zurück zum Artikel

Was der Weltraum mit dem Astronautenkörper macht

Neel V. Patel

(Bild: NASA)

Die bislang größte Studie über den Gesundheitszustand von Raumfahrern gibt Hinweise darauf, womit bei zukünftigen Langzeitmissionen zu rechnen ist.

Scott Kelly [1] wurde berühmt durch die Tatsache, dass er insgesamt 340 Tage auf der Internationalen Raumstation (ISS) verbrachte – die längste Zeit, die je ein US-Raumfahrer im Weltraum verbracht hat. Seine Mission gibt Forschern nun grundlegende Einblicke darin, was mit einem menschlichen Körper während eines solchen Langzeit-Aufenthaltes im Orbit geschieht.

Weil Kelly einen eineiigen Zwilling hat, Mark (auch Astronaut und in Kürze US-Senator), hatten die Forscher eine seltene Möglichkeit: Während sie untersuchten, was mit Scotts Körper während seines Jahres im Weltraum geschehen ist, hatten sie mit Bruder Mark den Vorteil eines genetischen Kontrollsubjekts, das auf der Erde geblieben war. Dabei konnte die NASA-Zwillingsstudie mehr Erkenntnisse liefern als ursprünglich erhofft.

Was passiert, wenn ein Mensch sich in einer eingeschlossenen Kapsel unter Mikrogravität und längerer Strahlenexposition befindet? Das Immunsystem leidet, die Augenform verschlechtert sich und es kommt zu einem wesentlichen Verlust in der Muskel- und Knochenmasse. Das war bekannt. Doch es gab auch einige überraschende Folgen.

So erlebte Scott Kelly Veränderungen im Mikrobiom seines Darms, seine kognitiven Fähigkeiten verlangsamten sich, manche Gene wechselten zwischen aktiven und inaktiven Zustand, und seine Chromosomen durchliefen strukturelle Veränderungen. "Die Zwillingsstudie gab uns einen ersten Eindruck auf die molekularen Reaktionen eines menschlichen Körpers auf Weltraummissionen, aber die fehlenden Daten konnten nun gefüllt werden", sagt Christopher Mason, Associate Professor der Physiologie und Biophysik am Weill Cornell Medical College. "Die Veränderungen, die wir gesehen habe, mussten mit Parallelversuchen kontextualisiert werden. Wir brauchten zusätzliche Studien, um die Frequenz der Veränderungen, die wir bei anderen Astronauten und Organismen, die ins Weltall gehen, beobachtet haben, einordnen zu können. Außerdem mussten wir herausfinden, ob das Ausmaß der Veränderungen auch bei kürzeren Missionen ähnlich war."

Mehr von MIT Technology Review Mehr von MIT Technology Review [2]

Der Zwillingsstudie folgte eine umfangreiche, darauf aufbauende Forschungsreihe, die vorhandene Originaldaten mit neuen Techniken und verfügbaren Vergleichen anderer Astronauten neu analysierte. Eine Reihe von neunzehn Studien wurde im November in einigen wissenschaftlichen Zeitrschriften veröffentlicht, darunter befinden sich noch zehn Paper im Preprint-Stadium, die noch begutachtet werden. Forscher wie Mason, ein Hauptautor von vierzehn der Paper, untersuchten die physiologischen, biochemischen und genetischen Veränderungen, die in 56 Astronauten, die im All waren (einschließlich Kelly), zu sehen waren. Es handelt sich um die größte diesbezügliche Studie, die je durchgeführt wurde. Die neuen Paper beinhalten Ergebnisse der Erstellung von Zellprofilen sowie Gen-Sequenzierungstechniken, die erst seit kurzem leichter durchzuführen sind. Sie zeigen, dass es "einige Veränderungen bei Reisen ins All gibt, die konsistent in Menschen, Mäusen und anderen Tieren auftauchen", sagt Mason. "Es scheint sich um eine Reihe von Kernanpassungen von Säugetieren zu handeln und um Reaktionen auf die Härten der Raumfahrt."

Die Forscher heben sechs biologische Veränderungen hervor, die bei sämtlichen Astronauten während der Ausflüge ins All auftauchten: oxidativer Stress (eine exzessive Ansammlung freier Radikale in Körperzellen), DNA-Schäden, Dysfunktionen der Mitochondrien, Veränderungen in der Genregulation, Abweichungen in der Länge von Telomeren (dem Ende von Chromosomen, das sich mit dem Alter verkürzt), und Veränderungen im Mikrobiom des Darms.

Von diesen sechs Veränderungen war die größte und überraschendste für Wissenschaftler die zelluläre Dysfunktion. Das Mitochondrium übernimmt eine kritische Funktion in der Produktion chemischer Energie, die zum zweckmäßigen Erhalt von Zellen benötigt wird – und schließlich auch für Gewebe und Organe. Bei den Untersuchungen wurde ein irreguläres mitochondrisches Verhalten in Dutzenden von Astronauten gefunden. Mittels neuer Techniken konnten diese Veränderungen breit charakterisiert werden. Afshin Beheshti, ein Bioinformatiker der NASA und Hauptautor einer der Studien, sagt, dass diese Veränderungen helfen, die vielen Probleme der Astronauten zu erklären, darunter Defizite beim Immunsystem, Unterbrechungen des Biorhythmus und organische Komplikationen. Sie sind allesamt durch die Nutzung der selben metabolischen Pfade ganzheitlich miteinander verbunden. "Wenn Sie im Weltall sind, dann wird nicht nur ein einzelnes Organ davon betroffen, sondern der ganze Körper", sagt Beheshti. "Wir beginnen, diese Punkte miteinander zu verbinden."

Weitere Forschung verdeutlichte Probleme auf der genetischen Ebene. Die Zwillingsstudie zeigte, dass Kellys Telomere sich im All verlängerten, bevor sie kurz nach seiner Rückkehr auf die Erde auf normale oder sogar kürzere Länge zurückschrumpften. Telomere sollen mit dem Alter kleiner werden, eine Verlängerung macht also wenig Sinn, und die Zwillingsstudie ergab nicht genug Daten, um an dieser Stelle fundierte Schlüsse zu den Ursachen und Wirkungen zuzulassen.

Susan Bailey, Expertin für Telomere an der Colorado State University und eine Hauptautorin von einigen der Paper, erklärt, dass die neuere Forschung bei zehn weiteren Astronauten die gleiche Art der Verlängerung wie bei Kelly festgestellt hat, unabhängig von der Dauer der Mission. Auch bei den anderen schrumpften sie nach Rückkehr auf die Erde wieder. Bemerkenswerterweise stellt eine der neuen Publikationen fest, dass längere Telomere auch mit dem Bergsteigen auf dem Mount Everest in Verbindung gebracht werden. Für Bailey und ihre Kollegen ist das ein Hinweis darauf, dass die Telomer-Verlängerung mit oxidativem Stress zusammenhängt – etwas, das sowohl Bergsteiger als auch Astronauten erleben und was die reguläre Instandhaltung von Telomeren unterbricht.

Wie genau diese Signalwege funktionieren und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, bleibt noch offen, aber "wir haben eine Grundlage, auf der wir aufbauen können – wir wissen, wonach wir schauen und worauf wir achten müssen, wenn Astronauten in Zukunft auf lang andauernde Erkundungsmissionen gehen", so Bailey. Obwohl einige der Veränderungen so nicht erwartet wurden, sind sie in der Regel kein Grund zur Beunruhigung. "Mir kommt dieses Anpassungsvermögen ans Weltall erstaunlich vor", sagt Jeffrey Sutton, Direktor am Baylor College of Medicine's Center for Space Medicine, der die Studie kennt. Bei Kelly nahmen Blutzellmutationen während seines Aufenthaltes im All ab (was Mason komplett überraschte). Astronauten zeigen zudem ein vermindertes Level von Biomarkern, die mit Alterungsprozessen in Verbindung stehen – und einen erhöhten Level von Mikro-RNA, die die Antwort des Gefäßsystems auf Strahlungsschäden und Mikrogravität regulieren. Eine der seltsamsten Entdeckungen war, dass die Mikrobiome der Därme von Astronauten fähig waren, Mikroorganismen, die auf der ISS vorhanden sind, auf die Erde zu bringen. "Die Studien sind jeweils für sich und im Gesamten wirklich beeindruckend", sagt Sutton. "Wir haben eine neue Ära der biomedizinischen Weltraumforschung eingeläutet."

Letztlich macht die Datenlage jedoch sehr deutlich, welch Stress und Durcheinander selbst den gesündesten Körper im Weltall erwartet. Auf die Planung späterer Missionen dürfte das einen Einfluss haben. "Ich glaube nicht, dass wir in absehbarer Zeit auch nur annähernd so weit sein werden, Menschen ins All zu schicken, die dafür nicht ausgebildet sind", sagt Scott Kelly. Physiologisch hält er es für sicher, Menschen auf einen Roundtrip zum Mars zu senden. In der Zukunft jedoch werde man wahrscheinlich Jupiter und Saturn zum Ziel wählen, vermutet er. "Man ist dann gleich mehrere Jahre im All. Und wenn es soweit ist, wird man sich künstliche Schwerkraft als entlastendes Mittel genauer ansehen müssen. Ich würde nicht gerne auf der Oberfläche eines anderen Planeten ankommen und nicht in der Lage sein zu funktionieren. Ein Jahr oder so ist machbar. Mehrere Jahre sind es wohl nicht."

Der Mensch ist noch weit davon entfernt, diese Arten von Risiko beurteilen zu können. Mason und seine Kollegen sehen die Notwendigkeit von pharmakologischen Strategien, die den Einfluss der Schwerkraft auf die Körper von zurückkehrenden Astronauten abmildern. Sutton glaubt, dass Präzisionsmedizin eine große Rolle darin spielen könnte, Medikamente anzufertigen, die Astronauten vor den Folgen von Mikrogravität und Strahlung schützen. Die gemeinsamen biologischen Reaktionen von Astronauten und Mount-Everest-Bergsteigern lassen vermuten, dass einige der Interventionen, mit denen Extremsportler vor oxidativem Stress geschützt werden, auch bei Astronauten angewandt werden könnten. Die Forscher wollen außerdem Menschen untersuchen, die zumindest in gewisser Weise ähnliche Konditionen wie Weltraumreisende erlebt haben, beispielsweise Patienten der Strahlentherapie, Piloten und Flugbegleiter. "Je mehr wir über gesundheitliche Auswirkungen von längeren Weltraumreisen wissen, umso besser werden wir in der Lage sein, Gesundheit und Leistung von Astronauten während und nach des Weltraumreisens zu bewahren", sagt Bailey. "Solch ein Wissen hilft uns sehr auf der Erde – wir alle machen uns Sorgen ums Älterwerden und darum, dann in keiner guten gesundheitlichen Verfassung zu sein."

Mehr von MIT Technology Review Mehr von MIT Technology Review [3]

(bsc [4])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4974513

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/hintergrund/Aufenthalt-im-All-verjuengt-die-Gene-4306477.html
[2] https://www.heise.de/tr/
[3] https://www.heise.de/tr/
[4] mailto:bsc@heise.de