Wettkampf der Profile

Mit genetischen Algorithmen konnten Forscher innerhalb kürzester Zeit Reifenprofile verbessern. Doch für den Serieneinsatz kommen sie zu früh.

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Unter dem Stichwort Bionik versammelt der Reifenhersteller Continental in seinem Marketingmaterial einen halben Zoo: Katzen, Eisbären, Spinnen und Baumfrösche werden dort als Vorbilder für Reifenaufbauten, Gummimischungen und Profilformen genannt.Bei den Profilen jedoch, die die beiden Reifenentwickler Reinhard Mundl und Jens Hoffmann für das Unternehmen entwickelt haben, ist vom Vorbild Fauna auf den ersten Blick nichts zu sehen. Und doch stand auch hier die Natur Pate – allerdings in einem abstrakteren Sinne: Mundl und Hoffmann haben gemeinsam mit Michael Stache, Bionik-Forscher an der TU Berlin, die Evolutionsprinzipien Fortpflanzung, Mutation und Selektion dazu benutzt, um die Aquaplaning- Eigenschaften von Reifen zu verbessern. Dabei konnten sie schnell erste Erfolge erzielen – stießen aber ebenso schnell an die derzeitigen Grenzen der Digitalisierung.

ZUFALL MIT SYSTEM

Am Anfang stand ein „richtungsorientierter Zweiriller“: ein einfaches Profil mit zwei durchgehenden Längsrillen und geraden, schräg davon abgehenden Querrillen. Dieser Zuschnitt hatte sich bei Nässe bewährt. Doch lässt er sich noch verbessern – und wenn ja, wie?

Schon das schlichte Grundlayout kann in nahezu unendlich viele Richtungen variiert werden. „Bei der konventionellen Entwicklung wird immer nur ein Parameter, etwa die Breite der Rillen, verändert und dann geschaut, wie sich die Eigenschaften des Reifens verändern. Die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Parametern erfasst man so aber nicht“, erklärt Hoffmann.

Zudem werde auf diese Weise nicht konsequent der gesamte Raum der Kombinationsmöglichkeiten ausgelotet. Sein damaliger Mentor Mundl ergänzt: „Die eigene Erfahrung versperrt einem Reifenentwickler manchmal den Blick auf neue Möglichkeiten. Computer sind da völlig unbekümmert.“ Gesucht wurde also ein Verfahren, das einen Pfad durch die unzähligen Variationsmöglichkeiten schlägt, ohne sie stumpf durchzudeklinieren, also Zufall mit System verbindet. Mundl und Hoffmann versuchten es mit genetischen Algorithmen.

Zunächst legten sie die Eckpunkte fest: Die Geometrie des Ausgangsprofils wurde durch elf variable Parameter beschrieben – Abstand und Breite der Längsrillen, Krümmung und Ausrichtung der Querrillen und so weiter. Vier Parameter – Aufstandsfläche („Latsch“), Durchmesser, Breite sowie das Verhältnis von Positiv- zu Negativprofil – wurden konstant gehalten, damit wirklich nur die Anordnung der Rillen den Ausschlag geben konnte. Mit diesen Daten fütterten die Reifenforscher eine an der TU Berlin geschriebene Software, die die Parameter nach dem Zufallsprinzip veränderte, analog zur Mutation in der Natur.

Dann wählten sie zehn möglichst unterschiedliche genetisch veränderte Profile aus, um sie als Prototypen bauen und testen zu lassen. Pro Reifen kostet das laut Hoffmann rund 1500 Euro. Diese aufwendigen Versuchsreihen haben sich als Flaschenhals des Verfahrens erwiesen. Denn die große Stärke der genetischen Algorithmen, nämlich mit einer großen Variantenvielfalt umgehen zu können, verkehrt sich in ihre Schwäche, wenn jede dieser Varianten physikalisch getestet werden muss.

Doch immerhin: Schon in der ersten Generation entstanden Profile, die bei Nässe eine um rund 120 Prozent höhere Geschwindigkeit als ein völlig profilloser Reifen verkraften, ohne aufzuschwimmen. Zum Vergleich: Der Serienreifen, der als Referenz getestet wurde, schaffte etwas mehr als 115 Prozent. Das Rezept der erfolgreichen Profile: Die Querrillen weiten sich nach außen in Laufrichtung auf. Bei klassischen Profilen bleibt die Breite der Querrillen gleich, oder sie haben eine Krümmung gegen die Laufrichtung. Wäre man auch mit konventionellen Entwicklungsmethoden auf diesen Dreh gekommen? Hoffmann: „Vermutlich ja. Aber nicht so schnell.“

Die beiden besten Exemplare der ersten Generation durften sich fortpflanzen. Dazu wurde der Mittelwert ihrer Parameter als Input für einen neuen Durchlauf benutzt. Damit es von Generation zu Generation Fortschritte gibt, muss die Schrittweite richtig eingestellt werden – also das Ausmaß, in dem die Software die einzelnen Parameter verändern darf. „Solange etwa ein Fünftel der Nachkommen eine Verbesserung gegenüber der Elterngeneration darstellen, befinden wir uns im evolutionären Fenster, sind also auf dem Weg zur Optimierung“, sagt TU-Forscher Stache. Tatsächlich konnten zwei der zehn Kinder-Profile ihre Eltern übertreffen, wenn auch nur knapp.

KRAFT AUF DIE STRASSE BRINGEN

Wie kann das sein – haben die Forscher schon in den ersten beiden Generationen auf Anhieb das nahezu perfekte Profil erwischt? „Das fanden wir auch erstaunlich“, sagt Hoffmann. „Wir hoffen natürlich, dass wir bereits das Optimum erreicht haben, aber genau wissen wir das nicht.“ Stache meint dazu: „Um das genau beantworten zu können, müsste man mehrere Generationen durchlaufen lassen.“ Wegen des großen Testaufwands wurde das Projekt aber bereits nach der zweiten Generation abgebrochen. Geplant waren sechs.

Die Tests sind so komplex, weil unter anderem die Verformung jedes Profilblocks sowie die Ströme von Luft und Wasser in jeder Rille modelliert werden müssen. „Ich rechne mit einsatzfähiger Simulationssoftware in frühestens zwei bis drei Jahren“, sagt Hoffmann. Erst wenn der gesamte Zyklus aus Fortpflanzung, Mutation und Selektion vollständig im Rechner abläuft, werden genetische Algorithmen ihre Kraft richtig auf die Straße bringen können. Denn allein die Optimierung einer bestimmten Eigenschaft hilft den Reifenbauern nur begrenzt weiter. Das Profil beispielsweise, das sich als besonders aquaplaningfest herausgemendelt hat, besitzt breite Rillen an den Reifenflanken. So ergibt sich ein Zielkonflikt, denn genau das ist schlecht für das Handling. Die Kombination von genetischen Algorithmen mit Simulationssoftware könnte, so Hoffmanns Vision, eines Tages nicht mehr nur einen Aspekt optimieren, sondern den besten Kompromiss für alle relevanten Eigenschaften von Sicherheit über Verbrauch bis hin zum Fahrkomfort ermitteln. (wst)