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Schnitzel mit Charakter

Corby Kummer

Aber erst müssen wir die Sprache der Gene richtig lernen, hat der Feinschmecker Corby Kummer herausgefunden.

Stellen Sie sich einen Ernährungsplan vor, der auf die individuelle Molekülkonfiguration Ihres Körpers abgestimmt ist. Der nicht nur die Marotten und kleinen Lüste, die niemand sonst kennt, berücksichtigt (wie leicht ist es, die belastende Chips-Tüte und das Staniol einer Tafel Schokolade verschwinden zu lassen), sondern auch die Geheimnisse, die Sie selbst gar nicht kennen - Geheimnisse, die helfen können, Sie länger am Leben und gesund zu halten.

So lautet die Verheißung des jüngsten molekularmedizinischen Vorhabens, das aus dem Humangenom-Projekt hervorgegangen ist. "Nutrigenomik" - oder "Ernährungsgenetik" – betrachtet Ernährung und Gene, um zu erkennen, wie sie miteinander wechselwirken. Die Protagonisten dieser neuen Disziplin glauben, dass Nährstoffe in Lebensmitteln die Genexpression (das An- und Abschalten der Gene) in verschiedenen Menschen gemäß ihrer genetischen Veranlagung unterschiedlich beeinflussen. Das tiefe Verständnis der Verbindungen zwischen Genen, Nahrung und Krankheiten soll zu einem individualisierten Diätplan führen: Sind die Wechselwirkungen erst einmal verstanden, dann könnten Menschen geerbte Schwächen und genetische Fehler ausgleichen, indem sie sich angepasst ernähren und, wenn nötig, Nahrungsergänzungsmittel nehmen.

Wenn Gene Schicksalsträger sind, dann hat die Wissenschaft ihr Bestes getan, um in dieses Schicksal einzugreifen. Und prompt suchen Risikokapitalisten nach Wegen, die Wissenschaft in Profit umzusetzen. Das Tempo besonnener wissenschaftlicher Forschung ist plötzlich nicht mehr schnell genug, wenn Menschen bereit sind, alles dafür zu geben, die Verwüstungen des Alters aufzuhalten, wenn nicht zu überwinden. So sprießen Unternehmen, die in der Spucke von Wangenabstrichen ihrer Kunden nach genetischen Varianten fahnden und Ernährungsratschläge verteilen. Angesichts des aktuellen Forschungsstands können sich die kommerziellen Ernährungsgenomiker allerdings kaum über gewöhnliche, vernunftorientierte Ratschläge hinaus fortbewegt haben.

Kürzlich füllte ich einen Fragebogen von einer der ehrgeizigsten der neuen Firmen aus und erwartete meine Auswertung vom "Direktor für Diät und Ernährung". Die größte Überraschung daran war, dass das, was ich esse, nicht weiter besorgniserregend sei. Vielleicht passt ja meine eigenartige und unausgewogene Ernährungsweise tatsächlich gut zu meinem eigenartigen und unausgewogenen Typus.

Meine Gespräche mit mehreren Forschern brachten mich zu dem Schluss, dass Ernährungsgenomik trotz aller derzeitigen Hemmnisse einen realen Nutzen für uns haben wird. Vielleicht werde ich dann ein Einsehen haben und vermehrt fettigen Fisch essen - wie es so oft empfohlen wird –, statt weiterhin die Taschen der Nahrungsmittelergänzungsindustrie mit meinem Geld zu füllen. Doch gerade diese Branche schaut hungrig auf die Entwicklungen in der Ernährungsgenomik.

REZEPT DER GENE

Das Center for Nutritional Genomics an der University of California in Davis zählt zu den führenden Forschungszentren auf dem neuen Gebiet. Seinen Vorsprung hat es nicht nur der großzügigen finanziellen Unterstützung durch die National Institutes of Health (NIH) zu verdanken, sondern auch den Bemühungen und der Vision seines Direktors, dem Zellund Molekularbiologen Raymond Rodriguez.

Wie alle Genetiker war Rodriguez von jedem Schritt des Jahrzehnte dauernden Humangenom-Projekts fasziniert, und wie jeder schlaue Bewerber um Fördergelder versuchte er den nächsten großen Nutzen der Genom-Informationen vorauszuahnen. Die erste sowohl wissenschaftlich als auch kommerziell interessante Anwendung der Genomdaten entstand mit der Pharmakogenomik - mit der Entwicklung von auf spezielle genetische Belange zugeschnittener Medikamente (siehe TR 01/05).

Viele Forscher, unter ihnen Rodriguez, erkannten, dass man Ernährung genauso an genetische Profile anpassen kann wie Arzneimittel - die Geburtsstunde der Nutrigenomik. "Sie bringen zwei Dinge mit an den Tisch", sagt Rodriguez, ein umgänglicher Mann von mittlerer Größe und üppigem grauen Haar, "Ihren Appetit und Ihren Genotyp." Er sieht eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, die Ernährungsweise an die individuelle Genausstattung anzupassen, und behauptet, es habe beim öffentlichen Verständnis von Ernährung einen "Paradigmenwechsel" gegeben: Von der Vorstellung von Nahrung als einem Mittel zum Überleben in einer an sich feindlichen Umgebung über die Nachfrage im 20. Jahrhundert nach schmackhaftem und gesundem Essen hin zur neuen Furcht vor Mikroben, die Lebensmittelinfektionen hervorrufen, und der Suche nach Nahrung, die frei davon ist. Dazu kam es laut Rodriguez, weil es für die Menschen intuitiv nachvollziehbar sei, dass sich Nahrung auf Gene und Gesundheit auswirkt -- im Guten wie im Schlechten.

Im Jahr 2001 fragte Rodriguez seinen Kollegen Wasyl Malyj, Molekularbiologe und Informatiker in Davis, ob er interessiert wäre, auf dem Gebiet der Ernährung zu arbeiten. Malyj begann, nach geeigneten Werkzeugen zu suchen. Dabei war ihm klar, dass es so etwas wie eine "molekulare Videokamera" nicht geben würde, die ständig Daten darüber liefert, wie das ganze Genom auf ein Nahrungsmittel reagiert. Malyj und seine Kollegen würden sich mit kostspieligen und unvollständigen Schnappschüssen begnügen müssen, die sich mit den existierenden Technologien herstellen lassen. "Die meisten Forscher glauben", sagt Rodriguez, "dass ein Labor alles allein schaffen kann." Undenkbar angesichts der gestellten Aufgabe: "Wir wollten metabolische Datenbanken, genetische Datenbanken und medizinische Aufzeichnungen vernetzen." Malyj, ein bärenhafter Mann mit großer Begeisterung für das Thema, fügt hinzu: "Wir erkannten früh, dass dies multidisziplinär geschehen muss."

Der Grundstein der Ernährungsgenomik wurde von Forschern wie José Ordovas gelegt, der jetzt das Nutrition and Genomics Laboratory an der Tufts University leitet. Ordovas studiert seit Jahrzehnten die Wechselbeziehung zwischen dem Fettstoffwechsel und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zu den interessantesten Entdeckungen der letzten Jahre zählt das Gen, das den Metabolismus von "High-Density-Lipoprotein" (HDL)- und "Low-Density-Lipoprotein" (LDL)-- Cholesterin steuert. Es gibt Menschen, die können reichlich gesättigte Fette zu sich nehmen, und trotzdem wird sich das schädliche LDL-Cholesterin nicht in ihrem Blut anreichern. Bei anderen wollen die erhöhten LDL-Cholesterin-Werte partout nicht sinken, selbst wenn sie nur noch fettarm essen. Es hat sich gezeigt, dass die individuell unterschiedlichen Auswirkungen einer fettreichen Ernährungsweise teilweise vom Allel eines Gens abhängen, das in den Metabolismus des hilfreichen HDL-Cholesterins verwickelt ist; das Gen, das für das Enzym hepatische Lipase (Leberlipase) kodiert. All denjenigen, die hohe Werte des schlechten LDL-Cholesterins im Blut haben, empfiehlt Ordovas, vor allem solche Fette zu sich zu nehmen, die einen hohen Prozentsatz mehrfach ungesättigter Fettsäuren haben. Mehr könne man im Moment nicht machen. Da helfe auch ein Gentest nicht, der Gewissheit über den Status des eigenen Leberlipase-Gens bringt.

Dieses einleuchtende Beispiel steht Pate für eine Reihe von Ratschlägen, die Patienten nach einer genetischen Untersuchung mit nach Hause nehmen könnten. Aber das Leberlipase- Gen symbolisiert ohnehin nur einen Tropfen in einem See. Ordovas konnte den Effekt der Genvariante nur identifizieren, weil er Zugriff auf Daten der Framingham-Offspring-Studie hatte, einem Teil der gewaltigen und Jahrzehnte währenden Framingham-Heart-Studie, ausgeführt vom National Heart, Lung and Blood Institute, das zu den NIH gehört.

Walter Willett, Professor für Epidemiologie und Ernährung an der Harvard School of Public Health, führte in seiner Funktion als Vorsitzender eines externen Beirats des Centers in Davis eine Analyse durch. Er erklärte Rodriguez und seinen Kollegen, dass neue Beobachtungsstudien unerschwinglich teuer sein würden. Daher schlug er vor, dass die Wissenschaftler Fragebögen entwerfen sollten, die in laufende Studien integriert werden könnten. Außerdem sollten sie versuchen, von den Studienteilnehmern Blutproben zu bekommen, um ihren Genotypus bestimmen zu können. Einige Kooperationen kamen so schon zu Stande, etwa mit der University of California in San Francisco.

EINFACHE BIOMARKER

Die Untersuchung von Nährstoff-Erbgut-Wechselwirkungen machte insbesondere im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen große Fortschritte - nicht nur, weil dorthin besonders viel Geld fließt, sondern weil Biomarker für Herzkrankheiten, wie zum Beispiel HDL- und LDL-Cholesterin, gut verstanden und leicht zu messen sind. Die Forscher hoffen, mit neuen Simulationsverfahren und Algorithmen noch mehr und weniger offensichtliche Zusammenhänge aus den größeren Mengen von genetischen Informationen und Gesundheitsdaten extrahieren zu können.

Dass das schwierig wird, ist allen Beteiligten klar. Das Beispiel Krebs illustriert ernüchternd die Schwierigkeiten der Nutrigenomik: Gigantische Mengen Literatur wurden über Krebserkrankungen veröffentlicht, Milliarden wurden in die Erforschung der entarteten Zellen gepumpt -- bislang mit mageren Ergebnissen für die Ernährungsgenetik. Die Marker variieren für jede Art von Krebs, und extrem schwer erkennbare Umwelteinflüsse könnten den Krankheitsverlauf beeinflussen. Hinsichtlich Krebs, Herz-Kreislauf- und anderen Volksleiden werden die ersten Resultate der Nutrigenomik wahrscheinlich in recht allgemeine Ernährungsratschläge für große Volksgruppen münden, deren Genotypen relativ gut erforscht sind, und sich wahrscheinlich an Männer und Frauen getrennt richten.

ERNÄHRUNGSPLAN FÜR HUNDERT DOLLAR

Angesichts der vielen Unternehmen, die für ein paar hundert Dollar individualisierte Ernährungspläne auf Grundlage des Genotyps ihrer Kunden ausarbeiten wollen, äußert sich Rodriguez skeptisch. Er glaubt nicht, dass es innerhalb der nächsten zwei, drei Jahrzehnte sinnvolle, auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierende Empfehlungen geben wird, die spezifischer auf ein Individuum zugeschnitten sind als etwa: "dies sollte ein Mann mittleren Alters und kaukasischer Abstammung essen" oder "jenes ist für eine ältere asiatische Frau gut". Aber das sei ohnehin "exakt genug".

Regelrecht begeistert zeigt sich Rodriguez von einer Ernährungsstudie in Colorado. 1997 entdeckte Alfredo Galvez, ein Forscher der University of California in Berkeley, dass Lunasin, ein bioaktives Isoflavon enthalten in Soja, die Anfälligkeit für Herzerkrankungen und Krebs senkt; Lunasin scheint die Vermehrung von Tumorzellen zu unterdrücken. Diese Ergebnisse – wie so viele, die in den Medien für Aufregung sorgen – basieren auf Zellkultur-Experimenten unter künstlichen Laborbedingungen. Daher hat Kevin Dawson, leitender Informatikwissenschaftler am Davis-Center, eine Zusammenarbeit mit dem Prostate Cancer Education Council in Colorado in Gang gebracht. In diesem Bundesstaat tritt Prostatakrebs besonders häufig auf, die Datensammlungen des Councils sind daher nicht nur detailliert, sondern auch sehr umfangreich. Aus den Daten konnte Dawson herauslesen, dass täglicher Soja-Verzehr vor Prostatakrebs zu schützen scheint, auch wenn er zu bedenken gibt, dass zahlreiche weitere Faktoren eine Rolle spielen: Niemand wisse, welchen Effekt es hätte, wenn plötzlich Menschen in großen Soja Mengen essen, auf deren Speiseplan die Leguminose traditionell gar keinen Platz hat. Fürs Erste sieht daher sogar Rodriguez davon ab, allgemeine Ernährungsempfehlungen herauszugeben.

Einigen wohlhabenden Yuppies geht die Entwicklung nicht schnell genug. Für sie haben zweifelhafte Unternehmen Ernährungs-Services ersonnen, die in manchen Kreisen schon als Statussymbole durchgehen, obwohl sie sich kaum von den neuesten Empfehlungen der American Heart Association unterscheiden. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Idee in einem sehr kleinen und sehr gesundheitsbewussten Segment der Bevölkerung immer populärer wird.

Im "Home Testing" sieht Rodriguez indes die Zukunft: "Der Trend sind schnellere, bessere, kostengünstigere Wegwerftests für zu Hause." Optimisten gehen davon aus, dass die Zahl der Gene, die sich verlässlich und preiswert prüfen lässt, in den nächsten zehn Jahren auf über fünfhundert steigen wird. Kunden könnten die dann einfach per Genchip-Analyse beim Gesundheitsberater testen lassen. Wenn sich die American Dietetic Association durchsetzt, dann werden diese Berater professionelle Diätassistenten sein und nicht etwa Ärzte. Tausende neue Arbeitsplätze könnten so entstehen. Im April erschien im Mitteilungsblatt dieser in den USA 65 000 Mitglieder zählenden Fachgesellschaft ein Übersichtsartikel, der schlussfolgerte, dass die Zahl von geprüften Beratern begrenzt sei und ein erhöhter Bedarf bestehe. Ich selbst hatte die Unterlagen der Beratungsfirma Sciona ausgefüllt, die auf ihrer Webseite "professionelle genetische Untersuchung" verspricht, die es erlaube, "wichtige Gesundheitsentscheidungen" nicht auf Moden und Trends, sondern auf der eigenen "inneren Geschichte" zu begründen. Für mehrere hundert Dollar erhält man dort einen Befund, der auf einem ausführlichen Ernährungsfragebogen beruht und auf der Analyse eines Wangenabstrichs, in dem 19 Gene untersucht werden. Ich freute mich schon darauf, einen Diätassistenten mal so richtig zu entsetzen.

Yael Joffe jedoch, die Diätberaterin, die auch den Sciona- Fragebogen mit entwickelt hat, war einfühlsam und freundlich. Gelassen bewertete sie meine Ernährungsweise, die recht fleischarm ist (außer wenn ich ein ganzes Menü durchprobiere, so wie ich es ein paar Mal im Monat als Restaurantkritiker tun muss), aber außerordentlich reich an Zucker.

WETTE AUF DIE GESUNDHEIT

Sciona untersucht lediglich 19 Gene, deren Variationen zu bestimmten Diätempfehlungen führen. Daher liefert ihr Befund keine allgemeingültige Bewertung der Gesundheit, erklärt Joffe. Der Schwerpunkt ihrer Beratung lag auf der Gesundheit des Herzens, der Knochen, Entzündungen, Entgiftung und oxidativem Stress. Meist stimmten ihre Ratschläge mit dem überein, was einem der gesunde Menschenverstand ohnehin empfiehlt: Möglichst viele frische, naturbelassene Lebensmittel und nur im Falle von bestimmten genetischen Varianten Nahrungsergänzungsmittel.

Das alles hat freilich noch nichts mit einer individuell maßgeschneiderten Ernährung zu tun, wie sie die forschen Protagonisten der Nutrigenomik versprochen haben. Bis es so weit ist, wird noch einige Zeit vergehen. Trotzdem bin ich nun bereit, nach dem zu handeln, was Ray Rodriguez als Pascals Wette bezeichnet. Blaise Pascal, französischer Wissenschaftler und Philosoph des 17. Jahrhunderts, argumentierte sinngemäß: Wenn Gott existiert, und wir glauben nicht an ihn, droht uns die Verdammnis. Wenn wir aber an Gott glauben, ohne dass er existiert, so hat das keine negativen Konsequenzen. Also sei es vernünftig, an Gott zu glauben. Wenn Körner am Morgen und Sardinen aus der Dose zum Mittag mir ein längeres und gesünderes Leben bescheren sollen, dann versuche ich, das zu mögen. Schaden tut es mir sicherlich nicht.

(Entnommen aus Technology Review Nr. 9/2005 [1]; das Heft können Sie hier [2] bestellen. (wst [3])


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