ePA, E-Rezept und Co.: "Am grünen Tisch entwickelte Konzepte helfen nicht"

Warum Könige und Fürsten die Digitalisierung des Gesundheitswesens verlangsamen und es eine richtige Digitalstrategie und keine "elektrifizierten PDFs" braucht.

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(Bild: metamorworks/Shutterstock.com)

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Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens geht es voran, wenn auch holprig. Die Liste der gescheiterten oder verzögerten Projekte ist lang – Vorgaben müssen immer wieder nachgebessert werden. Einen Lichtblick stellt die Anzahl der elektronischen Krankschreibungen dar, die aus den Praxen an die Krankenkassen übermittelt wurden. Bisher wurden laut dem Dashboard der Gematik GmbH 64.341.806 eAUs (Stand 6. Januar 2023) von den Ärzten verschickt – immerhin fast 80 Prozent aller jährlich bei gesetzlich Versicherten versendeten Krankschreibungen. Bei den E-Rezepten hingegen läuft es bisher nicht so gut.

Das liegt unter anderem daran, dass es bis zum geplanten Start des E-Rezept-Rollouts Anfang 2022 lediglich 42 testweise ausgestellte E-Rezepte – im Vergleich zu 800 Millionen jährlich ausgestellten Rezepten – gegeben hat. Verständlicherweise wurden Fehler erst beim Anwender festgestellt. Laut Erich Gehlen, Geschäftsführer des Praxissoftware-Herstellers Duria eG, ist dies dem Umstand geschuldet, "dass die Industrie Tests lediglich in einer sogenannten Referenzumgebung durchführen kann. Sie hat niemals einen direkten Zugang zur Produktivumgebung." Jedoch bedeutet ein erfolgreicher Test in der Referenzumgebung nicht automatisch, dass die Anwendung auch problemlos in der Produktivumgebung läuft. Hilfreich wäre es, wenn die Software-Anbieter ihre Anwendungen mit eigenen Accounts selbst testen könnten.

Doch die Industrie und Anwender wurden erst nach Ende der Konzeptionsphase in die Prozesse einbezogen. Zwar sind die Software-Häuser darum bemüht, ihren Anwendern zeitnah ein Update zu liefern, wann dies eingespielt wird, liegt jedoch in der Verantwortung des Praxisinhabers – die dazu auch befähigt sein müssen oder auf die Hilfe eines entsprechenden Dienstleisters angewiesen sind.

Jan Meincke, Geschäftsführer des norddeutschen Unternehmens MediSoftware, sieht die Verantwortung für die schleichende Digitalisierung beim Bundesgesundheitsministerium. "Hier gab es bisher weder eine 'Digitalisierungsstrategie' noch den Willen, die vielen Könige und Fürsten in der Selbstverwaltung auf ihre fachlichen Kompetenzen zu beschränken und die professionelle Erstellung und Pflege von Spezifikationen in einer zentralen Institution zu bündeln." Meincke und Gehlen zufolge braucht es eine "echte Digitalisierungsstrategie", die nicht bloß eine "Elektrifizierung" von Papierprozessen bedeute. "Politik und Selbstverwaltung sollten erkennen, dass sich Konzepte, die am grünen Tisch entwickelt werden, nicht im Versorgungsalltag umsetzen lassen", sagt Meincke.

Es brauche "einen roten Faden, an dem sich alle Akteure sowohl im chronologischen Ablauf über Legislaturperioden hinweg als auch bei der Priorisierung von Schritten klar orientieren können [...]. Stattdessen wurde eine bereits vor Jahren veraltete Technologie umgesetzt, die Hardware-basierten Komponenten der Telematikinfrastruktur (TI)", fordert Gehlen. Die TI ist für den Austausch von Gesundheitsdaten gedacht. Diese sei auf Dauer nicht wartbar – bereits der Ausfall eines Zertifikats reicht, damit mehrere Komponenten nicht mehr funktionieren.

Bei fast allen Entscheidungen wird die Industrie bestenfalls "ins Benehmen" gesetzt, statt dass auf die zum Teil jahrzehntelange Erfahrung mit Prozessoptimierungen und Optimierungspotenzialen zurückgegriffen wird", moniert Meincke. Es müsse eine echte Digitalisierungsstrategie als partizipativer Vorgang aller Akteure inklusive der Industrieexpertise erstellt werden. Genau das hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) im September 2022 angekündigt. Das BMG wolle eine Digitalstrategie unter Einbezug aller Akteure des Gesundheitswesens erarbeiten und das Ergebnis im Frühjar auf der DMEA – der Messe für Medizin-IT – vorstellen.

Ein Hindernis ist laut Gehlen die über Praxisgrenzen hinausgehende Kommunikation – angefangen mit den "elektrifizierten" Formularen. So werden lediglich PDF-Dokumente versandt und empfangen. Selbst wenn der Interoperabilitätsstandard FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) eingesetzt würde, sei es sehr umständlich, Prozesse damit abzubilden. Ein Beispiel für eine nicht praxistaugliche Spezifikation sieht Gehlen in den MIOs, den medizinischen Informationsobjekten. Immer wieder geraten die fehlerhaften Spezifikationen in Bezug auf die MIOs in Kritik, Praxisabläufe nicht korrekt abbilden zu können. Daher lässt das Bundesgesundheitsministerium inzwischen prüfen, welche MIOs zukunftstauglich sind.

Immerhin lassen sich inzwischen alltägliche Abläufe in der Praxis digital abbilden und teilweise automatisieren – von der Terminvergabe über das Einlesen der elektronischen Gesundheitskarte bei der Anmeldung bis hin zur Übernahme von Daten medizinischer Geräte in die elektronische Karteikarte und der Arztbrieferstellung. Dabei kommt unter anderem der elektronische Heilberufsausweis (eHBA) zum Einsatz, über den laut Bundesärztekammer inzwischen rund 80 Prozent der niedergelassenen Ärzte verfügen (Stand November 2022). Auch eine statistische Erfassung der Daten ist ohne großen Aufwand möglich. Laut Erich Gehlen sind all solche Anwendungen aus den Anforderungen der Praxisinhaber entstanden – viele davon, ohne dass jemand sie vorgegeben hätte.

Die Neuaufnahme der §332a und §332b ins Krankenhauspflegeentlastungsgesetz betrachten Gehlen und Meincke kritisch. Die Paragrafen sollen unter anderem eine "diskriminierungsfreie Einbindung aller Komponenten und Dienste" sicherstellen. Sie soll zudem ohne zusätzliche Kosten für die Anwender erfolgen. Außerdem soll es keine "unangemessen langen Kündigungsfristen" seitens der Anbieter und der Hersteller geben.

Laut Meincke seien die Paragrafen der hilflose Versuch der Politik, die "Walled Garden"-Geschäftsmodelle einiger weniger Hersteller von Praxisverwaltungssystemen einzudämmen und gleichzeitig alle PVS-Hersteller für die Stabilitäts-, Update- und Verfügbarkeitsprobleme der Telematikinfrastruktur pauschal verantwortlich zu machen. Sowohl bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als auch bei der Gematik gebe es seit Langem die Möglichkeiten, Anbietern die Zulassungen wieder zu entziehen und damit gegebenenfalls gezielt steuernd einzugreifen – davon werde allerdings aufgrund der Bedeutung gewisser Anbieter kein Gebrauch gemacht. Zudem könne der freie Markt mit den Neuerungen Gehlen zufolge möglicherweise außer Kraft gesetzt werden, da es der Kassenärztlichen Bundesvereinigung möglich wird, mit bestimmten Anbietern Einzelverträge abzuschließen.

§304 Absatz 2 ermöglicht hingegen eine Entlastung von Praxen und des Supports durch die Softwarehäuser. Bisher erhält die Praxis beim Verfahren zur elektronischen Krankschreibung eine Fehlermeldung nach dem Versand der eAU, wenn der Patient nicht mehr bei der Kasse versichert ist. In der Praxis hat dies laut Gehlen zu Umständen und einer damit verbundenen Mehrbelastung geführt. Künftig muss die bisher zuständige Krankenkasse die Arbeitsunfähigkeitsdaten an die neue Krankenkasse übermitteln.

Derzeit hapert es bei der Telematikinfrastruktur an Interoperabilität. Die von der Gematik und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) kommenden Spezifikationen sind nicht interoperabel und widersprechen sich, obwohl sie auf FHIR basieren, sagt auch Dr. Ralf Brandner, Vorstandsmitglied vom Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V. Daher sei zunächst die Frage zu klären, auf was man sich bei dem Begriff Interoperabilität verständigen will und wofür sie gelten soll. Die Interoperabilität zwischen den TI-Komponenten hat es laut Gehlen auf Anwendungsebene schon von Anfang an nicht gegeben. Wünschenswert wäre seiner Ansicht nach sogar eine Interoperabilität auf der Managementebene der Komponenten. Es brauche "fest definierte Vorgaben inklusive Schnittstellenspezifikationen".

Meincke schlägt darum ein unabhängiges Gremium vor, dass alle Spezifikationen verantworten und pflegen soll – quasi eine Medizin-DIN. Die Organe der Selbstverwaltung – die KVen und deren bundesweit tätigen Verbände – dürfen in diesem Zusammenhang lediglich die fachlichen Anforderungen vorgeben. Außerdem vertritt er die Meinung, dass die Gematik keine eigene Software herausgeben soll. Die E-Rezept-App der Gematik habe eindrücklich gezeigt, wie die Digitalisierung nicht laufen sollte. Bei der Erstellung der Covid-Impfzertifikate haben die notwendigen Prozesse auch nach Ansicht von Unterabteilungsleiter für Gematik, E-Health und Telematikinfrastruktur im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Sebastian Zilch, schließlich auch zügig funktioniert.

Auch die elektronische Patientenakte hat sich bisher noch nicht etabliert, obwohl sie künftig das Herz für die Nutzung von Patientendaten sein soll. Mittels mehrstufiger Anmeldung müssen sich gesetzlich Versicherte für die Patientenakte verifizieren. Einen weiteren Hinderungsgrund für die flächendeckende Einführung sieht Gehlen in den seit Jahren geführten Diskussionen über den Nutzen einer patientengeführten elektronischen Patientenakte – verbunden mit praxisfernen technischen Vorgaben Hinderungsgründe für ihre flächendeckende Einführung.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will die Einführung mit einer Opt-out-Regelung beschleunigen – alle bekommen eine elektronische Patientenakte, können aber widersprechen. Doch es scheint noch offene Fragen zu geben – etwa bei Dr. Thomas Kriedel von der Kassenärztliche Bundesvereinigung. Er wisse nicht, was der Gesetzgeber sich darunter genau vorstellt. Unklar sei laut Kriedel auch, welche Daten in welchem Detail in die ePA kommen sollen, oder wer welche Zugriffsrechte erhält, und ob die Krankenkassen und die Patienten eigene Daten einstellen können. Sogar bei den Beteiligten herrschen also noch Unklarheiten, was die vom Bundesgesundheitsministerium geforderte elektronische Patientenakte eigentlich sein soll.

Nicht nur bei den verschiedenen Organen im Gesundheitswesen, sondern auch beim Datenschutz sorgt der Föderalismus für Unstimmigkeiten. Bei allen Bundesländern kann es zu eigenen Auslegungen für den Datenschutz kommen. "Man muss das 'Duo-Infernale' aus technischen Sicherheitsanforderungen (BSI) und Datenschutz (BfDI) kritisch hinterfragen", fordert Meincke. Ihm zufolge müsse das "Recht auf die Nutzung medizinischer Daten" meist vor dem "Recht auf informelle Selbstbestimmung" zurücktreten. In der Folge würden nicht alltagstaugliche Workflows und Freigabeprozesse entstehen.

Datenschützerinnen und Datenschützer hingegen wünschen sich neben einem Forschungsdatengesetz, früher in die Prozesse einbezogen zu werden und nicht erst "wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist". Eine Einigung braucht es künftig auch für den gemeinsamen Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS), der für einheitliche Standards zur Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten sorgen soll. Geplant ist, die Telematikinfrastruktur für diese Zwecke entsprechend auszubauen. Neben einem gemeinsamen Forschungsdatenraum soll auch die Industrie einfacher auf Gesundheitsdaten zugreifen können. Die Risiken der Datennutzung sollen minimiert und bei Datenschutzverstößen wirksam sanktioniert werden. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Man darf gespannt sein auf die im April vorliegende Digitalstrategie.

(mack)