Tiktok und der digitale Schneewittchen-Effekt

Viele streben danach, sich selbst zu verstehen und anderen zu zeigen, wer sie sind. Tiktok spielt als algorithmischer Spiegel eine drastische Rolle.

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(Bild: canbedone / Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Karin Bjerregaard-Schlüter
Inhaltsverzeichnis

Der Erfolg von TikTok hat in den USA zu einer bemerkenswerten Coming-Out-Welle von Frauen in ihren späten Zwanzigern geführt. Ein überraschender Trend, vor allem für die Frauen selbst. Sie hatten ihre sexuelle Identität als gefestigt betrachtet, bevor TikTok ihnen immer wieder Content mit dem Hashtag #lesbiansoftiktok auf die For-You-Page spülte. Der Algorithmus hatte richtig bemerkt, dass sie sehr engagiert mit diesen Videos interagierten – noch vor den Frauen.

Es ist kein Zufall, dass nicht Facebook oder Instagram die Augenöffner waren. TikTok hat die Beziehung zwischen User*innen und Algorithmen und unsere Sicht auf uns selbst grundlegend verändert.

Tiktok ist so konzipiert, dass die App nicht auf soziale Verbindungen eingeht, sondern auf unsere intuitiven Reaktionen. Und die lassen sich kaum kontrollieren, selbst wenn wir schnell weiterwischen oder versuchen, einem Angebot zu widerstehen.

Jeder, der schon mal auf Diät war, weiß, dass es machbar ist, ein verführerisch aussehendes Stück Torte im Schaufenster einer Bäckerei nicht zu kaufen. Den Kuchen aber nicht zu bemerken, ist fast unmöglich, wenn wir in dem Moment einen gefühlten Zuckermangel haben und uns besonders tapfer fühlen. Die Fähigkeit, diese beiden Bedürfnisse in der Kombination zu entdecken und auch zu befriedigen, zeichnen die Algorithmen der Zukunft aus. Es entstehen neue Möglichkeiten für Formatentwicklungen, Zielgruppenfindung und nicht zuletzt für unsere persönliche Weiterentwicklung.

TikTok führt uns am Beginn einer Session durch eine kurze emotionale Tour unserer Wünsche und Leiden. Wie geht es uns gerade, in dieser Sekunde? Fühlen wir uns hoffnungsvoll oder verzweifelt, sind wir vielleicht gerade getrennt oder im Gegenteil frisch verliebt? Wird ein emotionales Bedürfnis getroffen, wird das entsprechende Thema breiter und tiefer ausgelotet. Immer mehr Videos tarieren die Stimmung genau aus und kartografieren dabei in mehreren Perspektiven die aktuelle Gefühlslage. So entsteht durch Interaktion, kurzes Verweilen oder einen verstohlenen Blick ein vielschichtiges Bild unserer inneren Verfassung.

Wir bekommen dann mehr von dem, was wir brauchen, was uns tröstet, aufrüttelt, inspiriert oder auch einfach unterhält. Dabei entdecken wir Welten, Inhalte und kreative Menschen, die wir allein nicht gefunden hätten. Zu limitiert sind unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten, wir bräuchten Jahrhunderte, um alle Daten zu sichten, und genau das Video zu finden, das gerade in dieser Sekunde zu uns passt.

Wir Menschen sind sehr erfolgreiche One-Trick-Ponys. Unsere Gehirne sind auf Effizienz ausgerichtet, sie arbeiten der Einfachheit halber mit erlernten Methoden und wiederholen immer wieder die gleichen Tricks. Auf diese Weise kommt ein großer Katalog an Standardsituationen zustande, den wir als unsere individuelle Persönlichkeit erleben.

Im Industriezeitalter wurden Dinge in der Regel normiert. Das gilt selbst für Kulturformen, die als nonkonform gedacht waren. So folgten alle Protestbewegungen einer Art unsichtbarem Styleguide. Unsere Identität ist ein Selbstbild, das wir im Zusammen- und Gegenspiel mit Medien, der Familie, Schule oder auch Organisationen wie Kirchen oder Gewerkschaften entwerfen. Es ist ein Konstrukt, an dem wir beständig arbeiten und feilen.
In der Jugend ist das besonders schwierig und anspruchsvoll. Später tauchen Identitätsfragen eher bei Abweichungen und in Lebenskrisen auf, beispielsweise während einer Scheidung. Insgesamt haben wir aber die Erwartung, dass unsere Identität etwas Festes ist. Abweichungen davon werden bemerkt und auch angesprochen, denken wir an Ausdrücke wie "Er ist gar nicht er selbst" oder "Ich erkenne mich selbst nicht wieder".

Das Set an "Materialien" zum Bau dieser Identität war vor dem Internetzeitalter begrenzt. Als Informationsquellen standen Familie, Schule, Kollegen, die Massenmedien oder auch Reisen zur Verfügung. So waren die Ergebnisse recht stereotyp: verheiratet, Doppelhaushälfte, zwei Kinder oder urbane Altbauwohnung und Biokisten-Abo. Menschen hatten zwar theoretisch die Möglichkeit, sich individuell auszubilden, blieben de facto doch in Gruppen beschreibbar. Diese ließen sich als "Zielgruppen" sehr gut für Werbung oder politische Willensbildung nutzen.

Durch die Digitalisierung haben sich die Quellen vervielfacht. Über Social Media und Suchmaschinen können wir weltweit Ideen einsammeln. Das führt seit der Einführung von YouTube und Google, Mitte der 2000er Jahren zu vielen Rissen im eigenen Bild von Menschen, es führt zu Streit, Hass und Unfrieden.

TikTok dreht die Entwicklung nun mehrere Stufen weiter. Die Videos sind sehr kurz und monothematisch. Der Algorithmus kann die einzelnen Bedürfnisse der User*innen aufschlüsseln und mit den Videos matchen. Daraus entsteht ein neuer Kontext. Das Video fühlt sich für den User so logisch passend an, dass es nicht mehr zu einer Abwehr oder Irritation kommt. Die Lücke zwischen den Welten schließt sich. Daraus entstehen Identitäten, die nicht mehr mit den uns bekannten Zielgruppen und Milieus zusammenfallen.

Im Märchen "Schneewittchen" bittet die böse Stiefmutter den Spiegel, wie wir heute sagen würden, um ein Feedback: "Spieglein Spieglein an der Wand…". In der digitalen Welt erledigt das die For-You-Page ungefragt für uns. Wir sehen unsere Timeline und ziehen von dort aus Rückschlüsse auf unsere Persönlichkeit. Eine Art digitaler Spiegel unserer Identität. Und die ist facettenreicher als je zuvor.

Plattformen bieten uns unendlich viele Identifikationsmuster an und liefern sie "just in time". So erweitern wir uns und brechen Identitätsklischees auf, ohne es zu bemerken. Zugleich verschwinden die Stereotypen, mit denen wir uns früher die Welt erklärt haben. Unsere Gesellschaft wird aber nicht gespalten – das Gegenteil ist der Fall: Sie wird durch das Digitale immer vielfältiger und ist darum schwerer zu verstehen.

(emw)