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Kommentar Verkehrssicherheit: Zum Glück gezwungen

Clemens Gleich
Zum Glück gezwungen

Trotz Rekordzahlen bei zugelassenen Autos und gefahrenen Kilometern fahren wir heute sicherer denn je. Das liegt an Menschen, die sich diese Welt vorstellten.

Fortschritt ist eine seltsame Kreatur, eine Art Antivampir, denn wir können sie praktisch nur im Rückspiegel sehen. Ansonsten sehen wir nichts, obwohl wir meistens mittendrin stehen. Ach, früher, das war noch schön, als Autofahrer noch Autofahrer waren. Wir denken an romantische Nächte mit dem Opel Kadett B. Wir blenden aus, wie viele Menschen damals noch in Autos starben. Wir blenden auch aus, wer für den Fortschritt maßgeblich verantwortlich zeichnet. Wir waren doch eigentlich immer dafür. Oder?

Die statistische Antwort lautet: Nein. Die Masse war selten für die Dinge, die sie kurz darauf als neue Selbstverständlichkeit genoss. Im Mittelalter war das Brechen auf dem Rad ein Schauspiel, das den drögen Alltag unterbrach. Es schien einer Mehrheit nur gerecht, wenn ein Sünder eine grausame Strafe erhielt. Dieser Gedanke hält sich bis heute: Die Bevölkerung befürwortet in Umfragen drakonische Strafen für schlimme Verbrechen, denn sie kann sich selbst nach Generationen des Rechtsstaatslebens nur schwer vom Rachegedanken lösen. Wer einen Menschen erschlägt, soll am besten selber auch erschlagen werden. Vielleicht auch auf dem Rad gebrochen. Es war nicht ALLES schlecht damals.

Nein, die zivilisatorischen Errungenschaften, in die Kinder heute hineingeboren werden, stammen nicht aus der Masse, sondern sie stammen von einigen wenigen Vordenkern, die sich eine andere Welt vorstellen können. Eine Welt mit viel weniger Hunger. Eine Welt mit viel weniger Kindersterblichkeit. Eine Welt, in der mehr Menschen an Überernährung sterben als an Unterernährung. Eine Welt mit viel weniger Verkehrstoten. Kurz: unsere heutige Welt.

Das Experimenta-Sicherheitsfahrzeug von Mercedes 1971. Es sah seltsam aus, doch viele sperrige Ideen schafften es modifiziert in die Serie.

Das Experimenta-Sicherheitsfahrzeug von Mercedes 1971. Es sah seltsam aus, doch viele sperrige Ideen schafften es modifiziert in die Serie.

(Bild: Daimler)

Ein interessanter Aspekt dieser Vorhut scheint mir, wie viel Selbstbewusstsein sie stets hatte. Die Vordenker der Aufklärung wurden zu ihrer Zeit belächelt. Der Krieg galt damals als tugendhafte Kunst, die den Charakter der Nationen stärkte. Und dennoch haben die Kriegsromantiker heute nichts mehr zu melden, während die Ideale der Aufklärung uns so selbstverständlich scheinen, wie dem damaligen Menschen die Romantik des Kriegswesens.

Wir haben es hier natürlich mit Beispielen von Survivorship Bias zu tun. Die Kriegsromantiker waren sich in keiner Weise weniger sicher darüber, recht zu behalten. Doch manche Ideen setzen sich durch, manche bleiben auf der Strecke, und am Ende zeigt sich, dass der geschätzte Kollege Christoph Schwarzer richtig liegt, wenn er an die „Intelligenz der Masse“ glaubt: Die zunächst ungeliebte Idee, oft freundet sich die Masse erstaunlich eng mit ihr an, wenn sie feststellt, dass ihr daraus ein Vorteil erwächst. Die Kriegsromantik bot nur Wenigen langfristige Vorteile. Für die Masse war Krieg eine existenziell bedrohlich teure Scheußlichkeit. Frieden dagegen machte uns reich, gebildet, gesund und insgesamt entweder erfüllter oder glücklicher, je nach Lebensausrichtung. Und ähnlich schaut es mit der Verkehrssicherheit aus.

Der Straßenverkehr bietet uns ein wunderbares virtuelles Diorama dieses Effekts, weil sich dort in so kurzer Zeit so viele Verbesserungen ereigneten, dass sich viele von uns gut an die schlechten alten Zeiten erinnern. Meine prägendste Erinnerung an Autos der Kindheit ist die an Gestank. Wenn ich ein Auto oder Motorrad hörte, holte ich tief Luft, damit ich diese anhalten konnte, bis die schlimmste Gestankintensität wieder schwand. Wir lebten auf einem 200-Seelen-Kaff, da war das möglich. Stadtausflüge waren für mich oft anstrengend, weil es nirgendwo entlang der Straßen frische Luft gab. Das ist heute viel besser geworden. Die Stadtluft wird getestet. Es gibt strenge Vorgaben, gerade an Autos.

Beliebt war die Idee der Abgasnachbehandlung jedoch nicht. Sie kam nicht von den Herstellern oder der Autofahrermasse, sondern sie kam von Forschern, die den Smog beklagten. Der Kunde, der das bezahlen musste, war auch kein Freund von Mehrausgaben für die Umwelt. Heute bemerkt er gar nicht mehr, dass diese Umwelt hauptsächlich er selber ist: Autofahrer atmen trotz Innenraumfilter die meisten Abgase ein, weil sie ja direkt im Verkehr sitzen. Sie profitieren damit am direktesten von Verbesserungen der Straßenluft.

Clemens Gleich

Einstieg ins alte Experimental-Sicherheitsfahrzeug. Gurte gab es schon, doch sie wurden trotz ihrer Wirksamkeit nicht angelegt. Deshalb erdachten die Ingenieure ein System, bei dem der Gurt immer angelegt war. Setzte sich nicht durch, doch ich hoffe immer noch auf eine Zukunft, in der sich der Gurt automatisch anlegt, wenn ich mich ins Fahrzeug setze und starte.

(Bild: Clemens Gleich)

Genauso sieht es im Segment Sicherheit aus. Die Älteren mögen sich mit mir an die Einführung der Gurtpflicht erinnern. Seit dem 1. Januar 1976 müssen sich Autofahrer in Deutschland anschnallen (zunächst nur vorne). Obwohl schon damals in Umfragen eine große Mehrheit einsah, dass der Gurt rein technisch bei einem Unfall hilft, tobte ein Kampf um die Gurtpflicht, der kaum noch etwas mit der Sache Sicherheit zu tun hatte, wohl aber mit allem anderen, was man sich vorstellen konnte. Der Gurt drückt Brüste außer Form. Den Gurt brauchte ich früher auch nicht. Der Gurt verweichlicht uns. Der Gurt fesselt mich ans Auto, da kann ich nach dem Unfall nicht raus. Die Erwiderung der Sicherheitsforscher: „Ohne Gurt steigst du nach einem Unfall selten selber aus.“ Selbstverfreilich war schon damals der Klassiker dabei: Der Gurt schränkt meine Freiheit ein.

Das stimmt. Jede Regel schränkt Freiheiten ein. Eine Regel definiert sich implizit aus Freiheitseinschränkungen. Der Staat schränkt zum Wohl der Gemeinschaft meine Freiheit ein, allen Schnieptröten der Republik ein paar aus meiner Sicht wohlverdiente Backpfeifen zu verpassen. Das ist ganz gut so. Selbst überzeugte Libertäre wünschen sich zwar den Minimalstaat, aber keine echte Anarchie, weil ich in der jederzeit das Küchenfenster einschlagen könnte, um ihnen mit Armen wie Scherbenkakteen ihre Backpfeifen zu servieren. Es wäre eine anstrengende Welt der maximalen lokalen Aufrüstung. Wir brauchen Menschen, die sich Dynamiken neuer Regeln oder Technologien in der Gesellschaft vorstellen können. Ihre Ideen nimmt die Masse dann schon an. Es dauert nur ein bisschen.

These: Diese ganzen Menschen mit Zeigefingerpriapismus, die ganzen Nerver, die uns ermahnen, das zu tun, von dem wir prinzipiell wissen, dass wir es tun sollten, aber keine Lust haben, vielleicht brauchen wir schlicht einen guten Schuss von denen. Ich erinnere mich lebhaft an das Thema ABS im Motorrad. Die Diskussionen waren fast wie bei der Gurtpflicht. "Wer nicht bremsen kann, soll doch am besten kein Motorrad fahren. Wer das braucht, um den ist es nicht schad. Gut: TOURENfahrer vielleicht, aber NORMALE Motorradfahrer kommen sehr gut ohne aus."

Ich bremse auf einem Ausleger-Motorrad mit und ohne ABS durch eine Schotterspur. Das sagt einem weniger über die Nützlichkeit es ABS als die Schreckbremsung am Ende eines langen Tages auf Tour. Wahrscheinlich waren deshalb die Tourenfahrer ABS-Vorreiter.

Ich bremse auf einem Ausleger-Motorrad mit und ohne ABS durch eine Schotterspur. Das sagt einem weniger über die Nützlichkeit es ABS als die Schreckbremsung am Ende eines langen Tages auf Tour. Wahrscheinlich waren deshalb die Tourenfahrer ABS-Vorreiter.

(Bild: Irina Gorodnyakova)

Doch die Zeigefingerbrigade, die Ingenieure, die Politik, sie ließen alle nicht locker. Erste Zugeständnisse tauchten auf: "Ok, FAHRSCHUL-Motorräder können ja ruhig ein ABS kriegen. Und dann können auch Einsteiger diese Modelle fahren, vielleicht zusammen mit den Tourenfahrern, die das ja zu akzeptieren scheinen. Für mich Sportfahrer-As natürlich nichts, aber …" Und so, Schritt für Schritt, eroberte das ABS die Motorradwelt, bis sich Modelle ohne dieses Feature in Deutschland nicht mehr verkaufen ließen.

Das letzte Rückzugsgefecht fand auf dem Gebiet der Superbikes statt. "Diese für den Rennstreckengebrauch optimierten Maschinen, tja, da funktioniert ein ABS eben nicht, zu schwierig, zu extrem, das Superbike ist nur was für ECHTE …" und so weiter. Doch schließlich brachten sowohl Honda als auch BMW (beides Vorreiter in Sachen Einspur-Sicherheitstechnik) Superbikes mit ABS heraus. Hondas Fireblade gab es kurze Zeit mit und ohne ABS. Als das Modell mit verfügbar war, waren die verbliebenen Fireblades ohne ABS kaum noch zu verkaufen. Der letzte Gesinnungswandel wechselte über Nacht von „Superbikes haben kein ABS und brauchen keins“ zu „ich kaufe nur noch Motorräder mit ABS, Superbike hin oder her“.

Honda Deutschland importierte kurz darauf keine Motorräder ohne ABS mehr in die BRD, denn „die ABS-Kaufquote liegt bei praktisch 100 Prozent“. Trotz Sicherheits-Vorreiterrolle hatte Honda nämlich vorher immer noch die Option offengelassen, jedes Modell auch ohne ABS zu bestellen. Das war lieb gemeint, eine Kundenfreiheit, die kein Kunde nutzte. Bald danach wurde ABS ohnehin gesetzlich vorgeschrieben. Heute redet kein Mensch mehr darüber. Im Gegenteil hört man Stimmen vorschlagen, das ABS selbst auf Rennmaschinen eingebaut zu lassen, um überbremste Vorderräder aus Bremshebel-Berührungen zu verhindern. Der Hobby-Racer lässt es ohnehin meist eingeschaltet.

An diese Anekdoten und die dazugehörigen statistischen Daten denke ich gelegentlich, wenn mich ein neues Sicherheitssystem wieder nervt. Natürlich werden sich die Nerver nicht durchsetzen. Ich habe frühe Motorrad-ABS getestet, die so seltsam funktionierten, dass sie netto gefährlich waren. Aber die nicht nervenden, besser funktionierenden Nachfolger werden irgendwann selbstverständlich werden. Wenn ich Autos sehe, die wider den Willen ihrer Besitzer für Fußgänger, Fahrradfahrer oder Motorradfahrer bremsen, dann denke ich nicht zuerst „das schränkt des Fahrers Freiheit jetzt aber brutal ein“, sondern „ach, so langsam läuft die Technik. Gut so!“.

Daimler

Die wirksamsten Sicherheitsideen sind schon umgesetzt. Das heißt nicht, dass es keine neuen Ideen gibt. Viele der Ideen im ESF 2019 sind schon nah am Serienbau.

(Bild: Daimler)

Ich halte es in ferner Zukunft für technisch möglich, dass nur noch eine Handvoll Menschen pro Jahr bei Verkehrsunfällen sterben, und wichtiger: Ich halte das für ein anpeilenswertes Ziel. Wenn ich diese Zukunft erlebe, bin ich mir sicher, dass ihre Bewohner viel zu motzen haben über den Fortschritt, der ihre Leben, ihre Seelen, ihre Intelligenz koste. Dann erzähle ich ihnen, dass allein Deutschland in den Siebzigern über 20.000 Verkehrstote pro Jahr beklagte. Und dass wir uns trotzdem nicht anschnallen wollten. Und dass wir 2019 immer noch Verkehrstote wegen Nichtanschnallens hatten. Wahrscheinlich werden sie akute Bleivergiftung aus Abgasen vermuten. Aber sie werden dennoch glauben, ihre Welt rase auf den Abgrund zu, denn das glaubten bisher alle Generationen von Menschen, die nach vorne schauten. Schauen wir ab und zu in den Rückspiegel, wie es unsere Fahrlehrer rieten. Das ver-sichert ungemein.

(cgl [1])


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