Wie chinesische Tech-Firmen Gamification auf die Spitze treiben

Die sogenannten roten Pakete sind eine Tradition zum chinesischen Neujahrsfest. Chinesische Tech-Firmen beteiligen sich auch –​ und verdienen damit reichlich.

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Die roten Umschläge – auch bekannt als hóngbāo, "rote Päckchen" oder sogar "Glücksgeld".

(Bild: Wikimedia Commons / TENgna SHLismao / cc by-sa 4.0)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Zeyi Yang

Fragt man ein Kind in China, was das Aufregendste am Chinesischen Neujahrsfest ist, so wird es wahrscheinlich antworten: die roten Pakete. Während der Feiertage verteilen die Menschen diese Pakete in Form von roten Umschlägen mit Geld an junge Familienmitglieder. Bis zum Abschluss der Schule und dem Beginn einer Vollzeitbeschäftigung kann man zuverlässig jedes Jahr Geldgeschenke erhalten.

Diese seit Jahrhunderten bestehende festliche Tradition muss sich inzwischen dem digitalen Zeitalter stellen: Die roten Umschläge haben sich nicht nur von einer physischen zu einer digitalen Aktivität entwickelt. Sie ermöglichen es chinesischen Technologieunternehmen auch, jedes Jahr einen Haufen Geld zu verdienen und neue Nutzerinnen und Nutzer zu gewinnen. Diese müssen im Gegenzug allerdings immer kompliziertere Regeln befolgen, um ein bisschen Geld zu bekommen.

Die Digitalisierung des Schenkens mit roten Umschlägen begann in den frühen 2010er Jahren, als Super-Apps wie Alipay und WeChat es ermöglichten, Geld über Smartphones zu senden und zu empfangen. Passend dazu führten sie Mechanismen ein, die der Tradition der roten Pakete neues Leben einhauchten, etwa ein System der zufälligen Zuteilung, bei dem die Leute ein riesiges rotes Paket in einen Gruppenchat stellen und jeder, der es öffnet, einen zufälligen Anteil des Gesamtbetrags erhält. Das Versprechen variabler Belohnungen erhöht das Gefühl der Aufregung, wenn man einen großen Anteil erhält.

Im Jahr 2015 beschloss WeChat, während der Frühlingsfest-Gala, einer jährlichen Tradition in China, die viele Familien vor dem Fernseher verfolgen, rote Pakete im Wert von über 80 Millionen Dollar zu verteilen. Um einen Anteil an den roten "Geschenken" von WeChat zu erhalten, mussten die Leute ihr Telefon zu einer bestimmten Zeit der Show schütteln. Nach Angaben von WeChat schüttelten die Menschen während des gesamten Neujahrsfestes 11 Milliarden Mal ihre Telefone. In der Spitze schüttelten die Menschen ihre Telefone 800 Millionen Mal in nur einer Minute.

Dieser enorme Erfolg inspirierte so ziemlich jedes andere Technologieunternehmen in China, sich an dem Spiel zu beteiligen und Millionen von Dollar auszuschütten. Heute bietet jede größere App im neuen Jahr eine Version dieser Aktion an. Die Teilnahme ist allerdings viel komplizierter geworden.

Um zum Beispiel an einem der diesjährigen roten Pakete auf Douyin, der chinesischen Version von TikTok, teilzunehmen, müssen die Nutzer eine Reihe von Aufgaben erfüllen: sich jeden Tag einloggen, neue Nutzer auf die Plattform einladen, einen Avatar hochladen, bestimmten Konten folgen, einen Gruppenchat einrichten, ein Gif im Gruppenchat posten, einen Videoanruf tätigen, ein Video hochladen, eine Mindestzeit lang Videos ansehen und andere Apps herunterladen. Je mehr Zeit man bereit ist, für diese Aufgaben aufzuwenden, desto mehr wird man von der App belohnt.

In den 2010er Jahren erlebte Chinas mobiler Internetsektor ein immenses Wachstum, und eines der bleibenden Ergebnisse ist, dass Apps sehr raffinierte Spielereien entwickelt haben, um Nutzer und Besucher anzuziehen – Stichwort Gamification. Die Neujahrsaktion mit den roten Paketen ist im Grunde genommen der Höhepunkt dieser Werbetricks.

Viele Menschen haben inzwischen nicht mehr die Zeit, jedes einzelne Minispiel mitzumachen. Zumal die Auszahlung im Vergleich zum Aufwand immer miserabel ist: Bin ich bereit, fünf meiner Schulfreunde, mit denen ich seit Jahren nicht mehr gesprochen habe, eine Nachricht zu schicken, um umgerechnet fünf Euro zu erhalten? Eher nicht.

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Andere Menschen nehmen die Sache allerdings ernst: Wie chinesische Publikationen berichtet haben, studieren einige Menschen, vor allem die weniger wohlhabenden, die Regeln dieser Spiele mit den roten Paketen gründlich, in der Hoffnung, damit ein Vermögen zu machen. Da die Spiele soziale Interaktionen belohnen, bezahlen manche Leute andere sogar mit ihrem eigenen Geld, um mitzuspielen. Es sind sogar neue Apps aufgetaucht, die Menschen, die versuchen, das System auszutricksen, miteinander verbinden.

Außenstehende bekamen diese Seite der chinesischen Techbranche bislang meistens nicht mit. Das ändert sich langsam. Mit Temu, der chinesischen App für ultraschnellen E-Commerce, die gerade Millionen von Dollar für Super-Bowl-Werbung ausgegeben hat und auch in Deutschland genutzt wird, können auch Nutzerinnen und Nutzer außerhalb Chinas einen Eindruck von den Marketing-Spielereien gewinnen.

Das sich drehende Rad mit Gutscheinen, die nicht enden wollende Aufforderung, neue Freunde einzuladen, und Minispiele, die einen bei der Stange halten soll – all das sind nur einige der Taktiken von Temu und Co., mit denen chinesische Nutzer nur allzu vertraut sind.

Je erfolgreicher die chinesischen Plattformen international werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir vielleicht auch bald in Europa und den USA virtuelle rote Pakete (oder Umschläge) verschicken – oder in der Hoffnung auf Gewinne unser Smartphone schütteln.

(jle)