Wikipedia und Wikia Search: Neutralität ist eine Herausforderung

Jimmy Wales gilt als einer der Vordenker der digitalen Wissensgesellschaft. Im Gespräch mit c't erläuterte er seine Beweggründe und die weiteren Ziele für seine Projekte.

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Von
  • Torsten Kleinz
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Jimmy Wales gilt als einer der Vordenker der digitalen Wissensgesellschaft. Als Wertpapierhändler war der 41-Jährige in den 90er-Jahren zu Geld gekommen und gründete in den 90er-Jahren in Florida die Firma Bomis. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit der Erstellung einer freien Internet-Enzyklopädie – Ergebnis war die freie Internet-Enzyklopädie Wikipedia, die in den letzten sieben Jahren zu einer der 10 meistaufgerufenen Webseiten des Internets wurde.

Wales gründete 2003 die Wikimedia Foundation, die als gemeinnützige Stiftung das Projekt Wikipedia und zahlreiche Schwester-Projekte verwalten sollte – er selbst kehrte wenig später mit seiner neuen Firma Wikia in die Rolle des Unternehmers zurück.

Jimmy Wales, Begründer der Wikipedia, der mit Wikia Search die Community für Suchmaschinen einbinden will: "Ich glaube an freie Software und frei lizenzierte Inhalte."

Für viel Aufsehen sorgte sein neues Projekt Wikia Search, das mit dem Einsatz von Open-Source-Software und der Einbindung einer Community klassischen Scuhmaschinen wie Google den Rang ablaufen soll. Im Gespräch mit c't erläuterte er seine Beweggründe und die weiteren Ziele für seine Projekte.

c't: Mit Wikia Search wollen Sie die Internetsuche neu erfinden. Sind Google, Yahoo oder MSN so schlecht, dass das nötig ist?

Jimmy Wales: Nun, MSN ist ziemlich schlecht – die Suche bei Google und Yahoo ist aber ziemlich gut geworden. In den letzten Jahren haben sich beide aber nicht wirklich weiterentwickelt. Ich glaube, es gibt Möglichkeiten, die Suchqualität noch weiter zu erhöhen.

c't: Was wollen sie konkret verbessern?

Wales: Der Hauptunterschied liegt in der Transparenz. Google legt nicht offen, wie sie ihre Suchergebnisse gewichten. Wir hingegen verwenden Open-Source-Software, veröffentlichen die Algorithmen, die wir verwenden. Zusätzlich wollen wir alle redaktionellen Entscheidungen an eine Community übergeben. Wir erforschen noch, wie wir das konkret umsetzen können. Es gibt sicher einige Herausforderungen, um dieses Ziel zu erreichen – aber gerade das finde ich faszinierend.

c't: Welche Fragen soll Wikia Search beantworten, die Google nicht beantworten kann?

Wales: Große Möglichkeiten gibt es im Bereich der mobilen Suche. Ich wollte zum Beispiel den Film "Harry Potter und der Orden des Phoenix" ansehen und suchte bei Googles mobiler Suche nach den Anfangszeiten des Films. Obwohl ich mich in San Francisco befand, suchte mir Google die Anfangszeiten in Phoenix heraus. Das war nicht das, was ich wollte. Für einen Computer ist die richtige Antwort ein komplexes Problem – ein Mensch hingegen sieht sofort, dass die gelieferte Antwort nicht richtig ist. Deshalb glaube ich, dass man mehr menschliche Intelligenz in den Prozess der Internetsuche bringen sollte.

c't: Das haben schon viele Anbieter probiert, zum Beispiel stellt ChaCha.com den Nutzern menschliche Suchhelfer zur Verfügung.

Wales: Es geht nicht darum, dass Menschen das tun, was Maschinen tun sollten – das macht keinen Sinn. Bei der Volltext-Suche ist die maschinelle Suche mit Hilfe von Algorithmen der richtige Weg. Computer sollten das tun, was sie am besten können, und Menschen sollten das tun, was sie am besten können.

c't: Wie soll das konkret aussehen? Die Nutzer von Wikia Search werden aufgefordert, Links mit einem bis fünf Sterne zu bewerten. Sollen auf diese Weise alle Internetseiten bewertet werden?

Wales: Das sicher nicht. Anhand dieser Bewertungen können wir zum Beispiel die Ergebnisse verschiedener Such-Algorithmen vergleichen. Wir stellen uns die Frage: Liefert der Algorithmus das, was ein menschlicher Nutzer als sinnvoll einstuft? Auch Google und die anderen Suchmaschinen tun dies. Sie haben ihre Qualitätsabteilungen, die sich die Suchergebnisse sehr genau anschauen und ihre Erkenntnisse an die Entwickler weiterleiten. Wir überlegen, auf welchen Wegen wir von den Nutzern qualitatives Feedback bekommen können. Zum Beispiel über den Einsatz von Toolbars oder Social Bookmarking. Das ist eine große Aufgabe.

c't: Um bessere Suchergebnisse als Google zu bekommen, benötigen sie also mehr Leute, die ihnen Feedback geben?

Wales: Wahrscheinlich ja.

c't: Wie viele?

Wales: Das wissen wir noch nicht. Wir haben die Suchmaschine erst vor zwei Wochen online gestellt. In wenigen Tagen werden wir die ersten Feedbacks der Nutzer auswerten und veröffentlichen. Wir müssen mehrere solcher Feedback-Zyklen abwarten, um genau bestimmen zu können, wie viele Daten wir brauchen werden.

c't: Wie wollen Sie Leute motivieren, an ihrem Projekt mitzuarbeiten? In Wikipedia kann man sofort die Ergebnisse seiner Arbeit sehen, bei Wikia Search werden die Auswirkungen aber nicht so schnell spürbar sein.

Wales: Teilweise schon. Zum Beispiel kann die Community zu Suchbegriffen kleine Mini-Artikel verfassen. Aber Sie haben Recht: Bei der algorithmischen Suche wird es länger dauern, bis die User das Ergebnis ihrer Arbeit sehen. Wir müssen uns bemühen, diese Zeitspanne möglichst gering zu halten. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man sieht, dass die eigene Arbeit einen Effekt hat.

c't: Werden die Nutzer nur Feedback geben oder können Sie direkt Einfluss auf die verwendeten Algorithmen nehmen?

Wales: Beides ist der Fall. Nutch ist ein bestehendes Open-Source-Projekt der Apache Foundation, das wir zur Erstellung unserer Ergebnislisten nutzen. Wir gehören mittlerweile zu den Hauptzulieferern zu dem Projekt, arbeiten aber selbstverständlich mit der bestehenden Community zusammen.

c't: Sie sind nicht alleine bei der sozialen Suche. Ihr Konkurrent Mahalo bindet auch Freiwillige in das Projekt ein – bezahlt sie aber für ihre Arbeit. Könnte das ein Erfolgsmodell sein?

Wales: Bisher haben sie zumindest keinen Erfolg damit (lacht). Ich finde es gut, diejenigen zu bezahlen, die zum Ergebnis beitragen. Allerdings habe ich noch kein Konzept gesehen, wie man das vernünftig umsetzen kann. Ich glaube an freie Software und frei lizenzierte Inhalte. Mahalo hingegen verfolgt mehr den Ansatz eines klassischen redaktionellen Angebots. Sie können sicherlich einige gute Inhalte produzieren, aber ich glaube nicht, dass dies der richtige Ansatz für das Web 2.0 ist. Aber die Zeit wird zeigen, welches Konzept sich durchsetzt.

c't: Die Nutzer von Wikia scheinen sich viel lieber über Dinge auszutauschen, die ihnen Spaß machen: so zum Beispiel über World of Warcraft oder Star-Trek-Charaktere. Können Sie Internetsuche zu einem Projekt machen, das dem Nutzer tatsächlich Spaß macht?

Wales: Ich will es zumindest versuchen. Wenn man glaubt, dass die Leute umsonst für einen arbeiten, hat man ein sehr merkwürdiges Weltbild. Man muss den Nutzern einen Grund geben, das zu tun, was sie tun. Zum Beispiel stellt niemand bei YouTube Videos ein, weil er umsonst für das Unternehmen arbeiten will – die Nutzer verwenden die Tools, um ihre Videos zu verwalten und ein Publikum zu finden.

c't: Sind sie nicht besorgt, dass Wikia Search am Ende bei jeder Suche Tausende von Simsons-Fanseiten ausgibt?

Wales: Lassen Sie es mich anders formulieren: Die Herausforderung ist ein "systematischer Bias". Das heißt: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Lesern und den Autoren einer Seite. Dieses Problem haben wir auch in der Wikipedia: Wir fingen dort mit Themen an, die besonders für Leute interessant sind, die in der Wikipedia mitarbeiten: Technik-Themen, Geek-Kultur – bei anderen Themen wie der bildenden Kunst oder Wirtschaft sind wir eher schlecht aufgestellt.

Das Gleiche wird wahrscheinlich bei Wikia Search auftreten. Die besten Suchergebnisse wird es zunächst in den Themenbereichen geben, die für die Community besonders interessant sind. Wir müssen darauf achten, dass wir für immer neue Benutzerkreise attraktiv werden, sodass wir möglichst viele Interessen abdecken. Das ist eine der zentralen Herausforderungen des ganzen Projekts.

c't: In der deutschen Selbstbeschreibung der Wikipedia heißt es: "Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie" – wann wird Wikipedia zur Enzyklopädie?

Wales: Ich glaube, Wikipedia ist bereits eine Enzyklopädie. Die eigentliche Frage ist: Haben wir gute Informationen zu den Themen? Wenn wir uns die englische Wikipedia ansehen, bin ich ziemlich sicher, dass wir ziemlich jedes Themengebiet bis zu einem gewissen Grade abdecken. Wir werden aber noch lange Zeit gewisse Ungleichgewichte in der Wikipedia haben, die davon abhängen, wer sich an der Wikipedia beteiligt. Im Brockhaus haben wir ähnliche Ungleichgewichte – auch wenn wir sie nicht als solche wahrnehmen. Hier finden sich mehr Themen, die Professoren und Akademiker interessieren – aber fast nichts über die Simpsons.

c't: Wie steht es mit der Neutralität? In der deutschen Wikipedia werden in Artikel zu Wirtschaftsthemen tendenziell eher linke Thesen vertreten.

Wales: Im Normalfall regeln sich solche Dinge recht gut von selbst. Selbst wenn die Wikipedianer bestimmte Standpunkte vertreten, sehen sie die Notwendigkeit einer ausgeglichenen Darstellung der Themen. Wir haben manchmal Probleme mit Leuten, die an die biblische Schöpfungslehre und nicht an die Evolution glauben. Wir tendieren dazu, solche Leute als Verrückte zu behandeln – was viele davon auch sind. Doch dabei geraten wir in die Gefahr, valide Kritik an den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen zu übersehen. Wikipedia neigt dazu, die Standpunkte der "Geek-Intelligenzia" abzubilden. Aber ich glaube, wir schaffen es ziemlich gut zumindest, die wesentlichen Punkte in allen Themenbereichen korrekt abzuhandeln.

c't: Im Bereich Qualitätskontrolle gibt es aber noch Verbesserungsbedarf. So kündigten Sie vor anderthalb Jahren in Göttingen die Einführung stabiler Artikel-Versionen an, die von Nutzern und Experten auf Korrektheit überprüft werden sollten. Hat das Projekt Fortschritte gemacht?

Wales: Bedauerlicherweise nicht annähernd genug. Es ist fast peinlich, darüber zu sprechen – ich bin nicht mal sicher, was die Realisierung der stabilen Versionen zurzeit noch aufhält. Wir wollen allerdings sehr vorsichtig mit solchen Neuerungen sein, da sie das komplette System der Wikipedia verändern können. Wenn man ein solches Experiment startet, kann man es nicht einfach zum Misserfolg erklären und rückgängig machen – Menschen stellen sich auf die neuen Regeln ein, das gesamte soziale Gefüge ändert sich. Ich bin aber ziemlich sicher, dass wir bald eine Testversion veröffentlichen werden.

c't: Die neue Wikimedia-Geschäftsführerin Sue Gardner gab der c't vor einigen Wochen ein Interview. Darin sprach sie vom großen Finanzbedarf der Wikimedia Foundation. Glauben Sie, dass sie das benötigte Geld über Großspenden einnehmen können?

Wales: Ja, da bin ich mir ziemlich sicher. Die Frage ist nicht: Können wir überleben? Uns geht es um die Frage: Können wir unser Potenzial erreichen? An den stabilen Versionen sehen wir, dass wir bisher nicht die Möglichkeiten hatten, solche Projekte ordentlich voranzubringen. Ein weiteres Beispiel ist die Verteilung der Wikipedia-Inhalte in verschiedenen Sprachen rund um die Welt: Wir sind sehr gut in Englisch oder Japanisch, bei den afrikanischen Sprachen sind wir aber noch sehr schlecht. Wir überlegen, wie wir diese Menschen erreichen können. Dazu gehört etwas mehr als nur im Internet präsent zu sein, man muss das Projekt in den Ländern selbst bewerben. Momentan haben wir nicht die nötigen Finanzmittel dafür. Immerhin haben wir schon eine Konferenz "Wikipedia Academy" in Südafrika abgehalten. Wir würden gerne mehr solcher Aktionen starten, haben dafür derzeit aber noch nicht die notwendigen Ressourcen.

c't: Planen Sie Partnerschaften mit anderen Organisationen?

Wales: Ja, unbedingt. Als Kooperationspartner waren wir in der Vergangenheit für andere Orgnisationen etwas schwierig, da wir ein relativ loser Zusammenschluss von Freiwilligen sind. Mit uns zu verhandeln, war teilweise wie mit einem Zirkus zu reden. Sue Gardner entwickelt die Organisation weiter, stellt ein neues Team zusammen. Wir hoffen, bald in der Lage zu sein, um mit anderen Organisationen in vernünftiger Weise kooperieren zu können.

c't: Ihnen persönlich öffnet Wikipdia bereits heute viele Türen.

Wales: Das ist wahr. Neulich wurde ich bei einer Konferenz in Japan gefragt, wie man das Startkapital für neue Unternehmen organisieren kann. Ich sagte: Gründen Sie eine Stiftung, die eine der Top-10-Webseiten der Welt betreibt. Dann ist es einfach, Kapital zu beschaffen (lacht). Wäre ich der Mann, der ich vor sechs Jahren war – und hätte den Plan, eine Open-Source-Suchmaschine zu starten –, ich säße sicher nicht hier und müsste 25 Interviews in zwei Tagen geben. Allerdings sind die Erwartungen an meine neuen Projekte durch den Erfolg mit Wikipedia auch sehr hoch.

c't: Sie wurden vom Weltwirtschaftsforum als "Young Global Leader" nach Davos eingeladen, um mit den Spitzen von Wirtschaft und Politik über die Zukunft zu sprechen.

Wales: Ich war schon im vergangenen Jahr in Davos, wurde aber erst in letzter Minute dazu geladen. In diesem Jahr wird es etwas anstrengender: Ich habe noch nie einen so vollen Terminkalender gehabt wie in diesen Tagen, ein Meeting kommt nach dem anderen. In den Gesprächen will ich Dinge zur Sprache bringen, die wichtig sind für Wikimedia: dass wir eine gemeinnützige Organisation sind und auch noch Spenden benötigen. Wenn sich Gelegenheit dazu ergibt, möchte ich auch die rechtlichen Voraussetzungen für ein Projekt wie Wikipedia ansprechen: Wir brauchen zum Beispiel Meinungsfreiheit und vernünftige Urheberrechtsgesetze. Ich weiß nicht, ob die Politiker auf mich hören werden, aber mit einigen werde ich sicher reden.

c't: Möchten Sie auch für finanzielle Unterstützung durch Staaten werben?

Wales: Eher nicht. Staatliche Unterstützung ist meist an sehr stringente Voraussetzungen gebunden. Wenn man jemanden wie Tony Blair trifft, wird einem die britische Regierung nicht automatisch Geld geben. Dazu stellt sich für uns auch die Frage nach Neutralität. Je breiter die Unterstützung ist, desto weniger kommt man in die Gefahr, Kompromisse bezüglich der Werte der Wikipedia zu machen. Ich habe oft mit Philantropen gesprochen – sie haben uns manchmal unterstützt, manchmal auch nicht. Aber nie hat jemand verlangt, dass wir das Projekt Wikipedia für ihn ändern sollten. Ich weiß nicht, ob Politiker das Gleiche machen würden. Selbst wenn an eine Unterstützung keine Bedingungen gebunden sind, stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit. In vielen arabischen Staaten würde es sicher nicht gut ankommen, wenn ich mich mit Präsident Bush treffe und die amerikanische Regierung die nächsten fünf Jahre die Wikimedia Foundation finanziert. Viele Leute würden fragen: "Ist die Wikipedia nun ein rein amerikanisches Projekt? Bildet es die Welt aus US-Sicht ab?" Deshalb sind wir vorsichtig, zu viel Geld aus einer Quelle anzunehmen. (jk)