Sensoren als Schutzengel

Kleine Hightech-Assistenten, die sich fast unsichtbar in Kleidung, Gegenstände oder direkt in unseren Körper einfügen, sollen in allen Lebenssituationen über uns wachen.

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  • Ulrich Pontes
Inhaltsverzeichnis

Kleine Hightech-Assistenten, die sich fast unsichtbar in Kleidung, Gegenstände oder direkt in unseren Körper einfügen, sollen in allen Lebenssituationen über uns wachen.

Das Pflichtenheft des Projekts liest sich fast so, als hätte ein Nutzer aktueller Smartphones seine Wünsche aufgeschrieben: Nie mehr darf der Akku aufgeben, das Gerät soll nichts wiegen und so beschaffen sein, dass es nicht verloren gehen kann. Alles möge perfekt funktionieren, ohne dass etwas konfiguriert werden muss. Und die Daten sollen bitte sicher sein.

All jenen, die sich ob der von solchen Zielen weit entfernten Realität immer wieder die Haare raufen, dürfte das Projekt "Guardian Angels" (GA) wie ein Paradiesversprechen erscheinen. Jedenfalls wenn man die Vision der Initiatoren für bare Münze nimmt: Winzige Hightech-Assistenten, die in allen Lebenssituationen helfend und schützend zur Seite stehen, dabei unauffällig und eigenständig funktionieren – also weder Anforderungen an Bedienfähigkeiten stellen noch nach Steckdosen oder anderen Anschlüssen verlangen.

Die Guardian Angels sind das vierte von insgesamt sechs großen Projekten, mit denen sich Forscherkonsortien in der EU für eine zehnjährige Förderung bewerben. Zwei der besten Konzepte werden im Frühjahr 2012 von der Europäischen Kommission prämiert und mit jeweils einer Milliarde Euro unterstützt.

Was genau die Schutzengel können sollen, zeigt der Werbefilm fürs Projekt: Bei Diabetes-Kranken haben Guardian Angels ständig den Blutzuckerspiegel im Blick, bei herzschwachen Senioren oder auch bei Neugeborenen überwachen sie Vitalparameter wie Herzschlag und Atmung. Jogger werden darin unterstützt, ihr Herz-Kreislauf-System optimal zu trainieren. Allergiker werden um die schlimmsten Pollenwolken herumgelotst, und falls man an der nächsten Kreuzung auf Kollisionskurs mit einem Auto geraten, wird dessen Fahrer vorgewarnt. Beim Börsenmakler könnten Guardian Angels Alarm schlagen, wenn seine Emotionen mit ihm durchgehen und er Gefahr läuft, unangemessen riskante Geschäfte einzugehen.

Dem GA-Projekt geht es also weniger um die nächste oder übernächste Generation mobiler Kommunikationselektronik als vielmehr um eine Ergänzung unserer Sinneskanäle. "Stellen Sie sich vor, Sie bekommen Echtzeitdaten geliefert, maßgeschneidert für Ihre Bedürfnisse. Stellen Sie sich vor, ein digitaler Assistent hilft Ihnen, gerade wenn die Situation schwierig und gefährlich wird", schwärmte Christofer Hierold, Professor für Mikro- und Nanosysteme an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), auf einer Konferenz Anfang Oktober.

Den Erregungszustand etwa eines Börsenhändlers zu erfassen, sei keine Science-Fiction, urteilt Klaus-Hendrik Wolf, Experte für assistierende Gesundheitstechnologien am Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik in Braunschweig. Es sei grundsätzlich belegt, dass sich aus physiologischen Parametern wie Schwitzen, Unregelmäßigkeiten im Herzschlag sowie einer Stimmanalyse auf den emotionalen Zustand schließen lasse. "Emotionale Mensch-Maschine-Schnittstellen sind ein aktuelles Forschungsfeld, gar nicht so sehr Zukunftsmusik, wie man als Laie vielleicht denkt."

Im Prinzip seien viele Anwendungsideen des Projektes bereits heute mit einem Smartphone und entsprechenden Sensoren umsetzbar, sagt auch Hierold. Zusammen mit dem Nanoelektronik-Spezialisten Adrian Ionescu von der École Polytechnique Fédérale in Lausanne koordiniert er das GA-Projekt. Und als wären ihre Ziele nicht schon ehrgeizig genug, haben sich die Forscher auch noch "Zero Energy" auf die Fahnen geschrieben, weshalb das Projekt auch weit über die Anwendung in Guardian Angels hinaus Relevanz besitzt. Ziel sei es, dass die kleinen Engel die benötigte Energie aus der Umgebung gewinnen – aus Licht, Wärmeunterschieden, Vibrationen und Radiowellen, erklärt Hierold.

Bis dahin sind aber noch riesige Fortschritte nötig. Und zwar nicht nur bei der Effizienz von geeigneten Energiesammlern wie Solarzellen oder piezoelektrischen Materialien, die Krafteinwirkung in Strom umwandeln können. Auch am Energieverbrauch muss geschraubt werden, und zwar dramatisch. Um den Faktor 1000 hoffen die Forscher den Energiehunger von Sensoren, Recheneinheiten und drahtloser Übertragung jeweils zu senken, verglichen mit heutiger Standardtechnik.

Dabei gehe es nicht um reines Wunschdenken, betont der Ingenieur: "Wir haben auf Grundlage der Physik abgeschätzt, wie viel eingespart werden kann." So sei es ein Unterschied, ob man ein frei programmierbares Vielzweckgerät wie ein Smartphone baue, das noch dazu über weite Strecken senden muss, oder spezialisierte Nano-Messgeräte, die sich zu einem drahtlosen Körpersensor-Netzwerk zusammenschließen und nur ein paar Meter weit funken müssen. Aber auch unter dieser Prämisse bleibt die Herausforderung groß. Im Projekt Guardian Angels sollen deshalb neuartige Materialien und Bauteile zum Einsatz kommen und neue physikalische Konzepte getestet werden.

Dazu gehört zum einen die Sensorik: Hierold berichtet von den herausragenden mechanischen und elektronischen Eigenschaften von Kohlenstoff-Nanoröhrchen. Weil sie fast nur aus Oberfläche bestehen, seien sie ideale Kandidaten, um etwa bestimmte Moleküle ihrer Umgebung zu detektieren. Allerdings stellen Nanosensoren Ingenieure vor ungewohnte Probleme. So sind aufgrund der geringen Größe vergleichsweise wenige Ladungsträger am Messvorgang beteiligt. Statistische Schwankungen in deren Verhalten könnten sich deshalb in den Messergebnissen bemerkbar machen – "das Signal verrauscht". Eigentlich ein No-Go: Für präzise und reproduzierbare Messungen hat das Signal nach gängiger Ingenieursweisheit so groß zu sein, dass Rauschen nicht ins Gewicht fällt. Doch dieses Paradigma vom großen Rauschabstand sei einer der Grundsätze, die man für die Guardian Angels wohl opfern müsse, sagt Hierold – und betont, dass auch dafür die Natur als Vorbild dienen könne. Das menschliche Gehör etwa zeige, dass Detektion auch nahe am Rauschlimit sinnvoll und möglich sei.

Wichtig ist auch das Daten-Handling: Um Energie zu sparen, muss bei der Anzahl der zu übertragenden Bits und Bytes geknausert werden. Aus dem gleichen Grund verbieten sich aber auch rechenintensive Kompressionsmethoden, wie sie etwa jede Digitalkamera nutzt, wenn sie viele Megabytes an Rohdaten in eine vergleichsweise platzsparende jpg-Bilddatei umrechnet. Einen Ausweg aus dem Dilemma versprechen sich die GA-Forscher von einer als "compressive sensing" bezeichneten Methode. Dabei wird das Signal nicht erst komplett digitalisiert und dann komprimiert, sondern es wird von vornherein ein reduzierter Datensatz aufgenommen.

Ein Beispiel: Klaviermusik kann man (wie jedes Geräusch) digitalisieren, indem man zigtausendmal pro Sekunde die Amplitude der Schallwelle abtastet. Man könnte sich aber prinzipiell auch ein Gerät vorstellen, das durch geeignete Frequenzfilter nur erfasst, wann welche Taste angeschlagen wurde. So würde eine sehr viel geringere Datenmenge anfallen, aus der sich das Stück trotzdem rekonstruieren ließe. Dass dieses Prinzip auch im Einsatzbereich der Guardian Angels hilfreich sein kann, demonstrierte kürzlich die ebenfalls am Projekt beteiligte Gruppe von David Atienza in Lausanne: Die Forscher zeigten, dass sich per "compressive sensing" die Daten eines Elektrokardiogramms mobil, energiesparend und in Echtzeit auf ein Smartphone übertragen lassen.

Wenn auf diese Weise alle Teile und Ebenen des Systems, vom Sensor über den Transistor und die Rechnerarchitektur bis zur Software, aufeinander und auf den jeweiligen Einsatzzweck abgestimmt werden, hält auch Jörg Henkel das Vorhaben des "Guardian Angels"-Konsortiums für prinzipiell machbar. "Ambitioniert, aber nicht unrealistisch" sei der Zeitrahmen von zehn Jahren, ergänzt der Low-Power-Experte vom Karlsruhe Institute of Technology. Ob am Ende ein Faktor 100 oder 1000 bei der Verbesserung der Energieeffizienz stehe, hänge "von Entwicklungen ab, die zurzeit schwer vorauszusehen sind".

Die vielfältigen Ansätze bringen jedoch eine weitere Herausforderung mit sich: die schiere Komplexität. Die Forscher dringen in einen Bereich vor "jenseits dessen, was an Systemkomplexität bisher erreicht wurde", sagt GA-Vordenker Ionescu. Deshalb wird die Latte während der zehnjährigen Projektlaufzeit auch nur schrittweise angehoben: Die erste der etwa dreijährigen Phasen zielt auf einzelne physiologische Parameter individueller Patienten. Phase zwei erweitert den Fokus auf die Umwelt, sodass auch räumlich getrennte Guardian Angels kommunizieren müssen. Im letzten Schritt schließlich steht die komplette Systemintegration an. Damit soll es auch möglich werden, emotionale Daten zu erfassen, die das Zusammenspiel vieler einzelner Sensoren voraussetzen.

Spätestens wenn das gelingt, dürften auch die größten Transparenzverfechter fragen, wie denn sichergestellt werde, dass all diese Daten nur mit Einwilligung der Betroffenen erhoben und genutzt werden. Der großen gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Projekts seien sich die Macher aber bewusst, beteuert ETH-Ingenieur Hierold und ergänzt: "Auch Fehlerfreiheit und Zuverlässigkeit sind wichtige Themen. Stellen Sie sich nur vor, was passiert, wenn Sensoren neben einem großen Industriebetrieb eine unberechtigte Umwelt-Sicherheitswarnung aussenden."

Um Akzeptanz zu schaffen, plant das GA-Konsortium Diskussionsprozesse mit den involvierten gesellschaftlichen Gruppen. Auch seien Technikfolgen- und Ethikexperten von Konsortiumspartnern in das Gesamtprojekt eingebunden. Und schließlich liege die letzte Verfügungsgewalt immer beim Nutzer. Denn – auch wenn sich das bei energieautarken Nanosensoren nicht ohne Weiteres von selbst versteht: "Wir werden dafür sorgen, dass die Systeme einen Ausschaltknopf haben." (bsc)