich mit ihnen wie mit D-Mark und Euro: Wenn Staat und Wirtschaft die Ideenwährung vernachlässigen, vernichten sie zuerst die Ersparnisse der kleinen Leute: der jungen Forscher und Unternehmen. Bei sorgfältiger Pflege können sich Patente zur stabilen Grundlage für Wohlstand entwickeln, nicht nur im Dienst der Mächtigen.

(Entnommen aus Technology Review Nr. 6/2004) (sma)