Unerwünschte Freiheiten

Es ist eine Aufgabe des Staates, Kinder vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Doch was beim Fernsehen noch leidlich klappt, kann im Internet nicht funktionieren. Dennoch beharren Politiker auf überkommenen Vorstellungen von Schutz und Regulierung. Die großen Inhalteanbieter versuchen, ihren eigenen Schaden durch sinnlose Jugendschutz-Regeln möglichst gering zu halten – und sei es auf Kosten der Internet-Community.

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Von
  • Holger Bleich
Inhaltsverzeichnis

Man erlebt es nicht alle Tage, dass ein Behördenleiter gleich bei Amtsantritt seine Unwissenheit so demonstrativ zur Schau stellt. Siegfried Schneider übernahm Mitte Dezember 2011 den Vorsitz der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Damit wurde er de facto zum obersten deutschen Internet-Tugendwächter. Er habe sogleich seinen Mitarbeitern über die Schulter gesehen „und war schockiert“. Bei manchem Inhalt „wird mir schon himmelangst, wenn ich daran denke, dass Kinder das sehen könnten“, sagte Schneider.

Zuvor war der CSU-Politiker allerdings bereits seit zwei Monaten Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien und sollte als solcher doch eigentlich über die Schlechtigkeiten im weltweiten Web informiert sein. Aber „pornografische Netz-Inhalte bis hin zu Selbstverstümmelungen oder auch Neonazi-Inhalte, die mal ganz unverblümt daherkommen, mal als versteckte Botschaften“, haben Schneider offenbar völlig überrumpelt.

Seine Behörde überwacht als Aufsichtsgremium immerhin, ob die gesetzlichen Bestimmungen zum Jugendschutz stets ausreichend umgesetzt sind. Der noch heute gültige Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) von 2003 ermächtigt sie dazu, die Selbstkontrollmechanismen der freien Wirtschaft zu prüfen und Fehlverhalten zu sanktionieren. Im Politikerjargon nennt sich dieses Modell „regulierte Selbstregulierung“. Der Staat, respektive die zuständigen Bundesländer halten sich diesem Prinzip zufolge aus den praktischen Jugendschutzaspekten weitgehend raus und setzen auf die Selbstkontrolle der Wirtschaft.

Die Wirtschaft wiederum muss sich an die Regeln des sperrigen JMStV halten. Welche Inhalte erlaubt sind, definieren die Paragrafen 4 und 5. Paragraf 4 führt generell „unzulässige Angebote“ auf, die die Entwicklung von Kindern „schwer gefährden“ könnten und überdies strafrechtlich relevant sind. Darunter fallen verfassungsfeindliche Inhalte, Nazi-Symbolik, Gewaltverherrlichung, Verstöße gegen die Menschenwürde sowie Kinder- und Tierpornografie.

Bei harter Pornografie macht der Paragraf eine Ausnahme. Wer derlei ins Web stellt, muss sicherstellen, dass es nur Personen ab 18 zu sehen, hören oder lesen bekommen. Dies tut er üblicherweise mit einem rechtssicheren Altersverifikationssystem (AVS). Ein solches verursacht allerdings erhebliche Kosten, bedeutet einen Medienbruch für die Altersvalidierung und zwingt die Kunden, ihre Identität preiszugeben, was viele potenzielle Pornokonsumenten scheuen.

Alle Inhalte, die weniger heftig als die in Paragraf 4 genannten, aber dennoch schädlich für die Jugend sein könnten, stuft der JMStV in Paragraf 5 schwammig als „entwicklungsbeeinträchtigende Angebote“ ein. Der Inhalte-Anbieter muss dies zusätzlich nach den Kategorien „ab 18“, „ab 16“ und „ab 12“ unterscheiden, denn für jede Alterseinstufung gelten andere Bedingungen. Hält er Inhalte gemäß Paragraf 5 im Web vor, muss er dafür sorgen, „dass Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufen sie üblicherweise nicht wahrnehmen“.

Besondere Bedeutung erhält hier das einschränkende Wörtchen „üblicherweise“. Es macht deutlich, von welch überkommenem Anbieter- und Konsumentenbild der aus dem Rundfunk-Staatsvertrag abgeleitete JMStV ausgeht. Paragraf 5 schlägt dem Webmaster nämlich vor, die Sache anzugehen wie eine TV-Sendeanstalt. Demnach handelt man gesetzeskonform, wenn man ab-18-Inhalte nur zwischen 23 und 6 Uhr nachts zeigt, und ab-16-Inhalte nur zwischen 22 und 6 Uhr – weil die Kids dann ja „üblicherweise“ im Bett liegen. Außer den öffentlich-rechtlichen Mediatheken von ARD und ZDF sowie der Telekom macht freilich kaum jemand von dieser bizarren Regel Gebrauch.

Als Alternative zu der Web-Sendezeitenbegrenzung darf der Anbieter auch mit technischen Mitteln den Zugang für gefährdete Personen „wesentlich erschweren“. Dazu benötigt er kein AVS, sondern darf etwa eine Maske vorschalten, mit der er das Alter und die Personalausweisnummer des Website-Besuchers abfragt. Um die Konfusion perfekt zu machen, gilt noch eine Sonderregel: Richtet sich ein Angebot speziell an Kinder – also unter-14-Jährige genügt es Paragraf 5 zufolge, gefährdende Inhalte „getrennt“ abrufbar zu machen. Außerdem sind die genannten Regeln außer Kraft, wenn im Rahmen der journalistischen Berichterstattung ein berechtigtes Interesse an einer gefährdenden Darstellung liegt.

Die im Paragrafen 5 genannten Möglichkeiten zur Zugangsbeschränkung halten sogar Befürworter der gültigen Jugendschutzregulierung für zu umständlich. Der JMStV sieht immerhin einen Weg für Anbieter vor, sie zu umgehen. Paragraf 11 des Regelwerks gestattet den Verzicht auf die Zugriffsschranken, wenn die Website „für ein als geeignet anerkanntes Jugendschutzprogramm programmiert“ wird. Im Klartext: Enthält die Site im Quelltext eine maschinenlesbare Alterskennzeichnung und gibt es von der KJM anerkannte Jugendschutz-Filterprogramme, die diese auslesen können, ist dem Schutz Genüge getan.

Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung den Anbietern die Möglichkeit einräumen, einen Teil der Verantwortung an die Eltern und Schulen zu übertragen. Gibt man diesen einen funktionierenden Filter an die Hand, so der Hintergedanke, können sie selbst entscheiden, ob und wie intensiv sie gefährdende Inhalte von den Schutzbefohlenen fernhalten. In der anhaltenden Debatte ist daher oft vom Prinzip des „nutzerautonomen Filters“ die Rede.

Weil die technische Alterskennzeichnung für kommerzielle Content-Anbieter mit großem Abstand der leichteste Weg ist, den Jugendschutz-Anforderungen nachzukommen, trommeln sie seit Inkrafttreten des JMStV 2003 vehement für diese Lösung. Unternehmen der Erotikbranche wie Beate Uhse, Fundorado, der Bauer-Verlag und der Orion-Versand schlossen sich 2003 zu dem Verein JusProg zusammen und entwickeln seitdem eifrig einen Jugendschutzfilter, der Alters-Label auf Webseiten auslesen kann. Allerdings gab es damals nur den mittlerweile wohl endgültig gescheiterten ICRA-Standard zur Kennzeichnung, den die zuständige KJM für unzureichend befand.

Tatsächlich versuchten JusProg und später auch die Deutsche Telekom jahrelang, mit ihren Programmen den hohen Anforderungen der KJM gerecht zu werden – ohne Erfolg. Und solange kein anerkanntes Jugendschutzprogramm mit eingebautem Label-Filter existierte, mussten die Anbieter sich den umständlichen und teuren Regeln des Paragrafen 5 JMStV unterwerfen.

An diesem Punkt kommen die Selbstregulierungseinrichtungen der freien Wirtschaft ins Spiel. Älteste Institution ist die bereits 1949 gegründete Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK). Sie prüft Filme und vorgelegte Trägermedien vorab nach den Grundlagen des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) und vergibt die allseits bekannten FSK-Altersfreigaben.

Nach diesem Vorbild hat sich 1997 die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) gegründet. 2005 wurde sie von der KJM als offizielle Einrichtung zur Selbstregulierung des Internet-Jugendschutzes anerkannt. Anders als die FSK prüft die FSM Angebote nicht vorab, sondern erst auf Beschwerden hin. Sie kann außerdem für ihre Mitglieder als Ersatz des ansonsten vorgeschriebenen Jugendschutzbeauftragten für einen Web-Auftritt fungieren. Eine Mitgliedschaft bei der FSM kostet mindestens 4000 Euro pro Jahr, dürfte also für Privatleute und kleine Unternehmen eher nicht in Frage kommen.

Von den Gründungsmitgliedern der FSM sind nicht mehr allzu viele übrig geblieben. Die Domain-Registry DeNIC ist ebenso ausgetreten wie beispielsweise der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ). Dessen Justiziar Dirk Platte erklärte c’t, der Verband habe Ende 2004 „seine Mitgliedschaft in der FSM beendet, weil sie sich dem Modell der regulierten Selbstregulierung unterwerfen musste, also nicht frei von staatlicher Kontrolle agieren konnte.“ Ohnehin sei es ausreichend, „dass für einzelne Verlage die Möglichkeit einer Mitgliedschaft in der FSM bestand.“

Mit einem mehrseitigen Online-Fragebogen der FSM soll ein Webmaster selbst ermitteln können, welchen Altersbeschränkungen seine Website unterliegt.

Platte dürfte hier insbesondere auf die treibende Kraft bezüglich erotischer Inhalte, nämlich den Bauer-Verlag, anspielen. Über seine mittelbare Tochter Inter Publish GmbH gibt der Verlag Zeitschriften wie Praline, Blitz Illu, Coupé oder Schlüsselloch heraus. Diese Tochter ist sehr aktives Mitglied in der FSM. Als Online-Sparte betreibt Bauer die Inter Content KG, einen der größten Web-Erotik-Anbieter in Deutschland.

Die Inter Content KG wurde bis 2007 von Stefan Schellenberg geleitet. Schellenberg wiederum trug bereits 2003 wesentlich zur Gründung der erwähnten Labeling-Initiative JusProg bei. Offenbar suchte der Bauer-Verlag über Ausgliederungen früh Lösungen für das leidige Jugendschutz-Thema, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen.

Zweiter Antreiber in Sachen Selbstklassifizierung von Websites ist – nur auf den ersten Blick überraschend – die Deutsche Telekom. Sie wollte ihr Stück Kuchen vom Geschäft mit Online-Erotik und -Pornografie sichern, hatte aufwendig und unter Einsatz erheblicher Mittel ihr nach wie vor wenig bekanntes Portal „Erotic Lounge“ aufgebaut. Außerdem vertreibt sie über ihren Video-on-Demand-Dienst Videoload entwicklungsbeeinträchtigende Filme, die sie genau wie die Softerotik bis vor kurzem in der Sendezeit beschränkt hat. Die Telekom war bereits bei der FSM-Gründung dabei, mittlerweile stellt sie mit ihrer Jugendschutzbeauftragten Gabriele Schmeichel sogar die Vorstandsvorsitzende der FSM.

Als 2010 der JMStV überarbeitet worden war, übertraf das Ergebnis selbst die schlimmsten Erwartungen von JMStV-Skeptikern: Was da nach intensiver Bearbeitung der Content-Lobby sowie wertkonservativer Politiker herauskam, bezeichnete beispielsweise der Online-Rechtler und OLG-Richter Professor Thomas Hoeren als „dogmatisch unsauberen Unsinn“, bei dem „handwerklich nichts stimmt“. Da hatten die Länderchefs im Juni 2010 dem novellierten JMStV-E allerdings längst zugestimmt.

Die Kommission für Jugendmedienschutz ist de facto ausführendes Gremium des JMStV. Sie bestimmt, wer die Selbstkontrollinstanzen sein dürfen.

Der für die Anbieter-Lobby entscheidende Passus im novellierten JMStV war nicht im komplett umgearbeiteten Paragrafen 5, sondern in Paragraf 11 zu finden. Dort hieß es: „Ein Jugendschutzprogramm gilt als anerkannt, wenn eine anerkannte Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle ein Jugendschutzprogramm positiv beurteilt und die KJM das Jugendschutzprogramm nicht innerhalb von vier Monaten nach Mitteilung der Beurteilung durch die Freiwillige Selbstkontrolle beanstandet hat.“ Weil die KJM sich nie dazu durchringen konnte, den in ihren Augen mangelhaften, zur Prüfung vorgelegten Filtern ihren Segen zu geben, sollte das nun die FSM selbst übernehmen. Endlich, so das Kalkül der Erotik-Content-Lobby, werden die Programme durchgewunken und die abschreckenden Sendezeitbeschränkungen fallen weg.

Die FSM war derweil längst dabei, einen technischen Standard fürs im JMStV-E ausgebaute Labeling zu erarbeiten. Dazu beauftragte sie ein Unternehmen namens Online Medien Kontor. Dessen Chef heißt nicht zufällig Stefan Schellenberg, ehemaliger Online-Leiter des Bauer-Verlags und JusProg-Initiator. Im Nachhinein betrachtet drängt sich der Eindruck auf, dass die Großen hier mit tatkräftiger Unterstützung überforderter Landespolitiker eine Methode ausklügelten, um sich mit minimalem Aufwand ein Jugendschutz-Feigenblättchen zu basteln.

Während die in der FSM organisierte Content-Branche für den neuen JMStV trommelte und sich die Hände rieb, wuchs die Verunsicherung bei kleinen Unternehmen und privaten Website-Betreibern mehr und mehr. Erste Blogs schlossen im vorauseilenden Gehorsam bereits die Pforten. Die Betreiber glaubten, es solle eine Kennzeichnungspflicht eingeführt werden, der sie ohne unverhältnismäßigem Aufwand nicht nachkommen könnten. Wenigstens kündigte die FSM an, ein Selbstklassifizierungs-Tool bereitstellen zu wollen, mit dem Betreiber gegen Gebühr ihre Website labeln können. Dieses Tool war aber im Dezember 2010, also wenige Wochen vor Inkrafttreten des neuen JMStV, immer noch nicht verfügbar.

Netzaktivisten hatten da längst eine Front gegen den JMStV-E aufgebaut und trugen das Thema erfolgreich in die Medien. Plötzlich waren jene Länderparlamente, die den Staatsvertrag in einer bloßen Formsache noch absegnen mussten, im Rampenlicht. Und tatsächlich passierte schließlich, womit niemand mehr rechnete: Das NRW-Landesparlament verweigerte der Novellierung nach heftigen politischen Auseinandersetzungen die Zustimmung. Der bereits von den Länderchefs verabschiedete Staatsvertrag war im letzten Augenblick gekippt – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Deshalb gilt nach wie vor der völlig unzureichende JMStV aus dem Jahr 2003 auf unbestimmte Zeit weiter.

Nachdem sich der Katzenjammer bei FSM und großen Inhalteanbietern Anfang 2011 gelegt hatte, besann man sich auf das, was man hatte, und drängte die KJM auf erneute Prüfung der Filterkonzepte von JusProg und Telekom. Im Mai 2011 weichte die Kommission schließlich ihren harten Forderungskatalog auf und veröffentlichte neue „Kriterien für die Anerkennung von Jugendschutzprogrammen“. Und siehe da, bereits im August 2011 erkannte sie das JusProg-Programm an.

Gegenüber c’t bestätigte JusProg-Vertreter Schellenberg, dass der KJM zurzeit „eine neue, gänzlich überarbeitete Version 4.1 der JusProg-Software zur Prüfung vorliegt. Sobald eine Anerkennung erfolgt sei, werde es diese Version kostenlos zum Download geben. Auch das Telekom-Programm hat die KJM grundsätzlich anerkannt. Die Software liegt nach Angaben einer Unternehmenssprecherin bei der KJM und werde den Kunden „ab einem Tag X im Frühjahr 2012“ kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Parallel zur Anerkennung schaltete die FSM im August 2011 endlich eine Betaversion ihres Selbstklassifizierungs-Webtools frei. Zurzeit kann unter altersklassifizierung.de jeder mit Online-Fragebögen ermitteln, welchen Altersstufen seine Webseiten zugeordnet werden sollten. Das Tool bittet beispielsweise um ehrliche Angaben zu gewaltverherrlichenden Inhalten, nackten Tatsachen und politisch extremen Aussagen. Zum Schluss spuckt es entsprechenden XML-Code nach dem von der FSM anerkannten age-de.xml-Format aus, den Webmaster in den Seitenquellcode einbauen können. Die Jugendschutzprogramme von JusProg und Telekom sollen diese Labels auswerten und danach filtern.

Für alle, die Inhalte im Web anbieten, stellt sich die Situation nach wie vor chaotisch dar. Sie sollen selbstständig entscheiden, welcher Content jugendgefährdend ist. Viele sind damit völlig überfordert, tun gar nichts und hoffen einfach, damit richtig zu liegen. Ungelöst ist die Frage, wie mit nutzergenerierten Inhalten umzugehen ist. Was passiert, wenn in einem Forum Nutzer beginnen, Porno-Bilder zu posten? Bislang handhabt die KJM derlei Fälle großzügig zugunsten des Betreibers.

In besonderer Weise betrifft dieses Problem zunehmend die Anbieter von sozialen Netzwerken. Nicht umsonst sind viele von ihnen Mitglieder in der FSM – sie wollen auf der sicheren Seite stehen. Ausgerechnet Facebook ist außen vor. Mitbewerber Google ist dagegen eng mit der FSM verbunden, sehr eng sogar. Dr. Arnd Haller ist Jugendschutzbeauftragter von Google Deutschland, Leiter der Google-Rechtsabteilung und gleichzeitig ein Vorstand der FSM. Umgekehrt holte sich Google Sabine Frank als Lobbyistin für „Jugendschutz und Medienkompetenz“ ins Haus – Frank leitete bis Oktober 2011 über 10 Jahre lang die Geschäfte der FSM. Angesichts dieser personellen Überschneidungen dürfte Google wohl kaum Probleme mit den deutschen Jugendmedienschutz-Gremien ins Haus stehen.

Google war auch vom Start weg bei der 2005 gegründeten FSM-Sparte „Selbstkontrolle Suchmaschinen“ dabei und verpflichtete sich medienwirksam, „technische Vorrichtungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jugendgefährdenden Inhalten“ für die Suchmaschine vorzuhalten. In der Praxis handelt es sich hier um den „SafeSearch-Filter“, der „sexuell explizite Inhalte“ in der Trefferliste moderat oder strikt aussortieren kann, sich aber auch vom jugendlichen Nutzer jederzeit abstellen lässt.

Außerdem sperrt Google gemäß des FSM-Verhaltenskodex die auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) stehenden Domains – zurzeit rund 2500. Dazu bekommen Google und andere Suchmaschinenbetreiber über eine Schnittstelle („BPjM-Modul“) Zugriff auf die eigentlich unter Verschluss stehende Liste. Rechtsanwalt Marko Dörre, der insbesondere Unternehmen aus der Pornoindustrie vertritt, hält dieses Vorgehen für widerrechtlich und hat Verfahren dagegen angestoßen.

Der von c’t dazu befragte renommierte Online-Rechtler Thomas Stadler teilt diese Ansicht, weil die Mitteilung über Inhalte der BPjM-Liste gemäß Paragraf 24 des Jugendschutzgesetzes „nur zum Zweck der Aufnahme in nutzerautonome Filterprogramme verwandt werden“ dürfen. Im Gespräch mit c’t widersprach der erwähnte Dr. Arnd Haller von Google: Laufende Verfahren gebe es nach seinem Kenntnisstand nicht. Ebenfalls darauf angesprochen, bestätigte uns dagegen eine FSM-Sprecherin: „Uns ist bekannt, dass zu dieser rechtlichen Frage behördliche Verfahren anhängig sind und wir begrüßen die damit einhergehende Klärung des Sachverhaltes. Wir erhoffen davon auch die Bestätigung unserer Auffassung und den Fortbestand der seit Jahren umgesetzten, politisch begrüßten und bei Beginn durch umfangreiche Presseberichterstattung begleiteten Maßnahme.“

Symbolischer Jugendschutz: Google blockt zwar von der BPjM indizierte Domains in der Suchergebnisliste. Einen Klick weiter findet man aber bereits wieder das Original.

Was die Sprecherin uns mitteilte, fasst – wohl ungewollt – das Kernproblem der zurzeit laufenden Maßnahmen zum Jugendmedienschutz fast vollständig zusammen: Sie sind politisch gewollt und erzeugen mediale Wirkung. In der Sache sind sie allerdings völlig unwirksam und eventuell sogar kontraproduktiv. Bleiben wir beim Beispiel der Blockade von BPjM-indizierten Domains in der Google-Trefferliste. Wie sieht das in der Praxis aus?

Ein Dorn im Auge der Pornoindustrie ist seit Langem ein sehr erfolgreiches Streaming-Portal, wo teils sehr heftige Porno-Filmschnipsel ohne wirksame Alterskontrolle kostenlos abrufbar sind. Das Angebot steht auf der BPjM-Blacklist. Sucht man nun auf google.de nach der Domain, erhält man zwar keinen direkten Treffer, dafür aber Dutzende gleichartige Angebote, die den Domain-Namen als Metatag einsetzen, aber selbst nicht von der BPjM indiziert sind. Unter der Trefferliste findet sich der Vermerk: „Aus Rechtsgründen hat Google 4 Ergebnis(se) von dieser Seite entfernt.“ Na, dann ist es ja gut, mag man sarkastisch anmerken.

Es kommt noch absurder: Klickt man nun direkt unter den Text auf „Google.com in English“, gelangt man zur unzensierten US-amerikanischen Trefferliste, die gleich als ersten Link den originalen Domain-Namen präsentiert. Wer harte Pornografie mit Google sucht, wird nicht spürbar daran gehindert. Dass das Unternehmen etwas anderes behauptet, grenzt an Heuchelei. Derlei medienwirksames Symbolhandeln ohne Effekt lässt sich im Jugendschutzbereich allerorten beobachten.

Dass der Staat Verantwortung für den Schutz der Kinder und Jugendlichen trägt, lässt sich direkt aus den Grundrechten herleiten. Und dass Medieninhalte aus Fernsehen und Internet schädlich für die Entwicklung sein können, ist weltweiter Konsens. Doch schon darüber, welche Inhalte das konkret sind, herrschen je nach Wertekanon höchst unterschiedliche Meinungen. In den USA beispielsweise gelten Fäkalsprache und Abbildungen nackter Menschen tendenziell als jugendgefährdend, bei politisch extremen Ansichten oder Gewaltdarstellungen ist man dort großzügig. Hierzulande ist es fast umgekehrt.

Alterskennzeichnungen nur für inländische Webangebote, wie sie der JMStV vorsieht, sind schon deshalb für die Katz, weil die ungelabelten Websites nur einen Klick weiter auf ausländischen Servern zu finden sind. Und selbst wenn man die Kennzeichnungen weltweit einführen würde, wie es das freiwillige ICRA-Projekt einmal vorsah: US-amerikanische Einschätzungen derselben Inhalte würden sich von denen in Deutschland oder gar China deutlich unterscheiden. Daraus folgt, dass Insellösungen zum technischen Jugendmedienschutz im Internet genauso sinnfrei sind wie eine globale Filterliste. Google liefert genügend Beispiele dafür.

Derzeit reglementiert der Gesetzgeber deutsche Anbieter, steht aber Betreibern im Ausland hilflos gegenüber. Jugendmedienschutz, der deutsche Anbieter vergleichsweise schlecht stellt, um wirkungslose Maßnahmen durchzusetzen, darf künftig nicht der Weg sein. Außerdem müssen die verantwortlichen Gesetzgeber endlich weg von ihrem überkommenen Anbieterbegriff, der aus der Rundfunkregulierung stammt. Moderner Jugendmedienschutz müsste auf die Eigenheiten des Web eingehen. Und dazu gehört nun einmal, dass es nicht einen Sender und viele Empfänger gibt, sondern dass jeder Teilnehmer gleichzeitig Sender und Empfänger sein kann.

Wenn die KJM das Jugendschutzprogramm der Telekom anerkennt, dürfte der Konzern kräftig die Werbetrommel rühren. Eine Menge seiner Kunden werden es „nutzerautonom“ einstellen und einsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass die Eltern dieses Tool nicht als Ersatz dafür verstehen, ihre Kinder bei den ersten Reisen durchs Web zu begleiten. Bei manchem Inhalt „wird mir schon himmelangst, wenn ich daran denke, dass Kinder das sehen könnten“, sagte der neue KJM-Chef Siegfried Schneider. Er wird es nicht ändern können, denn das Internet bleibt zum Glück ein offenes, internationales Medium. Und dagegen helfen weder Sendezeitenbegrenzungen noch Alterslabel.

Vielleicht unterschätzt so mancher Politiker auch die Jugend. Die 16. Shell-Jugendstudie hat jüngst Überraschendes zu Tage gefördert: Jugendliche sind auch durch ihren nicht altersgemäßen Medienkonsum besser aufgeklärt als je zuvor. Die 14- bis 17-Jährigen haben deutlich später ihren ersten Sex, als gemeinhin angenommen. Die angebliche „Generation Porno“ schätzt mehrheitlich Treue, Vertrauen und Verhütung. Eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung des Web auf Jugendliche konnten die Forscher nicht bestätigen. Vielleicht könnte dies ein Anlass sein, die Debatte um den richtigen Jugendmedienschutz etwas gelassener fortzuführen. (hob)