Schule digital: Was Digitalität (für die Schule) bedeutet

Weite Teile der Gesellschaft sind in der Digitalität angekommen, während Schulen am Anfang der Digitalisierung stehen. Lars Mecklenburg erklärt, was das heißt.

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Schule digital: Was Digitalität (für die Schule) bedeutet

(Bild: Ulza/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Lars Mecklenburg
Inhaltsverzeichnis

Die Digitalisierung der Bildung wird seit Jahren angemahnt, durch die Coronavirus-Pandemie hat diese Forderung aber eine ganz neue Dringlichkeit erhalten. Damit Kinder nicht davon abhängig sind, wie fit ihre Eltern, Schulträger und Lehrer:innen sind, müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine möglichst große Teilhabe schaffen.

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Bildungseinrichtungen also umgesetzt werden? Wie ist es bisher gelaufen? Welche Tools und Ausstattungen haben sich schon bewährt, welche dürften und sollten kommen? Und wie könnte die Schule – nach einem großen Digitalisierungsschub – in einigen Jahrzehnten aussehen? Unsere Artikelserie "Schule digital" möchte diese Fragen weiter beleuchten.

Ein neuer Begriff findet Verbreitung: Digitalität. Verkürzt bedeutet er: Digital ist normal. Digitalität ist heute. Digitalisierung war gestern.

Wesentliche Bereiche unseres Lebens wurden digitalisiert. Folgerichtig sind sie heute digital: Wir leben in einer digitalen Welt, digitalen Gesellschaft, digitalen Kultur. Wer das hier liest, ist Teil dieser Kultur.

Die Rede von der Digitalisierung erscheint demgegenüber wie eine Rückdatierung des eigenen Denkens. Der Begriff wirkt zunehmend verbraucht und leer. Was soll es heißen, dass unsere Welt "zunehmend digitalisiert" ist? Unsere Lebenswelt ist längst digital. Der Prozess der Digitalisierung ist gewiss nicht abgeschlossen, viele weitere Entwicklungen werden noch auf uns zukommen. Aber es wurde ein Punkt erreicht, um berechtigt zu sagen: Unsere heutige Lebensweise ist digital.

Sprachlich sind sich Digitalisierung und Digitalität sehr nah, inhaltlich drücken sie zwei verschiedene Perspektiven aus. Der Begriff der Digitalisierung ist klar. Er ist von einer technischen Denkweise und dem Dualismus von Analogem und Digitalem geprägt. Mittels technischer Errungenschaften wird Analoges in Digitales umgewandelt.

Der neue Begriff der Digitalität nimmt hingegen einen anderen Blick ein und löst sich von der technischen Perspektive auf das Digitale. Er betrachtet das Digitale stärker im Verhältnis zum Menschen. Als wir Geräte, Computer oder Mobiltelefone in unsere Lebens- und Handlungsräume integriert haben, blieb das vielleicht am Anfang noch etwas Äußerliches. Doch vor allem mit der selbstverständlich werdenden Nutzung des Internets haben wir das Digitale tief in unsere Lebens- und Denkweise integriert.

Artikelserie "Schule digital"
Lars Mecklenburg

Foto: Andreas Hornig (hornig-foto.de)

Lars Mecklenburg ist Philosoph und Programmierer. Seit über 20 Jahren konzipiert und entwickelt er Lehr- und Lernmedien. Seine Entwicklertätigkeit reicht zurück bis ins Zeitalter von Multimedia-CDs und Beilagen zu Lehrbüchern. Mit den prämierten Mobile-Apps "KlangDings" und "BandDings" erschloss er sich die speziellen Usability-Bedingungen, unter denen Kinder digital handeln (noch vor dem Lesenlernen). Derzeit entwickelt er eine Grundschul-App für Mathematik (MatheLab Berlin) in Kombination mit einer an Openness orientierten Bildungsplattform (Codelab Berlin). Sein philosophisches Nachdenken und die Entwicklertätigkeit verbindet er in Artikeln vor allem auf Medium. Mehr vom Autor: Twitter @LarsMecklen, Medium @LarsMecklenburg

Das digitale Leben ist so normal geworden, dass es die bisherige Lebensweise nur mehr für kurze Ausstiege oder Aussteiger gibt. Und dabei darf nicht vergessen werden: Dieses "bisherige" Leben haben viele gar nicht mehr kennengelernt, weil der digitale Wandel bereits seit Jahrzehnten abläuft. Auch wenn es uns Unbehagen bereiten sollte, dies ist eine Entwicklung, die nicht umkehrbar ist.

Vereinzelte Lebensbereiche haben es geschafft, sich bis heute an der Digitalisierung vorbeizumogeln. Vor allem die Schule. Nur punktuell ist der Wandel dort erfolgt. Doch zur Schule später.

Der Begriff der Digitalität ist eine Wiederbelebung des Nachdenkens über das Digitale. Oder vielleicht besser ein Neuansetzen, weil das alte Denken in eine Sackgasse geraten ist. In diesem Begriff drückt sich sowohl aus, dass die Digitalisierung in vielen Punkten längst erfolgt ist, als auch, dass es einen Bedarf dafür gibt, diese Veränderung nicht nur auf das Verlegen von Kabeln zu reduzieren.

Was bedeutet es, dass wir ein digitales Leben führen? Wir selbst als Lebewesen sind ja nicht digital. Aber welcher Aspekt von unserem Leben ist es dann? Dafür braucht es eine klärende Antwort, die nicht bloß in einer offensichtlichen Beobachtung besteht.

Entscheidend ist, dass die Integration des Digitalen nicht an einer äußerlichen Stelle stattfand, sondern im Zentrum unseres Zusammenlebens: Das Digitale ist eine zusätzliche Art und Weise geworden, wie wir miteinander als Menschen kommunizieren. Digitalität beschreibt also eine Form der Kommunikation, die neben die vorhandenen Formen getreten ist – vor allem die mündliche (Oralität) und schriftliche Sprache (Literalität), welche wiederum in die Digitalität integriert werden.

Das gesamte menschliche Zusammenleben beruht auf Kommunikation. Gesellschaft in allen Bereichen entsteht über kommunikative Prozesse. Alles, was wir als Kultur kennen, ist Ergebnis von kommunikativen Aushandlungsprozessen. Unsere Identität, unser Besitz, unsere Arbeit, selbst unser Intimleben. Kommunikation ist der Grundbegriff von Kultur und damit auch des Menschseins.

Und diese Kommunikation hat sich im Zuge der Digitalisierung verändert. Wie selbstverständlich steht uns heute die digitale Kommunikation via Internet als eine zusätzliche Form zur Verfügung. Vor kurzem war etwa zu lesen, dass sich "die europäischen Gesundheitsminister digital getroffen haben". Man sieht daran, wie die veränderte Lesart längst zum allgemeinen Sprachgebrauch geworden ist. "digital" beschreibt hier nicht eine Technik, sondern die Form der Kommunikation. Die dabei verwendete Technik ist aus dem Blick genommen, sie ist selbstverständlich.

Explizit gemacht wurde dieser begriffliche Wandel von Felix Stalder in seinem Buch "Kultur der Digitalität". Stalder gilt allgemein als Vordenker des Digitalitätsbegriffs. Er ist damit der Initiator einer fruchtbaren und neuen Denkweise des Digitalen. Das sollte sich insbesondere die Schule bei ihrer noch immer anstehenden Digitalisierung zunutze machen.

Für die Schule tut sich mit den Begriffen der Digitalisierung und Digitalität ein Spannungsverhältnis auf. Während weite Teile der Gesellschaft in der Digitalität angekommen sind, steht Schule noch am Anfang der Digitalisierung. In der Breite betrachtet ist die Digitalisierung der Schule gleich zu Beginn stecken geblieben. Das gilt zunächst einmal für die technische Infrastruktur. Vielleicht noch schwerwiegender aber ist, dass auch die Denkweise im Schema der Digitalisierung hängen geblieben ist.

Es ist heute dringend nötig, dass in der Schule die Denkweise der Digitalität aufgenommen wird. Hilfreich ist dabei, dass eine eher irrationale Stimme endlich ihre Bühne verloren zu haben scheint. So gab es bis zur Coronakrise mit dem Hobby-Didaktiker Spitzer einen Vertreter, der sich mit allen Mitteln dafür einsetzte, die Schule auf keinen Fall zu digitalisieren. Er forderte die 0 Promillegrenze für die Digitalisierung an Schulen. Das genaue Gegenteil verkündet derzeit eine ganz andere Stimme: Der Startup-Jäger Frank Thelen sagt prophetisch voraus, dass die Zukunft der Bildung zu 100 Prozent digital sei.

Man sollte sich nicht täuschen lassen und in dieser Gegenüberstellung jeweils Rück- bzw. Fortschrittlichkeit sehen. Denn beides sind Positionen, die fest in der Denkweise von Digitalisierung verankert sind. Es sind Positionen zur Selbstprofilierung. Sie spielen mit Ängsten und instrumentalisieren auf verwandte Weise Vergangenheit und Zukunft.

Die Perspektive der Digitalität ist demgegenüber aufklärend: Sie ist um eine Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses im Zuge der Digitalisierung bemüht. Und sie hat eine vermittelnde Wirkung, wenn das Analoge gegen das Digitale ausgespielt werden soll. Das will ich im Folgenden an einem Begriff erläutern, um den sich Schuldiskurse häufig drehen – den Begriff der Medien.

Zuerst eine scheinbar veraltete und dennoch aktuelle Frage: Wie kann die Digitalisierung in der Schule aussehen? Als sie vor Jahren aufkam, fehlten die heutigen Antwortmöglichkeiten. Die damalige Antwort war (sofern nicht ablehnend): digitale Lernprogramme. Diese sollten als Ergänzung zu analogen Lernmaterialen eingesetzt werden. Im Schema dieser Antwort werden bis heute die meisten Diskussionen geführt: Wenn es erprobte analoge Lernmaterialien und zusätzlich "neue" digitale Lernmedien gibt, wann sollen letztere eingesetzt werden?

Der Streit zwischen dem analogen und dem digitalen Lager ist vorprogrammiert.

Die Denkweise der Digitalität sieht anders aus: Wir haben verschiedene Formen, um miteinander zu kommunizieren. Mündliche, schriftliche, mediale (Fotos, Videos etc.) und neuerdings auch digitale. Für alle diese Formen gelten unterschiedliche Bedingungen. Diese schaffen damit zugleich unterschiedliche Möglichkeiten: Mündlich geht nur bei gleichzeitiger Anwesenheit. Schriftlich geht auch ohne Anwesenheit, hat aber dann das Problem der fehlenden Rückfragemöglichkeit.

Digitale Kommunikation mischt diese Bedingungen komplett durch. Sie ist digital-schriftlich und lässt trotzdem unmittelbare Rückfragen zu. Sie ist digital-mündlich und lässt räumliche Getrenntheit zu. Noch viele andere Kombinationen sind digital möglich, vor allem in Kombination mit medialen Formen wie Foto, Video und Funktionalitäten einzelner Anwendungen wie Likes oder Memes. Zusammengefasst bedeutet digitale Kommunikation in der Schule weniger Beschränkungen und eine schier unglaubliche Vielzahl von neuen Möglichkeiten, um kommunikativ zu interagieren.

Lernen ist Kommunikation. Ein Schulbuch, ein Arbeitsblatt sind genauso Formen der Kommunikation wie das Unterrichtsgespräch oder die Korrektur einer Arbeit. Wenn das Arbeitsblatt nicht "ansprechend" ist, schlägt Kommunikation schnell fehl. Das muss nicht unbedingt an demjenigen liegen, der die formularhaften Lücken auszufüllen hat. Stellen Formulare tatsächlich ein adäquates Muster dar, um mit Kindern über Inhalte zu kommunizieren? Sind sie nicht schon immer aus einer Not heraus geboren, weil es nicht möglich war, anders zu kommunizieren? Ich kann jedes Kind nachvollziehen, das beim Ausfüllen von Arbeitsblättern nach lebendiger Kommunikation zu Mitschüler:innen Ausschau hält.

Die Unterscheidung von analogen und digitalen Medien wird in der Perspektive der Digitalität komplett unwichtig. Kommunikation ist immer auf Gelingensbedingungen ausgerichtet, nicht auf eine analoge oder digitale Verfasstheit ihrer Form.

Wenn man es aus alter Gewohnheit nicht lassen will, von Medien zu sprechen, dann sollte man eine andere Unterscheidung diskutieren, die der Denkweise der Digitalität viel mehr entspricht: Es gibt zentrale und dezentrale Medien. Ein zentrales Medium ist beispielsweise die klassische Tafel. Auch ein Smartboard ist ein zentrales Medium und zu Recht wurde der Fortschritt dieser Art von Digitalisierung angezweifelt.

Für dezentrale Medien ist charakteristisch, dass sie eine individuelle Anpassung ermöglichen. Das Internet mit seinen Möglichkeiten zur Nutzung von Algorithmen kann in diesem Sinn als ein sehr dezentrales Medium verwendet werden. Aber auch viele traditionelle Lernmaterialien sind dezentral. Beispielsweise entsteht in der Nutzung eines Multiplikationsbretts (ein Holzbrett entworfen nach Maria Montessori) eine individuelle Lernsituation. Im Verlauf der eigenen Aktivität verändert sich das Lernmaterial und ermöglicht damit individuelle Einsichten.

Die Frage, ob etwas analog oder digital ist, tritt mit der Unterscheidung in zentrale und dezentrale Medien zurück – genau wie in der Denkweise der Digitalität. Ein dezentrales Medium zu sein, ist häufig ein Vorteil von digitalen Medien, aber kein Alleinstellungsmerkmal. Wie die Denkweise der Digitalität überwindet die Unterscheidung von zentralen und dezentralen Medien den digitalen Dualismus.

Das Nachdenken über Digitalität lässt uns die grundsätzlichen Bedingungen in den Blick nehmen, unter denen am Lernort Schule kommunikativ gehandelt wird. Die Denkweise der Digitalität vergegenwärtigt, dass Schulentwicklung viel darin besteht, an den Bedingungen gelingender Kommunikation zu arbeiten. Ob diese Kommunikation analog-mündlich, analog-schriftlich oder digital-mündlich und digital-schriftlich erfolgt, das macht in einer digitalen Kultur keinen grundsätzlichen, sondern eher einen praktischen Unterschied. Erhebliche Probleme macht es dagegen (und das hat die Coronakrise deutlich gemacht), wenn Schule meint, sich aus der digitalen Kultur heraushalten zu können.

Zu unserer Serie "Schule digital" finden Sie auch diese Beiträge:

(kbe)