Warum sind gerade so viele Kinder krank?​

Extrem viele Kleinen haben Atemwegsinfekte, besonders viele müssen deswegen ins Krankenhaus. Liegt das an einer "Immunschuld" oder ist es ein Nachholeffekt?

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Kinder mit medizinischen Masken verlassen die Schule

(Bild: David Tadevosian/shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

(This article is also available in English)

Die Lage ist ernst. Extrem viele Kinder sind durch heftige Atemwegsinfekte so krank, dass sie ins Krankenhaus müssen. Inzwischen sind aber kaum noch Betten für sie frei. Manche Kinderstationen können gar keine Kleinstpatienten mehr aufnehmen. Neben den Kinderstationen sind auch viele Kinderarztpraxen überlastet. Die überwiegende Zahl der Hospitalisierungen geht auf das RS-Virus zurück. RS steht für Respiratorisches Synzytial-Virus, kurz RSV. Dazu kommen auch Fälle von Kindern, die durch andere Erkältungsviren wie der Influenza schwer krank sind.

Warum aber sind gerade so viele Kinder auf einmal krank und das richtig schlimm? Als Grund sieht Martin Wetzke, Kinderarzt und RSV-Experte an der Medizinischen Hochschule Hannover, den sogenannten Nachholeffekt. Das heißt, dass kleine Kinder, die sich in der letzten oder sogar in der vorletzten RSV-Saison durch Coronaschutzmaßnahmen nicht mit RSV angesteckt haben, jetzt doch daran erkrankt sind. Es sind also mehrere Jahrgänge gleichzeitig krank, und damit ist auch die absolute Zahl derer größer, bei denen der RSV-Infekt schwer verläuft. Das ist meist bei der ersten Ansteckung der Fall.

RSV ist normalerweise ein klassischer Atemwegserreger. Meist geht die Infektion mit klassischen Erkältungsymptomen wie Halsschmerzen, Schnupfen und etwas Husten einher. “80 Prozent Kinder machen in den ersten beiden Lebensjahren mindestens eine RSV-Infektion durch”, sagt Wetzke. Etwa ein Drittel aller ersterkrankten Kinder wird zum Kinderarzt gebracht.

Zwei Prozent erkranken so schwer, dass sie hospitalisiert werden müssen. RSV kann bei ihnen eine schwere, auch Bronchiolitis genannte Lungenentzündung verursachen. Am größten ist das Risiko für ganz kleine Babys, insbesondere Frühchen. Auch kleine Kinder mit bestimmten Vorerkrankungen wie schwere Herzfehler und bestimmte Muskelschwächen sind gefährdeter.

In einer normalen RSV-Saison erkranken laut Wetzke 15.000 bis 20.000 Kinder schwer. Nun fiel aber die vorletzte Saison durch Coronaschutzmaßnahmen weitgehend aus. Letztes Jahr gab es auch eine große RSV-Welle, die nach den Lockerungen früher als normal startete: bereits im August statt im November. Sie lief laut Wetzke aber nicht länger als sonst und endete im Dezember statt im März. Dadurch habe es insgesamt nicht mehr Fälle als in einer normalen Saison gegeben. Wie es in der aktuellen, etwas früher Anfang Oktober gestarteten Saison läuft, müsse man abwarten.

Wetzke zufolge könnte noch ein zweiter Effekt zur RSV-Häufung beitragen: eine fehlende Immunisierung im Mutterleib. "Jede RSV-Infektion wirkt als Booster, das trifft natürlich auch auf die Mütter zu", so der Kinderarzt. Machen sie während der Schwangerschaft einen RSV-Infekt durch, können sie anschließend ihre Antikörper durch die Nabelschnur weitergeben. Infizierten sich mehr Mütter in der Schwangerschaft durch Masken und andere Schutzmaßnahmen nicht, geben sie das Antikörperset dieser Saison nicht weiter.

Dass in manchen Fällen vorangegangene Corona-Infektionen der Kinder ihr Immunsystem geschwächt und sie anfälliger für Infekte gemacht haben könnten, ist laut Wetzke zwar nicht undenkbar. Ein ähnlicher Effekt kenne man von Grippefällen. Erwiesen sei das aber bisher nicht.

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Ebensowenig sehen Experten die derzeit durch Presse und soziale Medien kursierende "Immunschuld" als Ursache. Damit ist eine hypothetische Schwächung des Immunsystems durch die Coronaschutzmaßnahmen gemeint – weil das Immunsystem keinen Kontakt zu Erregern gehabt haben soll. Tatsächlich reagiert das Immunsystem der Kinder normal, zumal es auch im Lockdown Kontakt mit allen möglichen Antigenen und auch Erregern hatte. Es reagiert auf RSV aber eben zeitverschoben.

Hat man öfter mit derselben Virussorte zu tun, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass man noch viele aktuellere Antikörper hat, sagt Reinhold Förster, Leiter des Instituts für Immunologie an der MHH kürzlich im Spiegel-Interview. Dann wehre man Erkältungen auch leichter komplett ab, noch bevor es zu Symptomen kommt. Ist der Kontakt länger her oder die Viren starker verändert, erkrankt man dagegen eher.

Inzwischen scheinen die Zahlen des Nationale Referenzzentrums für Influenzaviren am Robert-Koch-Institut nahezulegen, dass die Meldungen und die Positivrate für RSV nicht mehr steigen. Das bedeutet hoffentlich, dass die RSV-Welle ihren Höhepunkt erreicht hat. Ob das ein schnelles Sinken der schweren Fälle und eine zeitnahe Entlastung der Kliniken bringen kann, ist unklar. Experten sorgen sich zudem, dass die Influenzazahlen weiter steigen werden und die Kliniken weiter am Limit bleiben.

(vsz)