Der Pessimist der Globalisierung

Der Systemtheoretiker John L. Casti glaubt, dass die Globalisierung ein "Bull-Market-Phänomen" ist. Für die gegenwärtig von den Bullen dominierten Finanzmärkten prognostiziert Casti einen dramatischen Einbruch in etwa ein bis zwei Jahren.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 4 Kommentare lesen
Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Tom Sperlich
Inhaltsverzeichnis

John L. Casti sagt der Globalisierung schon mal "Good-Bye". Denn wegen der in den Pessimismus drehenden sozialen Stimmung in den Gesellschaften, die der Forscher misst und analysiert, seien auch die Zeiten der Globalisierung an einem Wendepunkt angelangt.

Der Systemtheoretiker promovierte 1970 in Mathematik an der University of Southern California. Anschließend arbeitete er für die RAND Corporation, die University of Arizona und an den Universitäten von New York und Princeton sowie dem Santa Fe Institute.

Seit Mitte der siebziger Jahre lebt John Casti vorwiegend in Wien. Dort war er einer der ersten Mitarbeiter des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA).

1986 übernahm er eine Professur für Operations Research and System Theory an der Technischen Universität Wien. Heute forscht er am Wissenschaftszentrum Wien und am IIASA. Sein Schwerpunkt ist die mathematische Systemmodellierung von Problemen in der Wirtschaft, im Finanzsektor und in großen Netzwerken. Technology Review sprach mit John Casti bei einem Zukunftsforschertreffen in Luzern.

Technology Review: Herr Casti, Sie sind ausgebildeter Mathematiker und außerdem Zukunftsforscher – zumindest werden Sie als solcher bezeichnet. Wie passt eine solch exakte Wissenschaft wie Mathematik mit der doch eher vagen Zukunftsforschung zusammen?

John Casti: Also zunächst einmal empfinde ich es als etwas merkwürdig, wenn man mich als Zukunftsforscher bezeichnet. Ich bin nicht eigentlich beleidigt, aber es werden eben falsche Tatsachen vorgespiegelt. Ich sehe mich selbst nicht als Futurologe, aber wie jedermann bin ich natürlich an der Zukunft interessiert, speziell an meiner eigenen (lacht). In diesem Sinne sind wir freilich alle Futurologen.

Aber ich schreibe keine Bücher über die Zukunft oder halte bei großen Unternehmen Vorträge über die Zukunft. Hier auf der "European Futurists Conference" bin ich das erste Mal auf solch einer Art von Veranstaltung mit Leuten, die sich auch selbst als Zukunftsforscher bezeichnen. Und ich lerne wirklich eine Menge, was in dieser Community so passiert, wie die Leute denken und mit welchen Fragen sie sich beschäftigen.

Durch Bekannte in Wien, die schon ein paar Bücher über Zukunftsforschung geschrieben haben, fing ich jedenfalls an, mich für die Idee zu interessieren, auf der Basis wissenschaftlicher Grundlagen ein bisschen weiter in die Zukunft zu blicken. Und wenn ich als professioneller Mathematiker und als jemand, der mathematische Modelle für Computersimulationen entwickelt, diese Bücher lese, fühle ich mich ein bisschen unwohl mit den Argumenten, die diese Leute tendenziell benutzen, nämlich wie das Leben morgen, nächstes Jahr oder im nächsten Jahrzehnt sein wird.

Meistens laufen diese Argumente darauf hinaus, dass es heisst: Morgen wird es so sein wie heute, wahrscheinlich ein bisschen besser – oder etwas schlechter. Das sind überhaupt keine Voraussagen, sie besitzen null Informationswert. Das Einzige, was daran noch irgend einen Wert hat, ist folgende Betrachtung: Wenn das der momentane Trend ist, wo und wann wird sich das ändern, wo schlägt es über...?

Und als Mathematiker weiß ich, dass diese kritischen Punkte, an denen es kippt, im Verlauf aller möglichen Zeiten nur sehr spärlich verteilt sind. Wenn man also zufällig eine Zeit nimmt und sagt: Morgen wird alles so sein wie heute, außer vielleicht ein wenig besser, dann ergibt sich die äußerst große Wahrscheinlichkeit, dass man recht behält. Auf diese Weise hat man fast immer recht – doch der Informationsgehalt ist eben wie gesagt gleich Null. Ich hingegen war daran interessiert, ob es mir möglich sein würde, eine Methode zu entwickeln, diese Wendepunkte zu identifizieren.

TR: Das ist ein etwas anderer Ansatz im Vergleich zu Vielem in der herkömmlichen Futurologie. Diese hat ja schon alles Mögliche prophezeit, fliegende Autos und das Paradies auf Erden. Das waren alles Vorhersagen, die aus einer simplen Extrapolation der bisherigen Entwicklung gewonnen wurden. Sie haben da offenbar einen exakteren, mathematischen Ansatz für Ihre Zukunftsbetrachtungen.

Casti: Ich nenne meine Methode eine Mischung aus Wissenschaft und Psychologie. Ich glaube, die Art von Ereignissen und Aktivitäten, die wir auf einer Gruppenebene sehen – den Ausbruch von Kriegen, Wahlausgänge, selbst Populärkultur, etwa was Leute lesen, welche Musik sie hören und wie sich kleiden –, das sind alles Dinge zwar mit unterschiedlichen Zeitskalen, aber von derselben grundlegenden Kraft angetrieben: der kollektiven Stimmung in einer Bevölkerung.

Wie fühlt sich eine Gruppe von Menschen angesichts der Zukunft? Ist sie optimistisch oder pessimistisch eingestellt? Die Regeln, welche die Gruppendynamik, die Gruppenpsychologie bestimmen, sind völlig unterschiedlich von denen, die man auf der Ebene von Individuen sieht. Deshalb gibt es das auch nicht, dass Individuen sagen, ja, ich denke positiv oder fühle mich schlecht, und die ganze Gruppe fühlt sich deswegen genauso. Das funktioniert so nicht.

TR: Haben Sie nicht auch einen Begriff für diese Art von Prozessen?

Casti: Ja, "Socionomics" – aber der Begriff stammt nicht von mir, sondern vom einem Finanztheoretiker in den USA namens Robert Prechter, der sehr wichtige Arbeit in diesem Bereich leistet und Bücher schrieb wie etwa "The Wave Principle of Human Social Behavior and the New Science of Socionomics". Socionomics ist eine Theorie, mit der versucht wird, Muster in kollektivem menschlichen Verhalten und Handeln sowie die dahinter liegenden Kräfte zu identifizieren und zu erläutern. Und so auch Hinweise auf mögliche Ereignisse in der Zukunft zu gewinnen, eine Art "Wettervorhersage".

TR: Sie glauben, wir erleben gegenwärtig so eine Art von Wendepunkt, wo sich die Stimmung in der Gesellschaft oder in Organisationen beginnt zu verändern?

Casti: Ja, das glaube ich. Das hängt jetzt etwas von der Größenordnung des Events und der Zeitskala ab, auf der dieser stattfindet. Populäre Filme oder Musik etwa sind kurzlebige Phänomene, die sich über ein paar Monate, ein Jahr oder so hinweg entfalten – Moden oder Marotten, wenn Sie so wollen –, aber dann bald verschwinden. Phänomene in einer größeren Zeitskalierung, Kriege, politische Ideologien, der Aufstieg und Fall von Zivilisationen – das entfaltet sich über mehrere Jahrzehnte, in manchen Fällen über Jahrhunderte hinweg.

Auch auf einer Zeitskala, die man in Jahre oder Jahrzehnte unterteilt, gibt es damit zusammenhängende Erscheinungen, etwa die Globalisierung. Auch hier gilt: Die Globalisierung ist eine weltweite soziale Aktivität, die von der globalen sozialen Stimmung getragen wird. Tatsächlich waren wir seit ungefähr 1975 30 Jahre lang in einer Periode von fast schon hartnäckiger, positiver sozialer Stimmung. Doch um das Jahr 2000 herum begann diese umzuschlagen, der Globalisierungsprozess fing an, sich abzuflachen.

TR: Was sind eigentlich die Indikatoren, aus denen sie Ihre Schlüsse ziehen?

Casti: Mein "Soziometer", also meine Indikatoren um die soziale Stimmung zu messen, sind vor allem die durchschnittlichen Werte der Finanzmärkte. Diese repräsentieren die Wetten, die die Menschen auf die Zukunft machen – auf allen Zeitskalen. Wenn Sie heute ein Investment machen unter dem Gesichtspunkt, was es wohl in einem Jahr wert sein wird, dann schließen Sie eine Wette darauf, wie die Zukunft aussehen wird. Dasselbe gilt natürlich für Daytrader. Es ist nur eine andere Zeitskalierung, die wetten darauf, was in einer Minute oder am darauf folgenden Tag passiert.

Finanzmärkte sind sehr effizient darin, all diese Wetten aufzunehmen und sie in eine einzige Zahl zu synthetisieren, die die Veränderung des Preises anzeigt. Diese Preisbewegungen verlaufen alle nach dem gleichen Muster. Man kennt die Charts mit solchen Wellenmustern, einmal auf Tagesbasis und andere auf Jahresbasis, und wenn man dann die Beschriftung wegnimmt, wüssten Sie mit ziemlicher Sicherheit nicht, welche Welle zu welchem Zeitraum gehört.

Sie schauen alle gleich aus, sie haben alle dasselbe Muster. Das ist sehr wichtig, denn wenn Sie eine Theorie kreieren wollen, wie sich die soziale Stimmung entfaltet, dann brauchen Sie nicht eine neue Theorie für jede Zeitskalierung. Alles, was Sie brauchen, ist der eine, gleich bleibende theoretische Ansatz – es ist wie ein Fraktal, eine fraktale Welle.

TR: Und das ist Ihr hauptsächlicher Indikator für Ihre Theorie, dass das Zeitalter der Globalisierung demnächst wieder verschwindet?

Casti: Das läuft bereits schon. Thomas Friedman von der New York Times schrieb den Bestseller "The World is flat" – den Titel hat er schon einigermaßen richtig gewählt –, aber es ist nicht die Erde, die "flat" ist, sondern die Globalisierung. Sie ist derzeit an einem Wendepunkt angelangt. Man könnte natürlich sagen, vielleicht ist der Globalisierung zur Zeit gerade etwas die Luft ausgegangen, danach wird der Prozess aber weitergehen.

Mathematisch gesehen ist das ein kritischer Punkt. Aber das ist nicht der Punkt, auf den man setzen sollte, es ist ein so genannter degenerierter kritischer Punkt. Die normalen kritischen Punkte sind die, die wie ein Ball aussehen, sie bewegen sich entweder nach oben oder sie gehen nach unten. Der flache kritische Punkt kann sich durch einen kleinen Stoß in eine der anderen Formen verwandeln. Nur ein kleiner Störeinfluss, eine Perturbation, reicht – er zerstört bereits die Degenerierung. Das ist nicht der Punkt, auf den man wetten sollte.

TR: Zurück zur sozialen Stimmung. Ist es nicht so: Anfangs hat man Aktionen, dazu kommen entsprechende Stimmungen und Gedanken, Überlegungen? Sie sagen, dass es umgekehrt wäre: Erst gibt es die sozialen Stimmungen und Gedanken, welche die darauf folgenden Aktionen beeinflussen.

Casti: Ja, richtig. Ich formuliere es mal etwas präziser. Die soziale Stimmung kreiert so etwas wie eine Umgebung, besser gesagt ein Klima – nennen Sie es einen Zeitgeist –, das die Aktivitäten, die passieren können, bereits vorbeeinflusst. Das Wesen, die Stimmung der Zeit, erschafft ein Environment, Nebenbedingungen – sie kreiert, wenn Sie so wollen, eine Bühne, auf der Events und Aktionen sich entfalten. Aber wenn dieser Zeitgeist, diese Stimmung positiv oder optimistisch ist, ist die Art der Ereignisse, die erwartet werden können, komplett verschieden von der Art der Ereignisse, die zu sehen sind, wenn die Stimmung negativ ist oder die Menschen pessimistisch über die Zukunft denken.

Ich würde sagen, in den letzten 50 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs war die langfristige soziale Stimmung im Grunde positiv. Die Menschen waren optimistisch, sie glaubten daran, dass das Morgen oder das nächste Jahr besser sein werde als das Heute, das Leben ihrer Kinder würde besser sein als ihr eigenes – dieser ganze Prozess ist jetzt dabei, sich abzukühlen.

TR: Basierend auf all den erlebten politischen, ökonomischen Entwicklungen? Die ersten Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg ging es erst mal nur aufwärts – die Volkswirtschaften wuchsen stürmisch.

Casti: Ja, alles war optimistisch. Aber heutzutage, wenn Sie sensibilisiert sind und wenn Sie glauben, dass dieser Prozess ja vielleicht kippt – und wenn er dies tatsächlich tut –, welcher Art von Ereignissen können wir dann entgegensehen?

In Perioden mit positiver Stimmung erfährt und erlebt man Dinge, für die man Wörter benutzt wie "expandierend", "vereinend" und "glücklich". In Perioden mit negativer Stimmung gibt man Ereignissen Labels wie "fragmentiert" oder "traurig" oder "xenophobisch". Und wenn man regelmäßig in die Zeitungen schaut, sieht man ständig Frühwarnzeichen genau dieser negativen Entwicklungen, noch etwas distanziert, aber vernehmbar.

Es ist sicherlich kein besonders erfreuliches Bild, das ich zeichne, die Leute danken mir auch nicht gerade, wenn ich darüber spreche. Nicht, dass sie es nicht hören wollten, aber man fängt dann eben an, sich daran zu erinnern, dass es mit den Dingen nicht einfach ständig nur aufwärts geht. Was rauf geht, kommt am Ende auch wieder runter, das weiß jedes Kind.

Aber es ist trotzdem eine äußerst interessante Zeit in der wir leben. Wir sind in einer Periode der Transformation. Aus meiner Sicht sollten sich all jene fragen, die ein Land regieren, eine Organisation leiten oder lediglich ihr eigenes Leben: Was kann ich schon heute machen, um mich auf eine möglicherweise nicht sonderlich angenehme Zukunft vorzubereiten?

TR: Ihre Einschätzung, dass die Globalisierung drauf und dran ist zu enden, hat auch etwas Erschreckendes. Denn es gab ja auch ein gewisses Bedürfnis nach der Globalisierung – vielleicht weniger aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch aus ökologischen heraus...

Casti: ...und aus psychologischen Gründen...

TR: ...genau. Doch scheint sie sich dahin zu verändern, dass Länder ihre Eigeninteressen wieder stärker betonen – vielleicht eine Retrovariante von "think global, act local".

Casti: Nun, eigentlich war es schon so: Zuerst nahm die Macht der Nationalstaaten ab und der freie Fluss der Waren, von Geld und Arbeit war im Grunde organisiert von der Marktwirtschaft und dem multinationalem Kapital. Die Umkehrung davon ist das, was jetzt passiert und was wir täglich in der Zeitung lesen können: Die Nationalstaaten behaupten wieder ihre individuelle Autorität.

Die Zurückweisung der Europäischen Verfassung durch Frankreich und die Niederlande ist ein perfektes Beispiel dafür. Staaten, die wegen der zunehmenden Immigration in ihre Länder beginnen, immer nervöser zu werden, sind ein weiteres Beispiel dafür. Ein anderes sind die Debatten um die Bewahrung von lokaler Kultur. Jedes Beispiel für sich genommen bedeutet noch nicht viel, aber bald wird sich daraus ein schlüssiges Bild entwickeln. Und dieses Bild, das wir dann sehen werden, ist eines vom sukzessiven Verschwinden des gesamten Globalisierungsprozesses.

Dasselbe kann man auch, eigentlich sogar noch besser, über die Europäische Union sagen. Würde ich mich heute zum Schlafen hinlegen und erst in zwanzig Jahren wieder aufwachen, würde ich von einer Sache absolut nicht erwarten, sie wiederzusehen: die Europäische Union, zumindest nicht in einer der bislang bekannten Formen.

Solch große multinationale Vereinigungen scheinen inzwischen wirklich nicht mehr nur mehrheitlich Freunde zu haben. In der Türkei – bei einem kürzlichen Besuch dort hat sich dies bei mir noch vertieft – glauben viele Menschen aus diversen Gründen nicht mehr daran, und wollen es oftmals auch gar nicht, noch Mitglied der EU zu werden. Da gab es offenbar auch eine Art Umkippen in einen anderen Trend.

TR: Das ist nicht nur in der Türkei so, sondern auch in einigen Ländern, die bereits Mitglied der EU sind. Die Begeisterung scheint sich zunehmend in Grenzen zu halten. Doch was kommt denn dann nach dem Ende des Globalisierungsprozesses, wie Sie ihn prognostizieren? Was wird ihn ersetzen? Was sollten Ihrer Meinung nach Unternehmen und die Politik tun, um die von Ihnen postulierte Entwicklung zu antizipieren und bereits heute über Alternativen nachzudenken?

Casti: Als Ausgangsbasis kann sich ein Unternehmen heute schon damit befassen, wie es in einem zukünftigen wirtschaftlichen Umfeld, das dem von vor 30 oder 40 Jahren ähneln wird, seine Geschäfte abwickeln kann. Um nicht zu den Verlierern gehören, sollten sie ihr Business so planen, organisieren und realisieren, wie sie es bereits in den Sechzigern und Siebzigern bewirtschaftet haben. So wird es eben wieder sein. Doch können sie so nicht nur überleben, sondern sogar davon profitieren – von dem, was ich den Rückzug der Globalisierung nenne. (bsc)