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Streit um Darwin

Peter Monnerjahn

Die Diskussion um die Behandlung der biblischen Schöpfungslehre im Biologie-Unterricht ist nun auch in Deutschland angekommen. Doch der Streit geht am eigentlichen Thema vorbei.

Es liegt in der Natur des Menschen, Fehler in anderen Menschen gerade dann mit einer gewissen Genugtuung zu sehen, wenn diese anderen eine Vorbildfunktion haben – kein Tag vergeht, an dem Boulevardzeitungen an dieser Tatsache nicht gutes Geld verdienen. So schauen wir nicht selten auf die einzig verbliebene Weltmacht USA und sehen mit einem Anflug klammheimlicher Freude, dass nicht weniger als die Hälfte der US-Amerikaner einer wörtlichen Interpretation der Bibel anhängt [1], die Existenz der Erde samt ihrer Bewohner einem göttlichen Schöpfungsakt zuspricht und fest glaubt, sie sehe nicht einen Tag älter aus als 6012 Jahre.

Die relative Überlegenheit unserer Bildungskultur in Fragen der Evolution wird allerdings nicht nur aufgrund einschlägiger Umfrageergebnisse [2] hinterfragt werden müssen. Im Herbst 2006 zeigte der Film "Von Göttern und Designern", dass zumindest an zwei Gießener Privatschulen bereits nach Lehrbüchern aus kreationistischer Feder unterrichtet wird. Damit nicht genug: Die hessische Kultusministerin Wolff will sich zwar vom Kreationismus als solchem ausdrücklich distanzieren, kommentierte aber den Gießener Unterricht gegenüber der dpa mit folgenden Worten: "Ich halte es für sinnvoll, fächerübergreifende und -verbindende Fragestellungen aufzuwerfen, dass man nicht einfach Schüler in Biologie mit der Evolutionslehre konfrontiert und Schüler im Religionsunterricht mit der Schöpfungslehre der Bibel, sondern dass man gelegentlich auch schaut, ob es Gegensätze und Konvergenzen gibt." In einem weiteren Interview [3] mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im Juni 2007 sieht die Ministerin dann eine "erstaunliche Übereinstimmung" zwischen der biblischen Schöpfungsgeschichte und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in einem "modernen Biologie-Unterricht" auch eine Rolle spielen sollten – als nur ein Beispiel für "eine neue Gemeinsamkeit von Naturwissenschaft und Religion".

Die Reaktion auf Wolffs Ideen folgte schnell und vorhersehbar: Der Verband deutscher Biologen [4] wird vornehmlich damit zitiert [5], Wolff falle auf "Taschenspielertricks der Kreationisten" herein. Unterstützung [6] erhält Wolff vom Augsburger Bischof Mixa und sogar vom sonst eher unorthodoxen Theologen Hans Küng [7], die in der "Leipziger Volkszeitung" respektive im "Deutschlandradio Kultur" zitiert werden, die "Fixierung auf die Evolutionstheorie" habe "etwas Totalitäres" (Mixa) beziehungsweise die Frage nach Gott und einer Schöpfung direkt als unsinnig abzulehnen, sei eine dogmatische Behauptung, die nicht akzeptiert werden dürfe (Küng).

Bloß: Wer hat jetzt Recht? Die einschlägige Berichterstattung ist bei dieser Frage keine große Hilfe, lässt bestenfalls der einen oder anderen Seite das letzte Wort. Denn alles, was wir sehen, ist, dass die eine Seite sagt: "Wir haben die Fakten, die anderen nur Mythen"; und die Gegenseite retourniert: "Wir bieten bloß Alternativen, die anderen sollen bitteschön nicht so dogmatisch sein und Denkverbote aussprechen". Doch weder ist die Diskussion so einfach, noch erlaubt es diese Darstellung, sich ein unabhängiges, also selbstständiges, kritisches Bild zu machen. Der erste Schritt dorthin ist die Sammlung relevanter Fakten.

Zunächst gilt es, die verwendete Terminologie zu klären. Wenn Termini wie "Theorie", "Tatsache" oder "Wissenschaft" gebraucht werden, empfiehlt es sich klarzustellen, was genau mit diesen Begriffen gemeint sein wird. "Theorie" und "Tatsache" beschreiben, wie der Harvard-Professor Stephen J. Gould in einem vielzitierten Essay [8] erläutert, nicht einen unterschiedlichen Grad an Sicherheit des Wissens, sondern sie sind grundverschiedene Dinge: Tatsachen sind Daten, die wir über die Welt sammeln; Theorien sind Strukturen, die die gesammelten Daten erklären und interpretieren. Dass Kontinente auseinanderdriften, ist eine Tatsache; die Theorie der Plattentektonik gibt dazu eine mögliche Erklärung. Dass Massen einer gegenseitigen Anziehungskraft unterliegen, ist eine Tatsache; sowohl Newton als auch Einstein haben diese Tatsache mit ihren Theorien erklärt. Ebenso ist die Veränderlichkeit und gemeinsame Abstammung biologischer Arten eine Tatsache; Darwins Natürliche Auslese ist eine Theorie, die diese Tatsache erklärt.

Wissenschaftliche Tatsachen beschreiben darüber hinaus keine absoluten Sicherheiten. "Letzte Wahrheiten" sind die Sache der Wissenschaft nicht, wie Gould sagt: dass etwas eine "Tatsache" ist, könne nur bedeuten, dass es so umfangreich belegt ist, dass es irrational wäre, es nicht vorläufig als wahr anzunehmen. Eine wissenschaftliche Theorie ist in der Definition des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper [9], die vielen Naturwissenschaftlern seit über 50 Jahren als Goldstandard der Wissenschaft gilt, eine Erklärungsstruktur, die prinzipiell widerlegbar sein muss, Vorhersagekraft hat und und bestimmte Ereignisse ausschließt. Jeder Test, jede Überprüfung einer Theorie hat also ein rigoroser Versuch zu sein, sie zu falsifizieren. Je restriktiver, je spezifischer eine solche Theorie ist, als desto besser wird sie angesehen – denn umso einfacher ist es, sie zu widerlegen. Hält sie wiederholt ernsthaften Versuchen stand, sie zu widerlegen, gewinnt sie erst an Vertrauen. "Wissenschaft", zu guter Letzt, kann definiert werden als die durch Beobachtung der realen Welt geführte Suche nach Gesetzmäßigkeiten in eben dieser Welt.

Konkret bedeutet dies für wissenschaftliche Theorien zum Beispiel: Mendeleevs [10] Theorie über die Periodizität der chemischen Elemente hat konkrete Vorhersagen gemacht, welche Elemente an bestimmten Stellen des von ihm entdeckten Periodensystems gefunden werden würden, bevor man irgendwelche Belege für ihre Existenz hatte; und Elemente, die Mendeleevs Regeln verletzen, dürfen nicht gefunden werden – sonst ist seine Theorie hinfällig oder müsste wenigstens revidiert werden. Ebenso macht die Darwinsche [11] Theorie von der Natürlichen Auslese [12] bestimmte Vorhersagen: Evolution muss zum Beispiel für Veränderungen einer Generation mit den Körperstrukturen der Vorgängergeneration arbeiten, komplexe Strukturen müssen also Vorläufer haben. Auf der Speziesebene würde das bedeuten: Wenn die Theorie behauptet, zwei Spezies seien verwandt, müssen sich in Fossilien einer Vorläuferspezies Strukturen finden, die auch tatsächlich zu den zwei Nachfolgern führen können. Im Umkehrschluß gilt: Würden Fossilien gefunden, die die vorhergesagten Verwandtschaftverhältnisse verletzen – beispielsweise ein menschlicher Schädel in einer Gesteinsschicht mit Dinosaurierknochen -, wäre die Idee der Evolution in Erklärungsnöten.

Mit diesem Wissen bewaffnet kann man sich nun wieder der Diskussion um die Behandlung der biblischen Schöpfungsgeschichte im Biologie-Unterricht widmen. Zurück also zu Frau Wolffs oben zitiertem Vorschlag. Die Biologie ist unbestritten eine wissenschaftliche Disziplin, da sie Beobachtungen macht, die zu Theoriebildungen führen, die einer experimentellen Überprüfung zugänglich sind. Durch die parallele Wortwahl "Evolutionslehre" und "Schöpfungslehre" scheint Frau Wolff anzudeuten, dass man es mit gleichwertigen Ideen zu tun hat. Das ist nicht der Fall.

Zuerst bedürfte es einmal einer Definition, welche Schöpfungsgeschichte denn die Evolutionstheorie ergänzen sollte, die aus dem ersten Genesis-Kapitel [13] oder die aus dem zweiten? Konkreter: Diejenige, in der Gott erst die Erde schafft, dann die Sonne, dann die Pflanzen, dann andere Sterne und zuletzt den Menschen – oder diejenige, in der Gott erst die Erde und den Himmel schafft, dann den Menschen, dann Pflanzen und schließlich Flüsse? Eine "erstaunliche Übereinstimmung" gibt es jedenfalls nicht einmal zwischen den beiden Schöpfungsgeschichten der Bibel.

Eine tatsächliche Gleichwertigkeit ziehen darüber hinaus auch Wolff und ihre Unterstützer nicht in Betracht – durchaus vernünftig, denn eine Schöpfung, die zu demselben Ergebnis wie ein beliebiger evolutionärer Prozess führt, ist per Definition nicht widerlegbar, da auch jede denkbare Alternative durch göttliche Intervention erklärbar wäre. Das Plädoyer ist also eines für die Behandlung einer explizit außerwissenschaftlichen Idee in einem wissenschaftlichen Schulfach. Mit demselben Argument ließe sich befürworten, worauf der Biologenverband in einem Brief [14] (PDF) an Frau Wolff ebenfalls hingewiesen hat: Den Physikunterricht durch astrologische Ideen anzureichern und sich mit Horoskopen zu beschäftigen. Auf einer solchen Ebene nach vorgeblichen "Gemeinsamkeiten" zu suchen, muss man wohl naiv nennen.

Was Wolff und ihre Fürsprecher eint, ist die Ablehnung der Evolutionstheorie als angeblich einzig erlaubter Erklärung für das Leben und seine Entwicklung – wobei im Lichte des oben Gesagten deutlich werden müsste, dass eine Nachfrage dringend geboten wäre, ob hier die auch in hessischen Lehrplänen explizit als solche erwähnte Tatsache der Entwicklung des Lebens aus gemeinsamen Vorfahren und ursprünglich aus unbelebter Materie gemeint ist oder nur die Darwinsche Theorie der natürlichen Auslese. Jedenfalls bleiben sie jegliche Anhaltspunkte dafür schuldig, dass es eine ernstzunehmende wissenschaftliche Alternative gibt, geschweige denn, dass die Schöpfungsgeschichte eine sein könnte. Wenn hier Vertreter der katholischen Religion Dogma und totalitäres Denken anprangern, entbehrt das nicht einer gewissen Ironie.

Nicht zuletzt stehen aber auch positive, konstruktive Ziele im Vordergrund der Äußerungen von Frau Wolff, wenn sie fächerübergreifende und -verbindende Fragestellungen zum Beispiel beim Thema "der Bestimmung des Lebens" befürwortet. Bischof Mixa stößt in dasselbe Horn, wenn er sagt: "Diese Dimensionen, etwa nach dem Sinn des Lebens und der Berufung des Menschen kann der christliche Glaube geben." Zweifelsohne kann die Sinnfrage und die Beschäftigung mit ihr zu Antworten führen, die für den Einzelnen wertvoll sind. Aber es liegt der Frage doch ein logischer Fehlschluß zugrunde: Die Behauptung, der Glaube oder gerade eine bestimmte Religion könnten Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben, setzt das zu Zeigende bereits voraus, nämlich dass es einen gibt.

Im Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagte Frau Wolff, in keinem Fach dürfe es Denkverbote geben. Recht hat sie. Und wohlverstandene Wissenschaft steht für das genaue Gegenteil von Denkverboten: Sie lädt gegenteilige Meinungen ein, sie fordert sie sogar heraus, weil sie weiß, dass nur so Vertrauen gewonnen werden kann. Das Hinterfragen und Zweifeln gehören zu ihren stärksten Stützpfeilern; innerwissenschaftliche Alternativen und Angriffe sind deswegen das tägliche Brot der Wissenschaften und jedes guten Unterrichts. Dennoch gibt die Wissenschaft selbstverständlich die Forderung nicht auf, dass Erkenntnisse auf objektivierbaren Beobachtungen und Experimenten beruhen müssen.

Das wahre Problem ist, wie hier gezeigt, ein ganz anderes. Eine öffentliche Diskussion selbst unter gebildeten Menschen, moderiert von gebildeten Journalisten mit der wohldefinierten Funktion, in einer demokratischen Gesellschaft ein mündiges Bürgertum zu erhalten und zu befördern, erstarrt allzu häufig in selbstverschuldeter Denkarmut. Arno Widmann kommentierte in der "Frankfurter Rundschau": "In einer freien Gesellschaft darf jeder auch so dumm sein, wie er gerne möchte." Er darf – als Privatmann. Aber eine Gesellschaft, die nicht Sorge trägt, dass möglichst wenige ihrer Mitglieder – gerade der schulpflichtigen – von dieser Option Gebrauch machen, gräbt sich ihr eigenes Grab. Was wir brauchen, ist wissenschaftliche Bildung, die auch zu ihrer Anwendung befähigt. (bsc [15])


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[3] http://www.faz.net/s/Rub8D05117E1AC946F5BB438374CCC294CC/Doc~E01870EAA146E472FA9549E163B950E02~ATpl~Ecommon~Scontent.html
[4] http://www.evolutionsbiologen.de/
[5] http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,491434,00.html
[6] http://www.bistum-augsburg.de/ba/dcms/sites/bistum/aktuell/presseinformation/archiv.html?f_action=show&f_newsitem_idw25
[7] http://bildungsklick.de/a/54242/kueng-verteidigt-kultusministerin-wolff/
[8] http://www.stephenjaygould.org/library/gould_fact-and-theory.html
[9] http://www.stephenjaygould.org/ctrl/popper_falsification.html
[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Mendeleev
[11] http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Darwin
[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Selektion_(Evolution)
[13] http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel/lesen-im-bibeltext/bibelstelle/1.Mose2/cache/0a11a943d9/
[14] http://www.evolutionsbiologen.de/ProtestschreibenKultusministerium.pdf
[15] mailto:bsc@heise.de