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Strom aus Atombomben

Peter Fairley, Dr. Wolfgang Stieler

Russland und Indien entwickeln Kernkraftwerke, die weltweit die Atommüllhalden abtragen und Plutonium aus Atomwaffen verbrennen sollen. Ist das nur ein neuer Werbetrick der Atomlobby?

Russland und Indien entwickeln Kernkraftwerke, die weltweit die Atommüllhalden abtragen und Plutonium aus Atomwaffen verbrennen sollen. Ist das nur ein neuer Werbetrick der Atomlobby?

Günther Oettinger ist ein optimistischer Mensch. Zukünftige Generationen hätten möglicherweise "bessere Ideen", wie man mit Atommüll umgehen sollte, erklärte der EU-Energiekommissar Anfang Juli. Deswegen müsse die strahlende Altlast deutscher Kernkraftwerke unbedingt rückholbar eingelagert werden. Der Vorschlag entfachte einen Sturm der Entrüstung, weil Oettinger auch gleich seine bevorzugten Standorte nannte: Sie sollten im Süden von Deutschland liegen, denn dortige Gesteinsschichten seien für diese Variante besonders geeignet.

Welche Hintergedanken er dabei möglicherweise hegte, zeigen zwei brisante Vorhaben in Russland und Indien. Dort stehen "schnelle Reaktoren" vor einer Inbetriebnahme, die mit ihren energiereichen Neutronen auch Atommüll als nuklearen Brennstoff nutzen können. Dabei handelt es sich um einen natriumgekühlten 800-Megawatt-Reaktor BN-800 in Beloyarsk unweit der Ural-Metropole Ekaterinburg sowie einen 500-Megawatt-Reaktor mit dem Kürzel PFBR (Prototype Fast Breeder Reactor) im südindischen Kalpakkam. Beide könnten bereits 2014 in Betrieb gehen.

Es wäre die unerwartete Verwirklichung eines Konzepts, an dem die Atomindustrie bereits seit den 1970er-Jahren arbeitet. Zahlreiche Länder forschten damals an "schnellen Brütern", die nicht nur wiederaufbereitete abgebrannte Brennelemente verwenden konnten, sondern nebenbei auch Plutonium als zusätzlichen Brennstoff erzeugen. Die natürlichen Uranreserven der Erde, so die Hoffnung damals, ließen sich so hundertmal besser ausnutzen als mit herkömmlichen Atomkraftwerken.

Doch Ende der 1980er-Jahre folgte die Ernüchterung: Die schnellen Reaktoren sind im Bau sehr viel teurer als herkömmliche Atomkraftwerke. Wirtschaftlich hätten sie sich nur dann gelohnt, wenn das Uran teurer geworden wäre – doch die weltweiten Uran-Reserven waren in den 1970er-Jahren unterschätzt worden. Dazu kam ein politisches Problem: Die Reaktoren eignen sich gut, um Plutonium für Atombomben zu produzieren. Die meisten Brüter-Programme wurden eingestellt.

Weil jedoch nach wie vor Endlager für den Atommüll fehlen, stößt die Technologie nun wieder auf großes Interesse. Schließlich lassen sich mit ihr abgebrannte Brennelemente aus den allgemein gebräuchlichen Leichtwasserreaktoren als Brennstoff nutzen und dabei auch langlebige und hochradioaktive Elemente spalten. Deshalb produzieren schnelle Reaktoren nur etwa zwei Prozent des Atommüll-Volumens konventioneller Meiler. Der strahlende Abfall müsste außerdem wesentlich weniger lange von der Umwelt isoliert werden – statt 30000 nur etwa 300 Jahre. "Brauchen wir damit keine atomaren Endlager mehr?

Nein, aber das Atommüll-Problem wird wesentlich entschärft", sagt Thierry Dujardin, stellvertretender Direktor der International Atomic Energy Agency (IAEA). Neben Russland und Indien versuchen sich zwar auch westliche Staaten, darunter Deutschland, an derartigen Lösungen. Sie setzen dafür allerdings auf ein anderes Verfahren, die sogenannte Transmutation. Sie birgt weniger Risiken, weil die Kernspaltung in diesen Reaktoren sich nicht selbst erhält, sondern von einem Beschleuniger angetrieben wird.

Aber die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen. Gleiches gilt auch für den in Deutschland kürzlich heftig diskutierten "Dual-Fluid-Reaktor". Er soll 25-mal effektiver sein als konventionelle Reaktoren und ebenfalls Atommüll verbrennen können. Aber auch er ist noch weit von einer Realisierung entfernt.

Der BN-800-Reaktor, der derzeit als vierter Block des Atomkraftwerks Beloyarsk errichtet wird, ist dagegen so gut wie fertig. Die Ingenieure haben dafür das Vorgängermodell, den bereits 1980 in Betrieb genommenen BN-600, deutlich weiterentwickelt. Der BN-800 soll nicht mehr mit Uranoxid betrieben werden, sondern mit einer Mischung aus Uran und Plutonium. 34 Tonnen Plutonium aus abgerüsteten Interkontinentalraketen will Russland auf diese Weise unschädlich machen.

Das restliche Plutonium soll aus dem Atommüll konventioneller Reaktoren gewonnen werden. Zumindest bei der russischen Variante würde damit also kein neues waffenfähiges Plutonium entstehen. "Neue Materialien", welche die zuständige Atombehörde Rosatom allerdings nicht näher beschreiben will, sollen eine Reaktorlaufzeit von 60 Jahren ermöglichen. Die Anlage wäre damit wesentlich wirtschaftlicher als ihr Vorgänger. Laut Rosatom sollen die Stromkosten nicht höher sein als bei einem konventionellen Atomkraftwerk.

Doch bei allem zur Schau gestellten Optimismus diskutierten die Teilnehmer der IAEA-Konferenz im März in Paris auch über die Gefahren, die mit den schnellen Reaktoren verbunden sind: In ihnen muss der Reaktorkern dichter gepackt und mit höher angereichertem Brennstoff beladen werden, damit die Neutronen eine Kettenreaktion auslösen. Energiedichte und Betriebstemperatur sind in solchen Reaktoren also sehr viel höher als in herkömm-lichen Reaktoren gleicher Leistungsklasse. Der Reaktor ist bei einem Unfall deshalb schwerer zu beherrschen.

Um dem entgegenzuwirken, setzen die Atom-Ingenieure unter anderem auf flüssiges Natrium als Kühlmittel. Im BN-800 umgibt es den Reaktorkern und überträgt seine Energie über einen Wärmetauscher an einen zweiten, nicht radioaktiven Natriumkreislauf, mit dem außerhalb des Reaktors Dampf erzeugt wird. So soll sichergestellt werden, dass kein radioaktives Natrium in die Umgebung gelangt. Generell kommen als Kühlmittel zwar auch andere flüssige Metalle infrage. Mit Natrium haben Atom-Ingenieure jedoch am meisten Erfahrungen.

Das Metall kann die große Hitze aus dem Reaktorkern gut abführen, lässt sich ohne große Probleme pumpen und greift den Stahl der Leitungen nicht an. Zudem siedet Natrium erst bei einer Temperatur, die weit über dem Arbeitspunkt der Reaktoren liegt – und erzeugt daher keinen extrem hohen Druck im Kühlmittelkreislauf. Auf diese Substanz setzen daher auch die indischen Konstrukteure. Sein großer Nachteil: Natrium reagiert heftig mit Wasser und Sauerstoff. Das flüssige Natrium muss also vor allem im Dampferzeuger besonders gut isoliert werden.

Dass dieses Problem nicht nur rein theoretischer Natur ist, zeigen zahlreiche Vorfälle am BN-600. Bis 1997 gab es dort insgesamt 27 Natriumbrände. Im Interview mit Technology Review verweist Sergey Boyarkin, ehemaliger stellvertretender Direktor des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom, jedoch auf bauliche Maßnahmen, mit denen die Konstrukteure die Probleme in den Griff bekommen hätten.

Mindestens genauso kritisch ist jedoch die Tatsache, dass natriumgekühlte schnelle Reaktoren oftmals einen "positiven Void-Koeeffizienten" haben. Der harmlos klingende Begriff beschreibt ein hässliches Problem: Bei einem Unfall schützt Natrium deutlich schlechter vor einer Kernschmelze als das Kühlwasser eines konventionellen AKWs. Denn Wasser hat dort neben seiner Kühlfunktion noch eine weitere, entscheidende Aufgabe: Es erleichtert die Kernreaktion. Entweicht Wasser, weil der Kühlkreislauf leckt, wird die Kernreaktion zunächst schwächer. Ganz anders in einem schnellen Reaktor: Verliert er Kühlmittel oder treten innerhalb des Reaktorbeckens Blasen ("Void") auf, kann sich die Kettenreaktion weiter beschleunigen. Dabei steigt die Temperatur im Reaktor an, was wiederum zu einem weiteren Verlust an Kühlmittel führen kann – ein Teufelskreis, der mit einer Kernschmelze enden kann.

Am 21. Januar 1987 kam es beim BN-600-Reaktor tatsächlich zu einer Beschleunigung der Kettenreaktion, weil sich offenbar durch Korrosion Fremdkörper im Kühlkreislauf angesammelt hatten. Sergey Shepelev, Vertreter des staatseigenen Unternehmens OKBM, das unter anderem den BN-600-Reaktor gebaut hat, weigerte sich während einer Diskussion auf der IAEA-Tagung, diesen Störfall zu kommentieren. Im Anschluss erklärte er jedoch, es gäbe "viele unterschiedliche Schilderungen" dieses Vorfalls, und niemand könne sagen, welche "wirklich wahr" sei. Klar ist immerhin: Den russischen Technikern gelang es, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Filter und eine verbesserte Reinigung während der Wartung sollen mittlerweile dafür sorgen, dass der Kühlkreislauf nicht mehr verstopft. Und um ganz sicher zu gehen, wollen die russischen Techniker den Reaktorkern des neuen BN-800-Reaktors mit einer ausgeklügelten Anordnung aus Brennstäben und natriumgefüllten Rohren bestücken, sodass im Reaktor selbst bei einem Kühlmittelverlust keine Kettenreaktion droht. Zumindest hätten das Modellrechnungen gezeigt.

Die indischen Techniker setzen bei ihrem Reaktor dagegen auf mehrfach redundante, passive Sicherheitssysteme. Absorberstäbe, die im Notfall Neutronen einfangen und damit die Kettenreaktion unterbrechen, werden von Elektromagneten über dem Reaktorkern gehalten. Falls die interne Stromversorgung des Kraftwerks ausfällt – eines der Hauptprobleme in Fukushima –, fallen die Stäbe automatisch in den Reaktorkern und schalten ihn ab. Vier Notfall-Kühlkreisläufe, die nur mithilfe von Konvektion funktionieren, sollen die Nachwärme aus dem Reaktorkern abtransportieren können. Die Kreisläufe sind so ausgelegt, dass schon zwei davon im Notfall reichen würden. (wst [1])


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