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Wo die wilden Kerle wüten

Julian Dibbell, Gordon Bolduan

Anonymität im Internet wird zunehmend als Quelle von Beleidigungen verurteilt. Die Online-Plattform 4chan, auf der sich derzeit auch Wikileaks-Verteidiger sammeln, funktioniert jedoch namenlos und weckt mit ihrem Erfolg das Interesse namhafter Internet-Investoren.

Anonymität im Internet wird zunehmend als Quelle von Beleidigungen verurteilt. Die Online-Plattform 4chan, auf der sich derzeit auch Wikileaks-Verteidiger sammeln, funktioniert jedoch namenlos und weckt mit ihrem Erfolg das Interesse namhafter Internet-Investoren.

Der Raum befindet sich in einem Hochhaus in New York und ist mit Matratzen ausgelegt. Darauf liegen zusammengerottet Erwachsene, die sich nicht kennen. Sie tragen Jogginghosen, T-Shirts und streicheln sich gegenseitig mit Händen und Füßen. Die kommerzielle "Kuschelparty" unter Fremden funktioniert deswegen, weil man in New York wie auch in jeder anderen Millionen-Metropole Beziehungen von verschiedener Intensität knüpfen kann, ohne dabei seine eigene Identität preisgeben zu müssen. Die Anonymität der Großstadt macht es möglich.

Im Internet dagegen wird Anonymität inzwischen mehr gefürchtet als geliebt. Vor allem die Verantwortlichen für die Kommentarbereiche von Online-Zeitungen stören sich sehr daran. Sie sehen das Verantwortungsvakuum der Namenlosen als Nährboden für wütende Beleidigungen und ständiges Abschweifen vom eigentlichen Thema. Manche Zeitungen im Internet haben daher die Kommentare für anonyme Nutzer bereits gesperrt, mindestens eine verlangt sogar eine Identifizierung über die Kreditkarte.

Ganz anders agiert man dagegen auf der Internet-Plattform 4chan. Die Möglichkeit, ohne jegliche nachprüfbare Identität herumzualbern, wird hier nicht nur als notwendig angesehen, sie produziert auch kreative Ideen en masse und sichert sich dadurch auch seit Neuestem die Aufmerksamkeit und die Investitionen renommierter Internet-Unternehmer.

An der Spitze von 4chan steht Christopher Poole. Er ist 22 Jahre alt und lebt in New York. Vor sieben Jahren hat er seine Internet-Plattform ins Leben gerufen, die inzwischen elf Millionen Besucher pro Monat verzeichnet und sich in vielerlei Hinsicht genauso zügellos zeigt wie das soziale Leben so mancher Großstadt. Die Seite ist ein sogenanntes Imageboard, also ein Forum, in dem die Nutzer vor allem Bilder und Texte einstellen können.

Mittlerweile kommen pro Tag mehr als eine Million Einträge zusammen und bilden eine unterhaltsame, zum Teil verstörende, aber immer einzigartige Mischung aus Humor, Pornografie und Beleidigungen, häufig hart am Rand der Legalität. All das macht 4chan zu einem der größten Foren der Welt, dessen alleiniger Eigentümer Poole ist. Als solcher betreibt er 4chan immer noch so, wie er begann: in seiner Freizeit und gerade mit genug Anzeigenumsatz, um die Internet-Anbindung bezahlen zu können.

So verfügt 4chan bis heute über kein Online-Archiv. Was ursprünglich gedacht war, um Speicherkosten zu sparen, steht heute auch für die Geisteshaltung hinter dem Bilderforum. Ältere Einträge werden durch aktuellere verdrängt, ohne dass man sie löschen muss. Werden sie jedoch in einer Vielzahl von aktuelleren Einträgen wieder aufgegriffen, ist somit auch die Grundlage geschaffen, dass sie sich zu einem Running Gag im Forum, vielleicht sogar im gesamten World Wide Web, entwickeln.

Hauptsächlich junge Männer im späten Teen- oder frühen Twen-Alter besuchen 4chan, das nach Themen wie Musik, Spiele, Fernsehen und Zeichentrick sortiert ist. Fast jede zweite Nachricht aber findet sich in einer Vermischtes-Sektion mit der Bezeichnung /b/, dessen dort herrschende Anarchie auch den Rest des Angebots prägt. Aus den Gefilden von /b/ schwärmen immer wieder Gruppen von gut gelaunten Online-Störenfrieden – im Internet als "Trolle" bekannt – aus, um Spaß mit anderen Communities oder Nutzern zu treiben, indem sie ihre Seiten hacken oder deren Kommentarseiten mit provokanten Einträgen überfluten. Zugleich ist /b/ Quelle für einen stetigen Strom von neuen Schlagwörtern und witzigen Fotomontagen, die sich von hier aus über das ganze Internet ausbreiten: Aus dem riesigen Reservoir an Insiderwitzen auf 4chan sind bereits Trends wie LOLCats (Katzenbilder mit lustigen Sprüchen) oder Rickrolling (versteckte Links auf Videos des 90er-Jahre-Sängers Rick Astley) entstanden.

Sie werden als Internet-"Meme" bezeichnet, worunter man neue kulturelle Konzepte versteht, die ähnlich wie Gene mutieren und sich danach entweder durchsetzen oder nicht. Die Bilder und Worte in /b/ sind oft dazu gedacht, zu schockieren, und stecken daher voller Rassismus, Frauenhass oder anderen Haltungen jenseits jeder politischen Korrektheit. Schon mehrmals ist 4chan deswegen als das "Es" des Internet bezeichnet worden, was frei nach Freud jenen Teil des Netzes darstellt, in dem man Triebe ausleben und Bedürfnisse stillen kann.

4chan fällt nicht nur durch den Stil seiner Inhalte auf, sondern auch durch den radikalen Grad seiner Anonymität. Zwar ist Poole selbst in dem Forum unter dem Spitznamen "moot" bekannt, die meisten anderen Nutzer aber verwenden nicht einmal ein solches Pseudonym. Da es auf der Seite keine Möglichkeit zum Einloggen gibt, kann jede Nachricht unter jedem beliebigen Namen veröffentlicht werden. Etwa 90 Prozent der Nachrichten werden tatsächlich mit der voreingestellten Autorenangabe "Anonymous" ins Netz gestellt.

Damit wendet sich 4chan massiv gegen einen allgemeinen Trend zur persönlichen Verantwortung im Internet. Anonymität, ursprünglich als Garant für Meinungsfreiheit gefeiert, wird nun eher als Missgriff aus den Anfängen des weltweiten Netzwerks angesehen. Am deutlichsten zeigt sich dies am Aufstieg zahlreicher sozialer Netzwerke wie Facebook, StudiVZ oder Xing. Deren Reiz liegt sowohl für Nutzer als auch für Werbekunden unter anderem darin, dass sie die Lücke zwischen Online- und Offline-Identitäten schließen. Ein besonders eifriger Verfechter der Vorzüge "radikaler Offenheit" in Online-Interaktionen scheint Mark Zuckerberg zu sein, dessen ungewöhnlicher Werdegang gerade im Kinofilm "The Social Network" nacherzählt wird. In der Silicon-Valley-Elite steht er keineswegs allein mit der Erwartung, dass das Zurückdrängen der Anonymität eine tolerantere, friedlichere und profitablere Online-Welt bringen kann.

Christopher Poole hält dagegen, und der Erfolg von 4chan scheint ihm recht zu geben. Seine Popularität, die innerhalb eines Jahres auf Höchstwerte schnellte, verschaffte ihm sogar eine Einladung zur renommierten Technologie-Konferenz TED, auf der die weltweite Technologie-Avantgarde jährlich ihre neuesten Ideen präsentiert. Vergangenen Februar stand er dort in Turnschuhen und Kapuzenpulli am selben Rednerpult wie Bill Gates und Steve Jobs und hielt einen kurzen Vortrag – so nachdenklich und höflich, wie 4chan grob und hemmungslos sein kann.

Die Argumente für anonyme Kommunikation sind immer die gleichen: Menschen brauchen einen Ort, an dem sie die Wahrheit sagen können (etwa Korruption anprangern), ohne dass sie Repressionen fürchten müssen; oder einen Ort, an dem sie abweichende Neigungen offenbaren können, ohne Ausgrenzung, Mobbing oder Schlimmeres zu riskieren. Auch Poole verwendet diese Argumente. Aber was er da-rüber hinaus zur Verteidigung von Anonymität vorzubringen hat, ist gleichzeitig weniger erhaben und dennoch viel weitreichender: "Jeder Mensch hat einen Ort verdient, an dem er daneben sein kann."

Diese Einsicht musste auch in Poole erst reifen. Denn beim Start von 4chan war ihm an Anonymität noch nicht viel gelegen. Damals war er 15 Jahre alt, einziges Kind geschiedener Eltern, lebte bei seiner Mutter in einem Vorort von New York und schwärmte für japanische Zeichentrickfilme, auch bekannt als Anime. Diese Passion führte ihn zu einer guten Quelle für Bilder dieser Art: den Futaba Channel, ein beliebtes japanisches Imageboard, das unter englischsprachigen Fans auch unter seiner Webadresse 2chan.net bekannt ist.

Unter anderem fiel Poole auf, dass es den Nutzern von 2chan ausgesprochen leicht gemacht wurde, Beiträge zu veröffentlichen. Damals war ihm gar nicht bewusst, dass kulturelle Unterschiede zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum in Japan eine große Rolle spielen – auf gewisse Weise ist das Pflegen von zwei Identitäten dort kein Zeichen mangelnder, sondern eher von vorhandener Integrität. Ebenso wenig machte er sich Gedanken darüber, dass japanische Internet-Nutzer eine enge Beziehung zu ihren Online-Pseudonymen und anderen Alternativ-Identitäten haben. Und ihm war auch egal, dass der Futaba-Channel wie die meisten anderen Foto-Foren in Japan schon immer komplett anonyme Beiträge ohne jedes Login erlaubt hatte.

Poole lud sich einfach den Quelltext der Futaba-Seite herunter, schrieb ihn auf Englisch um, wobei er die Bedeutung mancher Wörter nur riet und den Rest mithilfe der Übersetzungssoftware Babel Fish erledigte; im Oktober 2003 ging er mit dem Ergebnis unter dem Namen 4chan.org an den Start. Poole erinnert sich noch daran, wie Babel Fish die japanischen Schriftzeichen für den voreingestellten Nutzernamen mit "Nameless" übersetzte. Er machte daraus "Anonymous", und damit war diese weit reichende Weichenstellung erledigt.

"Es war keine prinzipielle Entscheidung", sagt Poole heute, "als 15-Jähriger habe ich mich für viele Sachen nicht besonders interessiert, für die ich heute wirklich eintrete. Ich bin da sozusagen hineingewachsen." Auch 4chan hat sich entwickelt. Zu Beginn hatte die Seite nur zwei Themenbereiche: /a/ für Beiträge über Anime und /b/ für alles andere. Im Lauf der Jahre fügte Poole weitere Themen hinzu. Heute gibt es fast 50 davon, darunter /v/ für Videospiele, /fa/ für Mode, /po/ für Papierkunst und Origami und mindestens drei für verschiedene Varianten von japanischen Erotik- und Porno-Comics. Jedoch von allen Rubriken ist /b/ am schnellsten gewachsen und hat Animes als Hauptgrund für die Existenz von 4chan längst hinter sich gelassen. Dabei ist /b/ die einzige Rubrik, für die es – abgesehen vom allgemeinen Verbot von Kinderpornografie und anderen Verstößen gegen US-Gesetze – keine expliziten Regeln gibt. Hier kommt deshalb das Versprechen der Anonymität am besten zum Tragen: die Freiheit zu sagen, was man will, ohne dafür Konsequenzen erwarten zu müssen.

Besucher von /b/ stoßen jedoch erst einmal auf einen Haufen von ständig recycelten Selbstreferenzen, Szeneausdrücken und Pointen-Bruchstücken, wie "herp derp", "newfag", "over 9000!", "So I Herd you like Mudkips", "serious business", "The Game (you just lost it)", "a hero" oder "Candleja". Wenn aber die anonymen Millionen von /b/ – die /b/-tards, wie sie sich selbst gern nennen – immer neue Variationen ihrer Lieblingsthemen in die Runde werfen, reifen die Witze für Eingeschworene auf diesem intellektuellen Komposthaufen, bis sie plötzlich als neues sogenanntes "Mem" im gesamten Internet populär werden.

Die Leute auf 4chan nennen all das "lulz". Abgeleitet vom Internet-Kürzel "lol" für "laughing out loud", bedeutet es im engeren Sinn Lachen, Spaß, billiges Amüsement. Im weiteren Sinn aber steht es auch für die wilde Kreativität, aus der das riesige Repertoire von /b/-Memes entsteht. Wenn die Anonymität auf 4chan für irgendetwas gut ist, dann für lulz. Poole erklärt das dadurch, dass feste Nutzernamen in anderen Online-Gemeinschaften die Kreativität ersticken können: Wenn es einen Namenszwang gebe (egal ob zu echten Namen oder Pseudonymen), werde ein neuer Nutzer, der zum Auftakt einen schlechten Scherz macht, schnell feststellen müssen, dass andere nichts mehr von ihm erwarten: "Sogar wenn du am achten Tag pures Gold veröffentlichst, werden sie sagen ,Der Typ nervt'."

Dies dürfte nicht das einzige Argument gewesen sein, das Poole im Sinn hatte, als er in seinem vierminütigen TED-Vortrag über die Bedeutung von 4chan als "Ort, an dem man daneben sein darf" referierte. Aber letztlich ist es der Grund dafür, dass er auf die Bühne durfte. Und es sieht so aus, als würde er aus dem gleichen Grund noch eine ganze Weile im Rampenlicht stehen.

Denn am 13. Mai 2010 beendete Poole nicht nur sein Grundstudium, sondern reichte auch bei der US-Börsenaufsicht eine Benachrichtigung über eine außeruniversitäre Aktivität ein: die Aufnahme von 625000 Dollar Kapital für ein neues Online-Projekt.

Der neue Dienst mit dem Namen Canvas soll noch in diesem Herbst an den Start gehen und wird im Gegensatz zu 4chan eine Möglichkeit bieten, sich einzuloggen. Poole hofft, dass die Seite dennoch weitgehend frei von "Eitelkeit und Ego" bleiben wird. Wie bei 4chan sollen Nutzer Beiträge auch anonym oder unter wechselnden Identitäten einstellen können. Über weitere Funktionalität hüllt er sich jedoch in Schweigen. In einem Interview mit der "New York Times" ließ er lediglich verlauten, dass es sich um ein Imageboard handeln würde, das auf "den neuesten Web-Technologien" basiere.

Zu den Finanziers von Canvas zählen Marc Andreessen, Programmierer des ersten grafischen Web-Browsers, und der frühe Google-Investor Ron Conway. Dass Leute wie sie auf jemanden wie Poole mit seiner unkonventionellen Geschäftsvergangenheit setzen, ist höchst bemerkenswert. Denn bisher hat 4chan eher als Gefahr denn als interessantes Unternehmen Schlagzeilen gemacht: Als im Jahr 2006 der 20 Jahre alte Jake Brahm die Sektion /b/ mit Drohungen über "schmutzige Bomben" bei den Spielen der Football-Topliga NFL überschwemmte, oder in diesem Juli, als Troll-Banden auf /b/ Todesdrohungen und andere Gemeinheiten gegen die elf Jahre alte Jessi Slaughter aus Florida veröffentlichten, die sich durch Videos auf YouTube unbeliebt gemacht hatte.

Trotz alldem aber haben viele Internet-Größen durchaus Interesse an 4chan als Geschäft entwickelt. Denn immerhin sind seine stetige Traffic-Zunahme und die geradezu epidemische Verbreitung seiner Inhalte genau die Art von nutzergetriebenem Erfolg, den ein Web-Unternehmen braucht, um virales Marketing zu betreiben. "Die Nutzer zum Mitmachen zu bewegen ist mit das Schwierigste", sagt David Lee, der als Business-Angel in Canvas investiert hat. Ob mit Gewinn oder ohne: Poole gehöre "zu den seltenen Unternehmern, die es schaffen, Leute zu aktivieren". Und das heißt etwas in einer Zeit, in der Anonymität als sicheres Mittel gilt, soziale Medien scheitern zu lassen. "Poole hat alte Wahrheiten in der Web-Branche infrage gestellt", sagt Jonah Peretti, CEO des Viralmedien-Start-ups BuzzFeed und Mitgründer der Blog-Zeitung Huffington Post. "Was er sagt, unterscheidet sich einfach enorm von dem, wie andere Leute über Communities denken."

Vielleicht wurde Poole gerade deshalb offiziell eingeladen, um im Hauptquartier von Facebook in Palo Alto vor Entwicklern zu sprechen. Ungefähr 80 Mitarbeiter hatten sich für die Veranstaltung in einen Konferenzraum ohne Stühle gequetscht, darunter auch Richard Cho aus der Personalabteilung, wo man in Gesprächen untereinander ebenfalls die Sprüche von 4Chan austauscht. Poole, so Cho, sei Mark Zuckerberg nicht unähnlich, denn beide hätten interessante Ansichten darüber, wie Menschen Informationen austauschen und Verbindungen knüpfen.

Vielleicht müssen sich die radikale Offenheit von Zuckerbergs Facebook und das, was man als die radikale Verschlossenheit von Pooles 4chan bezeichnen könnte, nicht einmal gegenseitig ausschließen. Vielleicht sind sie im Gegenteil sogar aufeinander angewiesen. Peretti formuliert es so: Wenn 4chan das "Es" des Internets ist, dann "ist Google so etwas wie das Ich und Facebook das Über-Ich". Wenn das stimmt, dann gibt es nur einen Weg zu verhindern, dass der Trend zu radikaler Transparenz am Ende die Seele des Internets tötet: Es muss eine Möglichkeit geben, ab und zu das Licht der Web-Öffentlichkeit zu verlassen, um eine Weile im Dunkeln zu verbringen – im Schattenreich der Verrückten. ()


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