zurück zum Artikel

Wollen Sie ewig leben?

Sherwin Nuland

An einem bewölkten Sonntagnachmittag spazierte ich durch die ehrwürdigen Gebäude der Universität von Cambridge.

(Das folgende Porträt über Aubrey de Grey aus der US-Ausgabe von Technology Review hat eine stürmische Diskussion ausgelöst. In der Folge wurde ein Preisgeld von 20.000 Dollar für eine streng wissenschaftliche Auseinandersetzung mit de Greys Thesen ausgeschrieben. Die Teilnahmebedingungen finden Sie hier [1].)

An einem bewölkten Sonntagnachmittag spazierte ich durch die ehrwürdigen Gebäude der Universität von Cambridge. Ich sann darüber nach, wie sehr dieser Ort doch ein Brennpunkt der wissenschaftlichen Revolution gewesen ist, die die Wahrnehmung der Menschheit von sich selbst und der Welt verändert hat.

Cambridge als Quelle der großen, bahnbrechenden Ideen -- diese Vorstellung drängte sich mir an jenem Tag geradezu auf. Denn ich war nach England gereist, um einen der heutigen Forscher an dieser Universität zu treffen, einen, der neben Francis Bacon, Isaac Newton und William Harvey ebenfalls einen Platz in der Geschichte anstrebt: Aubrey David Nicholas Jasper de Grey ist davon überzeugt, dass er die theoretischen Mittel und Wege aufgezeigt hat, durch die Menschen Tausende von Jahren, ja eigentlich ewig leben könnten. Und vielleicht ist "theoretisch" ein zu schwaches Wort: De Grey hat den von ihm vorgeschlagenen Weg so detailliert vorgezeichnet, dass man seiner Meinung nach schon innerhalb von 25 Jahren am Ziel sein könnte. So kurz ist diese Zeitspanne, dass viele Leser von Technology Review noch einen Nutzen daraus ziehen könnten -- und nicht zufällig ist die Spanne auch kurz genug für den 41jährigen de Grey selbst.

Wie Bacon hat auch er sich niemals über eine Laborbank gebeugt, hat niemals ein Experiment mit eigenen Händen vollzogen, zumindest nicht auf dem Gebiet der Humanbiologie. Dafür fehlt ihm die Ausbildung, und er gibt auch gar nicht vor, etwas anderes zu sein als er ist: ein Informatiker, der sich Naturwissenschaften als Autodidakt angeeignet hat. Aubrey de Grey ist ein Mann der Ideen, und sein Ziel ist, das Fundament allen Menschseins zu verändern.

Aus Gründen, an die er sich heute selbst nicht mehr erinnert, war de Grey schon in seiner Kindheit davon überzeugt, dass Altern etwas ist, was in seinen Worten "repariert werden muss”. Sein Interesse für Biologie erwachte, als er 1991 eine Genetikerin heiratete. Er vertiefte sich in Lehrbücher und eignete sich das Fach im Alleingang an. Je mehr er lernte, desto mehr war er davon überzeugt: Den Tod hinauszuzögern, das könnte tatsächlich möglich sein, und er selbst könnte vielleicht den Weg dazu finden.

Als er nach den Gründen suchte, warum trotz der bemerkenswerten Entdeckungen auf Molekül- und Zellebene in den vergangenen Jahrzehnten so wenig Fortschritt erzielt worden war, kam er zu dem Schluss, dass das Problem weitaus leichter zu lösen war als manche dachten: Das eigentliche Hemmnis könnte in der nur selten beachteten Motivation von Wissenschaftlern liegen, die auf diesem Gebiet nennenswerte Erfolge kaum innerhalb einer Zeitspanne erzielen können, die für ihr akademisches Fortkommen entscheidend ist. "Hochriskante Forschungsgebiete sind einer schnellen Beförderung nicht gerade zuträglich”, sagt de Grey.

Schon wenige Monate, nachdem er Ende 1995 die relevante Literatur gelesen hatte, konnte de Grey eine bis dahin unbekannte Auswirkung von Mutationen in Mitochondrien erklären -- Mitochondrien sind jene Zellstrukturen, die aus chemischen Prozessen die für die Zelle lebensnotwendige Energie freisetzen. Ein Experte auf dem Gebiet bestätigte ihm, dass er tatsächlich eine neue Entdeckung gemacht hatte, und so veröffentlichte de Grey 1997 seine erste biologische Arbeit in der Zeitschrift BioEssays, die Beiträge nur nach einem "Peer-Review-Verfahren” annimmt ("A Proposed Refinement of the Mitochondrial Free Radical Theory of Aging.” De Grey, ADNJ, BioEssays 19 (2)161-166, 1977).

Weiteres beharrliches Studium führte im Juli des Jahres 2000 schließlich zu dem, was manche als de Greys "Eureka-Moment” bezeichnen: "Den Alterungsprozess kann man als eine begrenzte Anzahl molekularer und zellulärer Veränderungen in unseren Körpern beschreiben, deren schädliche Auswirkung mit der Zeit zunimmt und die man grundsätzlich verhindern könnte”, so will er erkannt haben. Dieses Konzept wurde das Thema all seiner theoretischen Studien, die er von da an unternahm. Es wurde zum Leitmotiv seines Lebens. Er beschloss, Langlebigkeit wie ein Ingenieursproblem anzugehen. Kennt man erst einmal alle Komponenten der verschiedenen Prozesse, durch die tierisches Gewebe altert, so argumentierte de Grey, dann sollte sich gegen jeden dieser Prozesse auch ein Gegenmittel finden lassen.

Während der ganzen Zeit war de Grey immer wieder überrascht, wie leicht man sich den notwendigen Stoff aneignen konnte -- oder zumindest, mit welcher Leichtigkeit er selbst das konnte. An dieser Stelle muss ich allerdings eine Warnung aussprechen, ähnlich wie in einem Werbespot, der ein waghalsiges Kunststücke zeigt: "Versuchen Sie das nicht alleine. Es ist extrem riskant und verlangt außergewöhnliches Können.” Selbst wer nur kurze Zeit mit de Grey verbringt, der wird zumindest einen Eindruck mitnehmen -- Aubrey de Grey verfügt über ganz besondere Fähigkeiten.

Bei seinem Selbststudium kam de Grey zu dem Schluss, dass der Alterungsprozess sieben verschiedene Bestandteilen hat, und dass ein wachsendes molekularbiologisches Verständnis sehr wohl eines Tages die nötigen Technologien hervorbringen könnte, um diese Bestandteile zu manipulieren. Seine Gewissheit beruht auf der Tatsache, dass seit etwa zwanzig Jahren keine neuen Faktoren mehr entdeckt wurden, trotz der lebhaften Forschungsaktivitäten der Biogerontologie, der Wissenschaft des Alterns.

De Grey hält sich selbst für den geeigneten Führer auf dem Kreuzzug gegen die Sterblichkeit, denn seiner Meinung nach ist dafür eine ganz bestimmte Geisteshaltung entscheidend: das zielorientierte Denken eines Ingenieurs. Das steht im Gegensatz zu den eher von Neugierde getriebenen Grundlagenforschern im Labor. Seine eigene Arbeit betrachtet er eher als angewandte Forschung, durch die er die Segnungen der Molekularbiologie zur praktischen Anwendung bringt. In einer Analogie, wie sie von Medizinhistorikern oft gebraucht wird, ist er der Arzt, der das Labor zum Krankenbett bringt.

Sein Ziel ist eine Umwandlung der Gesellschaft, und um dieses Ziel zu erreichen, hat er sich zunächst selbst geändert. Sein eigentlicher Beruf ist vergleichsweise bescheiden: Als Computerexperte unterstützt er ein genetisches Forschungsteam, sein offizieller Arbeitsbereich besteht nur aus einer kleinen Ecke des Labors. Und doch ist er weltweit berühmt (und berüchtigt) unter den Altersforschern, nicht nur wegen der Kühnheit seiner Theorien, sondern auch wegen der Entschlossenheit, mit der er sie verfolgt. Niemand, der sich mit dem Thema ernsthaft beschäftigt, kann ihn noch ignorieren. De Greys Beitrag schlägt sich auch in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nieder, die in namhaften Zeitschriften wie "Trends in Biotechnology" oder "Annals of the New York Academy of Sciences" erschienen. Zudem war de Grey Co-Autor von Kommentaren und anderen Beiträgen in "Science" und "Biogerontology".

Unermüdlich wie ein Missionar hat de Grey für seine Sache gearbeitet, ist den entsprechenden universitären Vereinigungen beigetreten und hat in jedem ihm verfügbaren Medium gepredigt, sogar sein eigenes internationales Symposium ausgerichtet. Er und seine Ideen mögen einzigartig sein, doch de Grey ist alles andere als ein einsamer Mönch, der seine Philosophie nur dem Himmel und dem Wüstenwind vorträgt. Neben all seinen anderen Fähigkeiten besitzt er auch noch ein besonderes Organisationstalent und hat seiner Gemeinschaft sogar einen Markennamen verpasst. Beeindruckend ist schon die schiere Menge von dem, was er schriftlich oder mündlich hervorbringt. Alles davon, ob es an hochgebildete Wissenschaftler oder an Laien gerichtet ist, ist in demselben linearen, klaren, und systematischen Stil verfasst, der all seine Texte über die Verlängerung von Leben auszeichnet. Wie ein Profi-Redner beantwortet er Einwände, noch bevor sie überhaupt aufkommen und erschlägt den Gegner mit seiner kraftvollen Rhetorik, in der gerade soviel Geringschätzung steckt, dass seine Ungeduld mit den Nachzüglern beim Marsch zu extremer Langlebigkeit offenbar wird.

Auf den Treffen der wissenschaftlichen Gesellschaften ist de Grey eine bekannte Figur, dort hat er sich den Respekt vieler Gerontologen verdient, ebenso wie die Achtung von einer neuen Art von Theoretikern, den "Futuristen”. Seine Arbeit hat ihn nicht nur an die vorderste Front eines Feldes gebracht, das man am besten mit dem Begriff "theoretische Biogerontologie” umschreibt. De Grey ist auch dem wissenschaftlichen Mainstream so nahe, dass einige der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet bereits als Co-Autoren mit ihm zusammen veröffentlicht haben, auch wenn sie seinen Thesen nicht in vollem Umfang zustimmen mögen. Zu den prominentesten gehören hoch angesehene Forscher wie Bruce Ames von der Universität von Kalifornien und Leonid Gavrilov und S. Jay Olshansky von der Universität von Chicago.

Ihre Einstellung gegenüber de Grey fasst Olshansky vielleicht am besten in Worte: "Ich bin ein großer Fan von Aubrey; ich liebe die Diskussionen mit ihm. Wir brauchen ihn. Er fordert uns heraus und erweitert unsere Denkweise. Ich stimme mit seinen Schlussfolgerungen nicht überein, aber in der Wissenschaft ist das in Ordnung. Nur so entsteht Fortschritt.” De Greys lebhaftes Bemühen hat eine Schar ernstzunehmender Wissenschaftler zusammengeführt, die in seiner Arbeit immerhin genug theoretischen Wert sehen, um sich nicht nur mit ihm auseinander zusetzen, sondern ihn auch -- vorsichtig -- zu bestärken. De Greys Vorschläge haben unter Wissenschaftlern und in der Öffentlichkeit großes Interesse für die Biologie des Alterns geweckt, sagt Gregory Stock, ein Futurist und Biotechnologe von der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Auch Stock hat schon gemeinsam mit de Grey veröffentlicht.

De Grey erfreut sich auch wachsender Bekanntheit außerhalb der Wissenschaft. Journalisten wenden sich oft an ihn, wenn sie ein Zitat über Anti-Aging brauchen, und er ist schon von so unterschiedlichen Zeitschriften und Zeitungen wie Fortune, Popular Science und der Londoner Daily Mail porträtiert worden. Seine unermüdlichen Anstrengungen haben ihn an die Spitze einer Bewegung gestellt, deren Ziel die Menschheit schon immer fasziniert hat. Der Zeitpunkt ist perfekt gewählt: Wir leben in einer Zeit, in der die Generation der Baby-Boomer gerade die 60 überschritten hat -- die von allen Generationen in der Geschichte der Menschheit vielleicht am meisten nach Selbstvervollkommnung streben, und die am meisten mit sich selbst beschäftigt sind. Unter ihnen setzten viele ihre Hoffnungen auf die Wundermittel, die de Grey verspricht. Er ist zu mehr als nur einer einzelnen Person geworden; er verkörpert eine ganze Bewegung.

An dieser Stelle sollte ich wohl erklären, das ich persönlich keinerlei Sehnsucht nach einem Leben verspüre, das über die Spanne hinausgeht, die die Natur unserer Spezies geschenkt hat. Aus pragmatischen, wissenschaftlichen, demografischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen, emotionalen und nicht religiösen, aber doch spirituellen Gründen bin ich der Meinung, dass sowohl der persönlichen Erfüllung als auch dem ökologischen Gleichgewicht auf diesem Planeten am besten gedient ist, wenn wir zu dem von der Biologie vorgegebenem Zeitpunkt sterben. In gleichem Maße setze ich mich dafür ein, dass dieser Punkt durch die moderne Biomedizin unserem wahrscheinlichen biologischen Maximum von ungefähr 120 Jahren so nahe wie möglich rückt, und dass auch die Krankheiten und Gebrechlichkeit des sehr hohen Alters gemindert werden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ein einziger Schritt über diese Grenze hinaus etwas anderes als Unheil nach sich zieht -- sowohl für jeden einzelnen von uns als auch für jedes lebende Wesen unserer Welt. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, mich jemals bei Alcor, dem Kryonik-Unternehmen anzumelden, so wie de Grey es getan hat; für ein entsprechendes Entgelt konserviert Alcor das Gehirn oder auch mehr von einem Kunden, bis zu jenem erhofften Tag, an dem dieser wieder in irgendeine Form von Leben zurückgebracht werden kann.

Ist es ein Wunder, dass ich bei dieser Weltanschauung von einem Aubrey de Grey fasziniert bin? Wie wäre es wohl, einem solchen Menschen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen? Nicht für eine wissenschaftliche Diskussion -- dieser Aufgabe wäre ich als praktischer Chirurg wohl kaum gewachsen --, sondern um ihm auf den Zahn zu fühlen, um herauszufinden, wie er sich unter gewöhnlichen Umständen verhält, um über meine Befürchtungen und seine Erwiderungen zu sprechen, um einen echten Einblick in seine Denkweise zu erhalten. Mir erscheint seine Philosophie absonderlich. Ihm würde es umgekehrt wahrscheinlich genauso gehen.

Mit diesen Gedanken kontaktierte ich de Grey im Herbst vergangenen Jahres per Email. Seine Antwort war freundlich, ja geradezu herzlich. Er redete mich mit meinem Vornamen an, und nicht nur wollte er mir den größten Teil von zwei Tagen widmen, er schlug auch vor, dass wir die Zeit auch möglichst in Reichweite von allerlei belebenden Flüssigkeiten verbringen sollten:

Ich hoffe, Sie wissen ein gutes englisches Bier zu schätzen, denn darin liegt unter anderem das (offene) Geheimnis meiner grenzenlosen Energie und meiner intellektuellen Kreativität (jedenfalls sehe ich das selbst gerne so ...). Ein guter Plan (also einer, der schon seit Jahren erfolgreich erprobt wurde!) ist ein Treffen um 11 Uhr am Montag den achtzehnten im Eagle, dem berühmtesten Pub von Cambridge; die Gründe für diesen Ruhm kann ich gerne noch darlegen. Von dort aus könnten wir, wenn es das Wetter erlaubt, auf der Cam punten (staken) -- eine Freizeitbeschäftigung, die ich gleich nach meiner Ankunft hier im Jahr 1982 lieben gelernt habe und die für jeden Besucher ein unvergessliches Erlebnis zu sein scheint. Wir können so lange reden, wie Sie mögen, und wenn nötig, können wir uns am Dienstag noch einmal treffen.

Diese Nachricht mitsamt ihrem Hauch von Unbescheidenheit sollte sich als charakteristisch erweisen. Von ähnlicher Art war auch seine Antwort, als ich ihm meine Bedenken bezüglich des "punten” mitteilte, die auf der Geschichte eines Freundes beruhten, der dabei an einem kalten Herbstag in die Cam gefallen war: "Offensichtlich war ihr Freund ohne einen Experten unterwegs.” Nichts weniger als Expertentum scheint für de Grey angemessen, sobald er sich einer Sache mit jener erstaunlichen Energie annimmt, derer er sich in der Email rühmte. Ebensowenig vermag er sein Licht unter den Scheffel zu stellen.

Wer sich selbst als Herold und Werkzeug bei der Überwindung von Alter und Tod sieht, der muss natürlich über ein außerordentliches Selbstbewusstsein verfügen, und de Grey ist so unverfroren selbstbewusst, wie es nur möglich ist. Bald nachdem wir uns getroffen hatten, sagte dieser ungewöhnliche Mensch zu mir, dass "man schon eine überhöhte Meinung von sich selbst” benötige, wenn ein so bedeutendes Unternehmen von Erfolg gekrönt sein solle. "Die habe ich!”, fügte er in leidenschaftlichem Tonfall hinzu. Bei unserem Abschied, nach dem wir an zwei Tagen insgesamt zehn Stunden miteinander verbracht hatten, war ich davon überzeugt, dass viele seiner Selbsteinschätzung zustimmen würden. Egal ob man ihn für einen brillanten und prophetischen Architekten einer künftigen Biologie hält oder eher für einen fehlgeleiteten und verrückten Theoretiker, über seinen beeindruckenden Intellekt kann kein Zweifel bestehen.

De Grey nennt sein Programm "Strategies for Engineered Negligible Senescence” ("Strategien, um die Seneszenz vernachlässigbar zu machen”), der Ausdruck erlaubt ihm die Abkürzung SENS (engl. sense = Sinn). An dieser Stelle folgen in willkürlicher Reihenfolge de Greys sieben Reiter des Todes und die jeweilige Anleitung, wie Pferd und Reiter das Genick zu brechen sei. (Mehr Details findet man auf de Greys Webseite [2]). 1. Zellschwund, der Verfall oder Verlust von Zellen: Dieser Teil des Alterungsprozesses ist besonders bedeutsam in Gewebe wie dem Herz und dem Gehirn, in dem Zellen nicht erneuert werden. De Greys Behandlung würde aus Wachstumsfaktoren bestehen, die Zellteilung anregen, oder auch aus einer regelmäßigen Transfusion mit Stammzellen, die speziell dafür ausgerichtet sind, die verlorenen Zelltypen zu ersetzen.

2. Anhäufung von unerwünschten Zellen: Das sind (a) Fettzellen, die zur Vermehrung tendieren und die nicht nur Muskelzellen ersetzen, sondern auch zu Diabetes führen, da sie die Fähigkeit des Körpers verringern, auf das von der Bauchspeicheldrüse produzierte Hormon Insulin zu reagieren. Zum anderen handelt es sich um (b) seneszente Zellen, die sich im Gelenksknorpel ansammeln. Durch bestimmte Rezeptoren auf der Oberfläche sind solche Zellen durch Immunzellen angreifbar, und de Grey ist davon überzeugt, dass die Wissenschaft eines Tages solche Immunzellen gezielt wird herstellen können. So oder auf einem anderen Weg wird es möglich sein, die unerwünschten Zellen gezielt abzutöten.

3. Mutationen in Chromosomen: Die schädlichste Auswirkung von Mutationen in Zellen ist die Entstehung von Krebs. Die Unsterblichkeit der Krebszellen hat etwas mit den Telomeren zu tun, einer Art Schutzkappe auf den Chromosomen-Enden. Die Telomere werden mit jeder Zellteilung ein Stück kürzer, darauf scheint die Sterblichkeit von Zellen zu beruhen. Wenn wir das Gen für Telomerase eliminieren könnten, also für das Enzym, das die Telomere verlängert und erhält, dann würden die Krebszellen sterben. De Greys Lösung für das Problem besteht darin, die Stammzellen eines Menschen etwa alle zehn Jahre durch solche auszutauschen, die das Gen nicht in sich tragen.

4. Mutationen in den Mitochondrien. Mitochondrien sind die Mikromaschinen, die von den Zellen benötigte Energie produzieren. Sie enthalten kleine Mengen von DNA, die für Mutationen besonders anfällig ist, da sie sich außerhalb der Chromosomen des Zellkerns befindet. De Grey schlägt vor, die 13 Gene der Mitochondrien-DNA in die DNA des Zellkerns zu kopieren, wo sie weitaus besser vor mutagenen Einflüssen geschützt wären.

5. Die Ansammlung von "Abfall” im Zellinneren: Gemeint ist eine bunte Mischung zellulärer Abbauprodukte, die sich in den Lysosomen ansammelt. Lysosomen sind Strukturen im Zellinneren, winzige Abteilungen, in denen größere Moleküle verdaut werden. In ihnen endet für gewöhnlich der unverdauliche Rest und verursacht in bestimmten Zelltypen Probleme. Zu den größten zählt Artherosklerose, die Verhärtung von Arterien. Diesem Übel möchte de Grey begegnen, indem er die Lysosomen mit Genen versorgt, die für zusätzliche Enzyme kodieren, die das unliebsame Material verdauen können. Diese Gene werden aus bestimmten Bodenbakterien stammen - eine Idee, die auf der Beobachtung beruht, dass sich derartige Abbauprodukte nicht in vergrabenen Tierkadavern anhäufen.

6. Die Ansammlung von "Abfall” außerhalb der Zellen: In der Flüssigkeit, die Zellen umgibt -- man nennt sie extrazelluläre Flüssigkeit -- können sich mit der Zeit Proteinaggregate ansammeln, die nicht weiter abgebaut werden. Das Ergebnis ist ein Stoff namens Amyloid, den man im Gehirn von Menschen mit Alzheimer findet. Dem möchte de Grey mit einer Impfung begegnen. Der bislang noch nicht entwickelte Impfstoff soll das Immunsystem zur Bildung von Zellen anregen, die das schädliche Material beseitigen.

7. Vernetzungsreaktionen in Eiweißstoffen außerhalb der Zellen: Die extrazelluläre Flüssigkeit enthält viele biegsame Eiweißmoleküle; sie liegen dort über einen langen Zeitraum hinweg unverändert vor, und je nach Bedarf können sie ein Gewebe elastisch oder durchsichtig machen, oder auch ihm hohe Zugfestigkeit verleihen. Im Laufe eines Lebens werden die Eigenschaften dieser Moleküle durch gelegentlich auftretende chemische Reaktionen beeinträchtigt. Dazu gehört auch die Ausbildung von sogenannten "Cross-Links” (Quervernetzungen): Zwei Eiweißmoleküle werden chemisch verbunden und sind nun nicht mehr unabhängig voneinander beweglich. Das betroffene Gewebe ist dadurch weniger elastisch oder auch verdickt. Handelt es sich dabei beispielsweise um eine Arterienwand, dann kann deren verminderte Dehnbarkeit zu Bluthochdruck führen. De Greys Lösung für dieses Problem besteht in der Suche nach chemischen Wirkstoffen oder Enzymen, die die Quervernetzung aufbrechen können, ohne sonst etwas zu beschädigen.

Auch bei dieser verkürzten und vereinfachten Darstellung wird klar, dass es sich bei diesen sieben Faktoren um hochkomplexe biologische Probleme mit noch komplexeren Lösungsvorschlägen handelt. Zumindest einige der Lösungen könnten sich als unzureichend erweisen, andere als nicht durchführbar. Darüber hinaus sind de Greys Anleitungen mit solch vagen Ausdrücken wie "Wachstumsfaktoren” oder "das Immunsystem stimulieren” durchsetzt. Sie sind im Grunde nicht mehr als Schlagworte, wie zum Beispiel, wenn er von den noch zu entdeckenden "chemischen Wirkstoffen, die die Quervernetzung aufbrechen können, ohne sonst etwas zu beschädigen” spricht.

Es muss betont werden, dass die Wissenschaft bislang keines dieser Probleme auch nur im Ansatz gelöst hat. In mehreren Fällen hat es aber immerhin schon viel versprechende Ergebnisse gegeben. Die Erforschung extrazellulärer Quervernetzungen etwa hat mehrere Kandidaten für Medikamente hervorgebracht: Die Firma Alteon aus dem Bundesstaat New York hat mit klinischen Tests begonnen, bei denen Moleküle erprobt werden, die altersbedingte Leiden rückgängig machen sollen. Was andere von de Grey benannte Probleme betrifft -- zum Beispiel die Kontrolle der Telomer-Länge oder der Transfer von mitochondrialer DNA in den Zellkern --, können Molekularbiologen eigentlich nur über den Tag spekulieren, an dem solche Versuche einmal Früchte tragen werden, falls das überhaupt je der Fall sein wird.

Doch davon lässt sich de Grey nicht entmutigen. Durch Pessimismus verliert man seiner Meinung nach nur Zeit. Als "Luftschlösser” hat ein von mir befragter Gerontologe de Greys Rezepte bezeichnet. Bei de Grey dagegen zergeht dieser Ausdruck geradezu auf der Zunge, allein schon die Hoffnung erwärmt ihm die Seele.

Doch mit seiner Wissenschaft sollen sich andere auseinandersetzen. Ich war auf etwas gänzlich Anderes aus: Welche Art von Mensch, so fragte ich mich, würde einen überragenden Intellekt und eine offensichtlich unerschöpfliche Konstitution einem solchen Projekt widmen? Nicht nur die wissenschaftliche Fundierung erscheint dabei reichlich spekulativ. Fragwürdiger noch ist die Prämisse, auf der das gesamte Unternehmen beruht -- nämlich dass die Aussicht auf ein unbeschränkt langes Leben ein Segen für die Menschheit wäre.

Am Tag unserer Verabredung traf ich einige Minuten zu früh im Eagle ein. So konnte ich die Gedenktafel nahe des Eingangs studieren: "An dieser Stelle befand sich bereits seit 1667 ein Wirtshaus namens ‚Eagle and Child‘. ... Während ihrer Forschungsarbeit in den frühen fünfziger Jahren kamen Watson und Crick zur Entspannung hierher und diskutierten ihre Theorien, während sie ein Ale genossen.”

Gerade war ich in Geschichte und Atmosphäre des Ortes eingetaucht, da erblickte ich de Grey, wie er sein altertümliches Fahrrad auf der anderen Seite der schmalen Straße abstellte. Schmal ist auch das richtige Wort, um den Menschen zu beschreiben, der bei einer Größe von über 1,80 Metern gerade mal 66 Kilo wiegt. Seine Magerkeit wird noch durch einen kastanienbraunen Holzfäller-Bart betont, der bis zur Brust hinabreicht und der noch nie einen Kamm oder eine Bürste gesehen zu haben scheint. Auf Kleidung scheint de Grey keinerlei Wert zu legen, er war angezogen wir ein ungepflegter Student. Eine schwarze, wetterfeste und reichlich abgetragene Jacke reichte ihm zur Hüfte. Seinen Kopf bedeckte eine kunterbunte Wollmütze, die ihm seine Frau vor 14 Jahren gestrickt hatte, und deren angestrickte Bänder sich unter dem Kinn verknoten ließen. Für das Alter der Kopfbedeckung sprachen auch etliche Löcher. Als er sie abnahm, wurde de Greys langes, glattes Haar sichtbar, das er mit einem Band aus leuchtendroter Wolle zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Doch all das kann nicht verbergen, dass de Grey eigentlich ein Mann von jungenhaft gutem Aussehen ist. Über seine Stimme und Sprechweise genügt es zu sagen: Sie wurde zunächst von einer Privatschule, dann von der Harrow School (einer Eliteschule) und schließlich von Cambridge geprägt. Für Amerikaner ist er ein seltenes Gewächs, und auch unter seinen Kollegen in Cambridge war seine Andersartigkeit augenfällig.

Da ich schon Fotos von de Grey gesehen hatte, war ich auf den Bart und die Magerkeit vorbereitet, ebenso auf sein Desinteresse an Äußerlichkeiten. Unvorbereitet aber traf mich die Intensität seiner blaugrauen Augen, die in dem blassen Gesicht zu leuchten schienen. Sein fast schon religiöser Eifer ließ während der gesamten Unterhaltung niemals nach, die wir ohne Unterbrechung sechs Stunden lang über den schmalen Tisch hinweg führten. Auf Fotos strahlen seine Augen eine solche Wärme aus, dass ich darüber eine Bemerkung in einer meiner Emails gemacht hatte. Doch von dieser Wärme sah ich nichts während der zehn Stunden, die wir miteinander verbrachten.

Nur ein einziges Mal kam sie zum Vorschein -- als wir uns am Montag nach unserem Treffen im Hof zwischen den Institutsgebäuden eine Viertelstunde lang mit Adelaide de Grey unterhielten. Adelaide de Grey (geborene Carpenter) ist eine hervorragende amerikanische Genetikerin und Expertin für Elektronenmikroskopie und ist mit ihren 60 Jahren 19 Jahre älter als ihr Mann. Die beiden trafen sich Anfang der 90er Jahre. Sie gehörte damals der Universität von Kalifornien in San Diego an, verbrachte aber einige Zeit als Gast in Cambridge. Beide haben sich niemals Kinder gewünscht. "Es gibt schon jede Menge Leute, die darin gut sind”, erklärte mir Aubrey, als das Thema zur Sprache kam. "Entweder man hat Kinder, oder man tut eine Menge Dinge, die man mit Kindern nicht tun würde, weil man dann keine Zeit hätte.” Als das einzige Kind einer künstlerisch ambitionierten und etwas exzentrischen, allein stehenden Mutter war er schon im Alter von acht oder neun entschlossen, mit seinem Leben etwas Besonderes anzufangen, etwas, wozu vielleicht niemand außer ihm in der Lage wäre.

Warum seine Fähigkeiten auf etwas verschwenden, was andere genauso gut oder besser können? Diesen Grundsatz verfolgt de Grey von Kindheit an bis heute und hat aus seinem Leben alles verbannt, was überflüssig sein oder ihn von seinem Ziel ablenken könnte. Er und Adelaide sind beide extrem fokussierte Menschen, manche würden sie vielleicht als "Getriebene” bezeichnen. Sie werden beide so offensichtlich von dem gleichen Ziel motiviert, dass ihre Arbeit die alles dominierende Kraft in ihrem Leben darstellt.

Und doch begegnet jeder dem anderen mit einer anrührenden Zärtlichkeit. Selbst in der kurzen Viertelstunde mit dem ungewöhnlichen Paar konnte ich beobachten, wie sanft de Greys sonst so entschlossener Gesichtsausdruck in Adelaides Nähe wird, und wie ähnlich ihre Reaktion ist. Ich vermute, dass das Foto auf seiner Webseite aufgenommen wurde, als er sie entweder ansah oder an sie dachte. Adelaide ist mit ihren knappen 1,60 Metern Körpergröße zwar deutlich kleiner als ihr Mann, was die Kleidung betrifft ist sie aber die perfekte Partnerin: Ihr Äußeres ist ihr offensichtlich ebenso gleichgültig. Man kann sich die beiden leicht bei einem ihrer ersten Treffen vorstellen, von denen mir Aubrey erzählt hat. Oder wie sie von der kleinen Wohnung, in der sie seit ihrer Hochzeit vor 14 Jahren wohnen, zum nahegelegenen Waschsalon gehen und sich über Wissenschaft unterhalten, während die Waschmaschinen ihre abgetragenen Kleider bearbeiten. Beide sind alles andere als Bonvivants, und das wollen sie auch gar nicht sein. Ganz offensichtlich mögen sie die Dinge so, wie sie sind, kümmern sich weder um Besitz noch um Konsum. Ja selbst die üblichen emotionalen Belohnungen, die das Leben in unserer Welt bereithält, scheinen ihnen gleichgültig -- während zur gleichen Zeit der Name Aubrey de Grey zunehmend damit verknüpft wird, die Welt auf unvorstellbare Weise zu verändern.

Doch vor der Begegnung mit Adelaide lagen neben zahlreichen Humpen von Abbot's Ale noch sechs Stunden intensiven Gesprächs vor mir. Sie bestanden größtenteils aus einer Flut von Worten, die meine Fragen oder Kommentare bei de Grey auslösten. Schon zu Beginn unseres ersten Gesprächs fragte ich ihn, warum sein Konzept eine solche Wut unter Gerontologen hervorruft. Und schon da antwortete er mit der Geringschätzung, die immer wieder hervorkommen sollte, sobald ich den einen oder anderen Einwand vorbrachte, die von Expertenseite oder auch von Laien gegenüber der Idee eines jahrtausendelangen Lebens geäußert wird. "Das ist immer das Gleiche”, sagte er kurz angebunden, die Einwände basierten "schlicht auf Unwissenheit”. Entsprechend macht de Grey auch keinen Hehl aus seinem Gefühl, dass außer ihm selbst nur wenige Köpfe die Einzelheiten seiner Konzepte, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Logik, auf denen sie basieren, und das Ausmaß ihrer potenziellen Vorteile überhaupt erfassen können.

Ich forderte de Grey dazu auf, seine Überzeugung zu begründen, dass ein Leben von Tausenden von Jahren erstrebenswert ist. Akzeptiert man diesen Standpunkt erst einmal, dann folgt daraus natürlich alles andere: der wissenschaftliche Drang über ein pures Verständnis des Alterungsprozesses hinaus; die immense Investition von Talent und Geld in die Erforschung und deren Anwendung; die Umwandlung einer Kultur, die auf einer endlichen und relativ geringen Lebenserwartung beruht in eine ohne einen solchen Horizont; die seltsame Tatsache dass dann jeder Erwachsene physiologisch gesehen das gleiche Alter hätte (denn ein Prozess der Verjüngung folgt zwingend aus de Greys Vorschlägen); die Auswirkungen auf familiäre Beziehungen -- die Reihe geht endlos weiter. De Greys Antwort auf diese Herausforderung erfolgt in den gleichen perfekt aufgebauten und ausformulierten Sätzen, die auch seine Texte ausmachen. Er hat eine Gabe dafür, sich sowohl mündlich als auch schriftlich mit solcher Klarheit und Vollständigkeit auszudrücken, dass der Zuhörer wie verzaubert dem Fluss der scheinbar logischen Argumente lauscht.

Geschwafel kommt bei ihm nicht vor, alles was er sagt, dient seiner Argumentation. Die baut er so gut auf, dass ich fasziniert das Gedankengebäude beobachtete, das dabei entstand, und ihm dabei nicht weniger als meine volle Aufmerksamkeit schenken konnte. Zwar hätte es während der Stunden in dem Gasthaus viele Ablenkungen geben können -- Menschen kamen und gingen, aßen und tranken, unterhielten sich, lachten, rauchten und husteten -- gleichwohl schweifte mein Blick niemals ab, immer blickte ich de Grey genau ins Gesicht, außer wenn ich ein weiteres Bier oder etwas zu essen holte -- ein komplettes Mittagessen für mich, aber nur Kartoffelchips für ihn. Erst wer über die Annahmen nachdenkt, auf denen de Greys Argumentation beruht, dem fällt auf, dass er es sich manchmal um nur scheinbar logische Argumente handelt. Hier folgt eine Kostprobe dieser Argumentation:

Wir sind unbedingt dazu verpflichtet, diese Therapien so bald wie möglich zu entwickeln, damit künftige Generationen eine Wahl haben. So lange wie möglich zu leben ist unser Recht, ist Menschenrecht, und genauso sind wir dazu verpflichtet, den Menschen ein möglichst langes Leben zu ermöglichen. Das ist meiner Meinung nach nicht mehr als eine Konsequenz aus dem Konzept der Fürsorgepflicht. Menschen dürfen mit Recht eine Behandlung erwarten, die sie auch sich selbst angedeihen lassen würden.

Das ist eine direkte und unbestreitbare Folgerung aus der Goldenen Regel. Wenn wir zögern und die Entwicklung lebensverlängernder Therapien nicht entschlossen vorantreiben, dann nehmen wir manchen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, weitaus länger als wir selbst zu leben. Wir sind verpflichtet, den Menschen diese Möglichkeit nicht zu nehmen.

Als ich die Frage nach den ethischen und moralischen Einwänden gegenüber extremer Lebensverlängerung aufwarf, war die Antwort ebenso scheinbar logisch und treffend:

Gäbe es solche Einwände, dann wären sie in dieser Diskussion sicherlich von Bedeutung. Was aber zählt, ist das Recht, so lange zu leben, wie man gerne möchte, das ist das fundamentalste Recht auf dieser Welt. Und das ist nicht einfach meine Meinung. Jeder Moralkodex, ob religiös oder weltlich, scheint damit übereinzustimmen: Das Recht auf Leben ist das wichtigste Recht überhaupt.

Und dann, auf den nahe liegenden Einwand hin, dass ein solcher Moralkodex von unserer derzeitigen Lebensspanne ausgeht, und nicht von Tausenden von Jahren:

Das ist nur ein gradueller Unterschied. Es geht nicht um die Frage, wie lange ein Leben andauern sollte, sondern darum, ob das Ende des Lebens durch Handeln oder Untätigkeit beschleunigt werden sollte.

Und da ist er -- der ultimative Sprung genialer Argumentation, auf die ein Sophist stolz wäre: Durch unsere Untätigkeit, wenn wir nicht nach einem tausendjährigen Leben streben, beschleunigen wir den Tod.

Kein Wort der obigen Zitate ist in irgendeiner Weise geändert worden. De Grey spricht seitenweise in ausformulierten Absätzen. Viele Leser der Technology Review wissen nur allzu gut, wie entstellt Interview-Partner oft klingen, wenn sie wörtlich zitiert werden. Nicht so bei de Grey, der mit der gleichen Präzision spricht, mit der er auch schreibt. Zugegeben, seine Antworten können zunächst wie eine sorgfältig vorbereitete Predigt klingen, oder wie die Reden eines Verkäufers, der ähnliche Fragen schon viele Male zuvor beantwortet hat. Doch solche Gedanken verschwinden, wenn man eine Zeit mit ihm verbracht hat. Dann wird einem klar, dass er jede Äußerung auf die gleiche präzise Weise hervorbringt, egal ob es um ein altes Problem geht oder um Erzählungen beim Rundgang durch das Genetiklabor, in dem er arbeitet.

De Grey ist sich durchaus über das Ausmaß der Anstrengungen im Klaren, die für sein Ziel nötig sind. Doch er lässt sich nicht von meinem Einwand erschüttern, dass sein Optimismus einfach der Tatsache geschuldet sein könnte, dass er niemals selbst als Biowissenschaftler gearbeitet hat, und dass er dadurch vielleicht weder die natürliche Komplexität biologischer Systeme begreift, noch die möglichen Konsequenzen in vollem Umfang bedenkt, die sein Herumbasteln an einzelnen Teilen bewirken könnte.

Die Methodik von Ingenieuren auf die Biologie zu übertragen, darin sieht De Grey seinen wichtigsten konzeptionellen Beitrag bei der Lösung des Problems des Alterns. Doch anders als Ingenieure betrachten Biologen physiologische Vorgänge nicht als Einzelphänomene, die keinen Einfluss aufeinander haben. Jeder von de Greys Eingriffen wird sehr wahrscheinlich zu unvorhersehbaren und unberechenbaren Reaktionen in der Biochemie und der Physik der behandelten Zellen führen, ganz zu schweigen von ihrer extrazellulären Umgebung, dem Gewebe und den Organen, zu denen sie gehören. In biologischen Systemen ist alles miteinander verwoben, alles wird von allem anderen beeinflusst. Zwar studieren wir isolierte Phänomene, um Komplikationen zu vermeiden, doch diese Vereinfachung rächt sich, sobald aus "in-vitro” "in-vivo” wird. Gefahren lauern an jeder Ecke: hier ein paar verlängerte Telomere, dort ein wenig genetisches Material von einem Bodenbakterium, eine handvoll Stammzellen -- und im nächsten Augenblick fliegt dir alles um die Ohren.

Auf diese Sorge antwortete de Grey auf die gleiche Weise wie auf so vieles andere, sei es die drohende Überbevölkerung, die Auswirkung auf Familien- oder Gesellschaftsstrukturen oder die nötigen Arbeitsplätze für die quicklebendigen Tausendjährigen: Mit diesen Problemen werden wir uns beschäftigen, wenn sie akut sind. Wir werden uns anpassen, ob es nun um drohendes Chaos innerhalb von Zellen geht, oder um wirtschaftliche Zwänge. Seiner Meinung nach kann jedes Problem gemildert und gelöst werden, wenn es erst einmal erkannt ist.

De Grey hat interessante Ansichten über die menschliche Natur. Das Streben nach ewigem Leben ungeachtet der Konsequenzen ist für ihn ein grundlegender Zug der Menschheit -- der Wunsch nach Kindern dagegen nicht. Als ich widersprach und auf die beiden prägendsten Instinkte aller lebenden Organismen -- zu überleben und die eigenen Gene weiterzugeben -- hinwies, machte er von dem einen guten Gebrauch, leugnete aber den anderen. Seine Argumentation stützte er mit der Beobachtung, dass viele Menschen -- wie Adelaide und er -- sich gegen eigene Kinder entscheiden. Nicht ohne einen Hauch von Gereiztheit und einigem aufgeregten Gestikulieren antwortete de Grey:

Nach Ihrem Grundsatz haben wir alle den fundamentalen Drang, uns fortzupflanzen. Gewollte Kinderlosigkeit wird aber immer häufiger. Der Zwang zur Fortpflanzung ist eigentlich nicht so tief verwurzelt, wie uns Psychologen gerne glauben machen. Es mag sich einfach um eine Gewohnheit handeln, um eine Tradition. Meiner Ansicht nach beruht ein Großteil davon auf Indoktrination ... Ich würde jungen Mädchen keine Puppen zum Spielen geben, denn das könnte ihren Drank zur Mutterschaft verstärken.

De Grey hat bei verschiedenen Anlässen seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die große Mehrheit der Menschen Lebensverlängerung gegenüber Kindern und dem herkömmlichen Familienleben vorziehen würde. Aus diesem Grund würden viel weniger Kinder zur Welt kommen. Er zögerte nicht, sich auch mir gegenüber dahingehend zu äußern:

Wenn uns das Problem der Überbevölkerung klar wird, dann werden wir uns früher oder später für eine Lösung entscheiden [indem wir uns nicht fortpflanzen], denn je früher wir das tun, desto mehr Entscheidungsfreiheit haben wir darüber, wie und wo wir leben und wie viel Raum uns zur Verfügung steht und all das. Die Frage ist also, was werden wir tun? Werden wir uns für ein langes Leben und weniger Kinder entscheiden, oder werden wir auf Verjüngungstherapien verzichten, damit wir Kinder haben können? Für mich ist völlig klar, dass wir uns für die erste Möglichkeit entscheiden werden, aber entscheidend ist: Ich weiß es nicht und ich muss es auch nicht wissen.

De Greys Begründung, warum er das nicht wissen muss, ist die gleiche vertraute Forderung, auf die er immer wieder zurückkommt: dass jeder ein Recht auf eine eigene Entscheidung ungeachtet der Konsequenzen haben soll. Was wir wissen müssen, das können wir herausfinden, wenn die Tatsachen erst einmal geschaffen sind. Wenn wir aber der Menschheit nicht erst einmal die Wahlmöglichkeit geben, dann berauben wir sie ihres grundlegendsten Rechts. Wenig überraschend gewichtet ein so individualistischer und ungewöhnlicher Mensch wie er die Freiheit des einzelnen weit stärker als die möglicherweise schädliche Ernte, die eine solche Saat hervorbringen könnte. Wie jeder seiner Ausführungen fehlt auch dem Konzept der uneingeschränkten persönlichen Wahlfreiheit der Kontext der biologischen oder gesellschaftlichen Umgebung. Wie alles andere wird es eher in vitro als in vivo behandelt.

Das Ziel von de Greys weltweiten Kampagnen ist nur in zweiter Linie, die Ablehnung seiner Theorien zu überwinden. Sein oberstes Ziel besteht darin, sich selbst und sein Konzept so bekannt wie möglich zu machen -- nicht um des persönlichen Ruhmes willen, sondern um die beträchtliche Finanzierung der notwendigen Forschung zu fördern. Er hat einen Plan ausgearbeitet, zu welchem Zeitpunkt er bestimmte Meilensteine gerne erreicht sähe.

Der erste dieser Meilensteine wäre die Verjüngung von Mäusen. De Grey möchte die Lebenserwartung einer zweijährigen Maus, die normalerweise noch ein Jahr zu leben hätte, um drei Jahre erweitern. Seiner Meinung nach würde eine jährliche Förderung von 100 Millionen Dollar das "in zehn, höchstwahrscheinlich nicht schon in sieben, aber sicher in weniger als zwanzig Jahren” ermöglichen. Eine solche Leistung würde einen "Krieg gegen das Altern” auslösen und einen "enormen gesellschaftlichen Wandel” zur Folge haben.

In einem Artikel für die "Annals of the New York Academy of Sciences" [de Grey et al., 959: 452-462, 2002], der sieben Koautoren auflistet, schreibt de Grey: "Die Wirkung einer eindeutigen Umkehr des Alterungsprozesses in Mäusen auf die öffentliche Meinung und (zwangsläufig) auf die Politik wäre immens. Was auch immer zu diesem Zeitpunkt für eine adäquate somatische Gentherapie nötig wäre, die Arbeit würde dadurch auf Äußerste beschleunigt werden.” Damit nicht genug, so behauptet er, die öffentliche Begeisterung angesichts solch einer Errungenschaft würde auch die persönlichen Lebensentscheidungen vieler Menschen beeinflussen, die auf ein entsprechendes Alter hoffen. Mehr noch: Wenn der Tod durch eine Krankheit wie beispielsweise die Grippe im Alter von 200 Jahren plötzlich als zu früh erscheint, dann werde das drängende Problem der Infektionskrankheiten die Ausgaben von Regierungen und Pharmakonzernen für ihre Bekämpfung massiv verstärken.

Zudem würde die verdreifachte Lebenserwartung einer Maus mittleren Alters ganz neue Geldquellen auftun. Da Unternehmen und Regierungen Forschung bevorzugen, die in relativ kurzer Zeit brauchbare Ergebnisse liefert, rechnet de Grey nicht mit ihrer Unterstützung. Er setzt auf einen Zufluss privater Gelder, dank derer man das Altern auch im Menschen wird erfolgreich bekämpfen können, auch wenn das natürlich deutlich teurer sein wird als die Verjüngung von Mäusen. Doch ist es erst einmal gelungen, den Alterungsprozess der Nagetiere aufzuhalten, so glaubt de Grey, dann werden sich Milliardäre beteiligen -- um ihres eigenen langen Lebens willen.

Ist es wahrscheinlich, dass das Bild einer langlebigen Maus auf der Titelseite jeder Zeitung rund um den Erdball einhellige Begeisterung in der Öffentlichkeit auslösen würde? Ich bezweifle es. Eher wäre der Beifall mit Entsetzen durchmischt. Ethiker, Ökonomen, Soziologen, Geistliche und viele besorgte Wissenschaftler würden sich sicherlich zusammen mit einer großen Zahl besorgter Bürger zu einer Gegenbewegung formieren. Akzeptieren wir freilich De Grey oberstes Prinzip, nach dem die Sehsucht nach ewigem Leben jede menschliche Entscheidung bestimmt, dann werden persönliche Interessen -- manche würden es Narzissmus nennen - letztlich die Oberhand gewinnen.

De Grey prognostiziert, dass wir 15 Jahre, nachdem wir Mäuse verjüngt haben, damit beginnen könnten, den Alterungsprozess in Menschen umzukehren. Ersten, begrenzten Erfolgen würden dramatischere Durchbrüche folgen, so dass heute lebende Menschen das erreichen würden, was de Grey die "Fluchtgeschwindigkeit der Lebensverlängerung” nennt. De Grey räumt ein, dass es 100 Jahre dauern könnte, bis wir die menschliche Lebensspanne ernsthaft erweitern können. Er bestreitet aber, dass es noch wahrscheinlicher nie dazu kommen wird.

Er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass die Chancen für ihn äußerst schlecht stehen. Genauso wenig kann er sich vorstellen, dass nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die Gesellschaft gegen ihn sein könnte. Jedem Leser oder Zuhörer erklärt er schlüssig, warum es unter seinen Anhänger so verdächtig wenig etablierte Gerontologen gibt. Gegen jede Art von fundierter Kritik, die ihn zu einem Überdenken der eigenen Vorschläge zwingen würde, hat er sich bereits vorsorglich abgesichert, durch eine Weltanschauung, die ihn unangreifbar macht. Von ihr weicht er nicht einen Millimeter ab. Er lässt auf keinen Fall auch nur die Möglichkeit gelten, dass eines der Hindernisse sich als unüberwindlich erweisen könnte.

All das klingt eigentlich nach einem unsympathischen Menschen. Doch ein wichtiger Faktor für de Greys Erfolg ist weniger seine Wissenschaft als vielmehr er selbst. Es ist unmöglich, de Grey nicht zu mögen, wie ich während unseren beiden Treffen im Eagle gemerkt habe. Er mag hemmungslos gegen jeden wettern, der nicht mit ihm übereinstimmt -- irgendwie ist der Mann dabei einfach süß. Hinzu kommt sein mangelndes Interesse für Äußerlichkeiten, die entwaffnend aufrichtige Hingabe an seine Ziele, und so entsteht eher das Bild eines Genies als das eines falschen Propheten in eigener Sache. Selbst seine Kritiker können nicht umhin, ihn zu mögen, was angesichts des offensichtlich schrägen Vogels unerwartet ist.

Doch die nettesten Exzentriker sind manchmal die Gefährlichsten. Vor vielen Jahrzehnten dachte ich in meiner Naivität und Unwissenheit, unser Planet würde irgendwann das Opfer einer himmlischen Katastrophe: die Kollision mit einem riesigen Meteor, das Verglühen der Sonne -- irgendetwas in der Art. Im Lauf der Zeit änderte ich meine Meinung und nahm eher an, das Ende der Tage würde durch die Böswilligkeit eines wahnsinnigen Diktators herbeigeführt werden: Atombomben, künstlich erschaffene Mikroorganismen -- etwas in der Art. Doch meine Vorstellung von "etwas in der Art” hat sich verändert. Sollten wir vernichtet werden, davon bin ich jetzt überzeugt, dann wird das nicht durch eine neutrale oder böswillige Macht geschehen, sondern vielmehr durch eine extrem gutwillige, die nur die Verbesserung von uns und unserer Zivilisation im Sinn hat. Sollten wir je zugrunde gehen, dann durch die gut gemeinten Bemühungen von Wissenschaftlern, die nur unser Bestes wollen.

Wir wissen bereits, um wen es sich handelt. Es sind die DNA-Optimierer, die Eltern die Wahl über die genetische Ausstattung all ihrer zukünftigen Nachkommen geben wollen, ohne die Möglichkeit zu bedenken, dass das Ausmerzen bestimmter Eigenschaften das Überleben der gesamten Spezies und ihre gesunden Beziehungen zu jeder anderen Lebensform auf diesem Planeten gefährden könnte. Es sind die Biogerontologen, die eine Reduzierung der Kalorienzufuhr bei Mäusen untersuchen und uns eine um 20 Prozent verlängerte Existenz als merkwürdig ernährte Kreatur versprechen, wenn wir ebenfalls fasten; es sind diese anderen Biogerontologen, die jeden Abend voller Optimismus aus ihren molekularbiologischen Labors kommen, dem Ziel eines verlängerten Lebens ein Stück näher gekommen zu sein, und die dabei das Chaos herunterspielen, das ihre Manipulation sowohl auf zellulärer als auf gesellschaftlicher Ebene anrichten könnte.

Und schließlich ist es die einzigartige und auf seltsame Weise faszinierende Figur Aubrey de Grey, der unermüdlich schreibt und auf jeden einredet, der noch nicht vollends von seinen Ideen überzeugt ist, der wie ein zerzauster Botschafter einer neuen Zukunft verkündet, unser unveräußerlichstes Recht bestünde in der Möglichkeit, so lange zu leben wie wir es wollen. Mit der Leidenschaft eines Eiferers, der sich durch nichts von seinem Kreuzzug gegen die Zeit abringen lässt, ist er in meinen Augen letztlich die ultimative Herausforderung für unser Konzept von Menschlichkeit.

Paradoxerweise ist der Ruf seiner Fanfare nicht der eines Wahnsinnigen oder bösen Menschen, sondern der eines brillanten, gutherzigen Menschen voll guter Absichten, der nichts weiter will, als dass unsere Zivilisation das Beste bekommt, das er sich für sie vorstellen kann. Ich sehe es als Glück, dass seine hochfliegenden Pläne mit größter Wahrscheinlichkeit scheitern werden. Andernfalls würde de Greys Versuch uns zu erhalten mit Sicherheit zu unserer Vernichtung führen.

---

Sherwin Nuland ist Professor für klinische Chirurgie an der School of Medicine der Yale Universität und unterrichtet Bioethik. Er ist der Autor des Buches How We Die, das in den Vereinigten Staaten 1994 den National Book Award gewonnen hat. Nuland schreibt für mehrere Magazine, darunter auch den New Yorker. (sma [3])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-277703

Links in diesem Artikel:
[1] http://pontin.trblogs.com/archives/2005/07/the_sens_challe_1.html
[2] http://www.gen.cam.ac.uk/sens
[3] mailto:s.mattke@gmail.com