Zahlen, bitte! – 64.050.000 Pfund Wachs dank Sommerzeit sparen​

Die Sommerzeitumstellung bringt viele Debatten über ihren Sinn. Die Diskussionen sind aber nicht neu: Schon ein Gründervater der USA wollte damit Wachs sparen.

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Bald wird wieder auf Sommerzeit umgestellt. Die Diskussionen hierzulande um das Für und Wider haben eine lange Tradition bis in den Ersten Weltkrieg hinein: Deutschland wagte ab dem 30. April 1916 als erstes Land den Zeitsprung. Dabei ist die Debatte um Einsparungen durch die Zeitumstellung noch viel älter.

Berühmt ist die Berechnung von Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika, der bereits im Jahre 1784 berechnete, dass allein Paris fast 30 Tonnen Kerzenwachs einsparen könnte, wenn Frankreich vom 20. März bis zum 20. September die Sommerzeit einführte.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Im Jahr 1784 lebte Benjamin Franklin in Paris und rechnete den Parisern in einem anonym verschickten Brief an die Zeitung Journal de Paris vor, was die Zeitumstellung an Kosten einspart, weil Tageslicht billiger als Kerzenlicht sei. Sein Brief war leicht satirisch, denn Franklin ärgerte sich in ihm auch darüber, das reiche Pariser angeblich bis Mittag schlafen würden und somit viel nützliche Geschäftszeit vergeudeten. Seine Annahme war, dass man vom 20. März bis zum 20. September, also 183 Tage, die Ausnutzung des Sonnenlichts optimieren kann.

Benjamin Franklin (* 6. Januarj. in Boston; † 17. April 1790 in Philadelphia, Pennsylvania) machte sich in seinem Aufenthalt in Paris Gedanken über eine effektivere Ausnutzung der Tageszeit.

(Bild: Joseph Siffred Duplessis, um 1778)

Unter der weiteren Annahme, dass die Kerzen jede Nacht 7 Stunden lang brennen, kam er mit 183 × 7 auf eine Ersparnis von 12.881 Stunden. Rechnerisch nahm er weiter an, dass 100.000 Familien in Paris leben. Damit summiert sich die Einsparung auf 128.100.000 Stunden. Unter der weiteren Annahme, das ein halbes Pfund Wachs pro Lichtstunde benötigt wird, könnten also 64.050.000 Pfund (lb) Wachs eingespart werden, meinte Franklin. Bei einem Preis von 30 Sols pro Pfund wären das laut Benjamin 96.075.000 Livres, was sich nach einer Umrechnung auf zeitgenössische 1.083.394.820,98 Euro Einsparung belaufen würde.

Nach dieser Milchmädchenrechnung schlug Franklin den PariserInnen im Brief einen 4-Punkte-Plan vor:
1. sollte eine Steuer auf alle Fenster erhoben werden, die geschlossen werden können, um das Licht auszusperren.
2. sollte jede Familie nicht mehr als ein Pfund Wachs pro Woche kaufen dürfen.
3. sollten alle Kutschen nach Sonnenuntergang stehen bleiben und jeder Transport untersagt werden, der Licht benötigt.
4. sollten zum Sonnenaufgang alle Glocken läuten, damit die Geschäfte beginnen können. Für die Pariser Schlafmützen schlug er obendrein vor, sie mit Kanonenschüssen in allen Stadtvierteln zu wecken.

Die Vorschläge von Benjamin Franklin wurden von den Parisern bis auf einen Punkt ignoriert. Nach der Französischen Revolution wurde eine Fenstersteuer als Reichensteuer eingeführt, die bis 1926 erhoben wurde. Wenn man will, so kann man in den Gedanken des französischen Ökonomen Frédéric Bastiat eine Reaktion auf Franklin sehen.

Bastiat verfasste eine "Petition der Fabrikanten von Kerzen, Lampen, Kerzenständern, Straßenlaternen, Lichtputzscheren, Kerzenlöschern und von Talg-, Öl-, Harz-, Alkoholprodukten sowie allgemein von allem, was der Beleuchtung dient". Er schlug in dieser Petition den Abgeordneten der Deputiertenkammer vor, zum Schutz der Kunstlichtproduzenten eine Steuer auf das Sonnenlicht einzuführen.

123 Jahre nach Franklin machte sich der Brite William Willett ans Rechnen. Willett war von einem Ausritt in den Morgenstunden nach London zurückgekehrt und machte sich Gedanken darüber, warum außer den Postboten und den Milchmännern niemand auf der Straße war, das Tageslicht ausnutzend. In seiner Schrift "The Waste of Daylight" errechnete er 1907 auf der Basis von 0,1 Pence pro Stunde Kunstlicht bei 210 Stunden Sommerlicht pro Jahr die jährliche Kostenersparnis pro Person auf 1 Shilling und 9 Pence.

Gedenkstein an William Willet mit Sonnenuhr in Petts Wood, im Südosten Londons. Auf der Sonnenuhr steht "horas non numero nisi æstivas", was so viel heißt wie "Ich zähle nur die sonnigen Stunden".

(Bild: Ethan Doyle White, CC BY-SA 4.0)

Multipliziert mit der Einwohnerschaft von Großbritannien und Irland (43.600.000) kam er auf 3.820.250 Pfund, von dem ein Drittel abgezogen wurde, "um allen möglichen Einwänden Rechnung zu tragen". Am Ende waren es 2.546.834 Pfund, die heute rund 200 Millionen Pfund ausmachen würden. In seiner kleinen Schrift beschäftigte sich auch Willett mit den Einnahmeverlusten der "Produzenten von Kunstlicht" und der Frage nach den Kosten für den Eisenbahnverkehr.

Am Wichtigsten stellte sich für Willett das Plus an Gesundheit für die gesamte Bevölkerung dar: "Licht und frische Luft sind unsere beste Verteidigung, und wenn der Konflikt naht, werden sie eine der effektivsten Waffen sein, um die Invasoren niederzuschlagen". William Willett starb 1915.

Er erlebte nicht mehr, dass ausgerechnet das Deutsche Reich per kaiserlichem Dekret die Sommerzeit 1916 einführte, während das britische Parlament es in mehreren Anläufen 1908, 1911 und 1914 nicht schaffte, die Daylight Saving Time Bill von Willett zu verabschieden. .

Die mit kaiserlichem Dekret eingeführte Sommerzeit ab dem 30. April 1916 im Deutschen Reich war eine Kriegsmaßnahme, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Die Frankfurter Zeitung lobte die Maßnahme, rechnete den Lesern 150 zusätzliche Arbeitsstunden vor und nannte sie "ein wertvolles Geschenk für unsere Kriegsanstrengungen".

Als Verbündeter des Deutschen Reiches stieg auch Österreich-Ungarn sofort in die Sommerzeit ein, ebenso die neutralen Niederlande mit ihren engen Wirtschaftsbeziehungen zum Deutschen Reich. Auch hier wurde gerechnet: im ersten Jahr der Umstellung meldete die Berliner Handelskammer "von der Heimatfront", dass die Stadt eine halbe Million Kubikmeter Gas im Vergleich zum Vorjahreszeitraum weniger verbraucht hatte. Kriegsentscheidend war die Maßnahme freilich nicht, denn Großbritannien stellte als Reaktion auf das Deutsche Reich am 21. Mai 1916 ebenfalls auf die Sommerzeit um.

Fast ebenso eilig folgte Frankreich, wo die L'heure d'été am 14. Juni 1916 begann. Nur in den USA, damals noch nicht am Weltkrieg beteiligt, spottete man über die Maßnahme. Die New York Times nannte die Sommerzeit "the Kaiser's trick hour" und der Präsident der American Railway Association erklärte, man könne ja unmöglich die 1.698.818 Uhren auf allen Bahnhöfen der Vereinigten Staaten umstellen. Unbeeindruckt von den Debatten führte die Seifen- und Zahnpastafirma Colgate die Sommerzeit bereits 1915 ein, zur Freude der Arbeiter, die den längeren Sommernachmittag genossen. Mit dem Kriegseintritt der USA änderte sich indes die öffentliche Meinung und so wurde am 31. März 1918 auch in den USA die Sommerzeit eingeführt. Kanada folgte zwei Wochen später.

Ob in den USA, ob in Großbritannien oder ob man das untergegangene Deutsche Reich nimmt: in allen Ländern war der Widerstand der ländlichen Räume gegen den staatlichen Eingriff in das Zeitgefüge am heftigsten. Ausgerechnet die Bauern und die Landarbeiter, seit jeher daran gewöhnt, mit den Jahreszeiten und Sonnenständen zu gehen, revoltierten gegen die Zeitumstellung.

Wie David Prerau, der Historiker der Sommerzeit in seinem Buch "Seize the Daylight" erklärt, sah sich die Landbevölkerung vor allem um ihr Privileg gebracht, ihre eigene private "Zeitumstellung" ohne Intervention der "Städter" zu leben. Das galt übrigens auch für das ländlich geprägte Russland, abgesehen von der Tatsache, dass dort während der ersten Sommerzeit-Umstellungen eine Revolution stattfand. Erst 1930 beschloss der Oberste Sowjet die Einführung der "Dekretzeit" (Ukaz Vremeni), mit der die Uhr in den einzelnen sowjetischen Zeitzonen um eine Stunde vorgestellt wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man im zerstörten Deutschland andere Probleme als eine Diskussion um Sommer- oder Winterzeit: 1949 wurde die Sommerzeit wieder abgeschafft. Erst die Ölkrise 1973 gab den Anstoß, über eine Sommerzeit wieder nachzudenken mit dem Ergebnis, dass sie ab 1980 in West- sowie Ostdeutschland wieder eingeführt wurde. Das ist aber eine andere Geschichte.

(mawi)