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"Kultur der Fehlinformation"

Gordon Bolduan

Fast alle Großprojekte werden teurer und später fertig als geplant. Der dänische Forscher Bent Flyvberg sieht dahinter System – und manchmal auch Absicht.

Bent Flyvbjerg [1] ist Professor für Planungswesen an der Universität Aalborg in Dänemark. Parallel dazu hat er den Lehrstuhl für Infrastrukturpolitik und Planungswesen an der Technischen Universität Delft in den Niederlanden inne. Er erforscht, warum aufwändige Infrastrukturprojekte meist nicht ohne erhebliche Mehrkosten und Zeitverzögerung beendet werden.

Technology Review: Herr Flyvbjerg, wo gab es bisher die größte Kostenexplosion?

Bent Flyvbjerg: Das war der Bau des Suez-Kanals. Dort lag sie bei 1900 Prozent. Als Weltrekord wird jedoch die Kostenüberschreitung beim Bau des Opernhauses in Sydney angesehen. Sie lag bei 1400 Prozent. Die Kosten stiegen von einem anfänglichen Budget von sieben Millionen australischen Dollar auf 102 Millionen.

TR: Passiert das oft?

Flyvbjerg: In neun von zehn Projekten.

TR: Und warum?

Flyvbjerg: Einmal ist die Planungsphase sehr lang. 10 bis 15 Jahre sind nicht ungewöhnlich. Dann existieren sehr viele Schnittstellen im Projekt. Das verursacht Komplexität. Auch sind sehr viele Gruppen daran beteiligt, deren unterschiedliche Interessen zu mühevollen Verhandlungen führen.

TR: Wie viele Projekte haben sie bisher untersucht?

Flyvbjerg: Auf eine systematische Weise haben wir bisher 258 erforscht. Gerade versuche ich diese Zahl in meiner Datenbank zu verdoppeln, weil wir die Unterschiede zwischen Ländern und die Ausführung in unterschiedlichen Projekttypen untersuchen wollen.

TR: Haben Sie Unterschiede zwischen den verschiedenen Industrien und Ländern herausgefunden?

Flyvbjerg: Nein, haben wir nicht. Unsere anfängliche Forschung befasste sich mit großen Verkehrsprojekten wie Brücken, Tunnel, Hochgeschwindigkeitsbahnen, U- und Autobahnen. Unsere Ergebnisse haben wir dann verglichen mit den Ergebnissen von Forschern, die in Bereichen Informations-, Waffentechnologie, Dämme, Öl- und Gasförderung gearbeitet haben.

Wir haben keine Unterschiede gefunden. Wir schließen daraus, dass Kostenüberschreitungen in allen Bereichen ein Problem sind und kein Bereich besser oder schlechter als der andere ist. Mit mehr Daten von mehr Projekten könnte sich dieses Bild zwar ändern, aber so sieht es jetzt jedenfalls aus.

TR: Was steht neben Steuergeldern noch auf dem Spiel?

Flyvbjerg: Dass man die falschen Projekte verwirklicht. Eine spätere Analyse der Kosten und des Nutzen im Nachhinein zeigt oft, dass die Kosten-Nutzen-Analyse bei Projektstart komplett irreführend war. Das bedeutet, die Entscheidungsträger treffen ihre Entscheidungen auf der Basis von falschen Informationen.

TR: Sind diese Fehleinschätzungen die Folge von komplexer werdender Technologie?

Flyvbjerg: Diese Erklärung hört man oft. Ich glaube, dass sowohl Technologie als auch Projekte komplexer werden. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die Planer diese nicht beachten. Obwohl man weiß, dass Projekte immer komplexer werden, verhalten sie sich, als ob das nicht der Fall wäre. Daher ziehen wir Komplexität nicht als Erklärung für Kostenüberschreitung heran.

TR: Sondern?

Flyvbjerg: Die meisten Mega-Projekte stehen unter einem gewaltigen politischen Druck. Ebenso hoch ist auch der wirtschaftliche Druck, sie zu verwirklichen. Verschiedene Gruppen verbinden sehr große Interessen mit einem solchen Projekt. Wir erklären die Überschreitungen mit etwas, das wir fehlgeleiteten Optimismus und strategische Falschangaben nennen. Wenn man Komplexität verdrängt, ist das eine Art falscher Optimismus.

Zusätzlich findet eine bewusste Fehlinformation statt: Personen, die wollen, dass das Projekt genehmigt wird, unterschätzen die Kosten und überbewerten den Nutzen. Das Projekt sieht dann auf dem Papier besser aus, und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass man den Zuschlag bekommt. Fehlgeleiteter Optimismus und strategische Fehlauskunft geschehen mit System. In unserer Forschung belegen wir das deutlich mit Statistiken.

TR: Es wird bei der Planung von großen Projekten also absichtlich und systematisch gelogen?

Flyvbjerg: Nein. Fehlgeleiteter Optimismus ist keine Lüge.

TR: Bewusste Desinformation aber schon, oder?

Flyvbjerg: Wir müssen uns im Klaren sein, wie wir eine Lüge definieren. Wenn wir es im konventionellen Sinne als absichtliche Irreführung definieren, dann ist es wirklich Lügen. Doch die Leute, die es betrifft, sehen dies natürlich nicht so. Sie sagen – wir haben das auf Tonband – es nicht wie eine Verschwörung, wo wir uns hinsetzen und uns entscheiden, zu lügen. Es ist mehr so, dass jeder weiß, was zu tun ist. Sie reden darüber gar nicht. Sie sind sogar in der Lage, das Nachdenken darüber zu verdrängen. Sie machen es einfach. Es ist eine eigene Kultur. Ich nenne sie die Kultur der Fehlinformation.

TR: Was sind ihre Beweggründe?

Flyvbjerg: Geschäft. Für die, die Geld damit machen, ist es Geschäft, für Politiker sehr wahrscheinlich der, sich ein Monument zu bauen. Sie lieben es etwas zu haben, was sie zeigen können. Es sind also ökonomische, politische Gründe, und da mögen auch noch die Ingenieure sein, die es lieben, komplizierte Projekte zu verwirklichen. Diese großen Projekte ermöglichen ihnen das technologisch Erhabene zu schaffen. Somit wird Ingenieurskunst auf ihrem höchsten Niveau zu einem weiteren Antrieb.

TR: Was sind die Ausreden, wenn die Kosten steigen?

Flyvbjerg: Das gibt es mehrere. Geologie ist eine. Oder der Preis für Stahl ging plötzlich nach oben, manchmal ist es auch ein Feuer oder eine Überflutung. Aber nach unserer Analyse sind das nicht die wahren Gründe, sondern die logischen Konsequenzen der falschen Finanzplanung. Jeder, der in dem Gebiet arbeitet, weiß, dass solche Sachen vorkommen, sie daher beachtet werden müssen, sie sogar als statistische Größe vorhersagbar sind. Nicht in dem Sinne, was genau passiert, sondern eher als dass etwas passieren wird, was die Kosten hochtreiben wird. Deswegen kann es auch mit in die Budget-Planung einbezogen werden.

TR: Inwieweit werden den die Budget-Planer für ihre Falschauskünfte zur Rechenschaft gezogen?

Flyvbjerg: Sehr wenig. Rechenschaft ist das, was bisher fehlt. Im Falle eines vom Staat ausgeschriebenen Projektes ist das Vorgehen wie folgt: Zurück zum Finanzministerium und mehr Geld verlangen.

TR: Was kann man dagegen tun?

Flyvbjerg: Am wichtigsten ist es, die Leute, die die Kosten falsch vorhersagen, zu bestrafen, und die Leute zu belohnen, die ihre Projekte im angegebenen Zeitraum und Finanzrahmen beenden. Bisher ist genau das Gegenteil der Fall. Gerade belohnen wir die Leute, die die Budgets überziehen, indem wir ihnen noch mehr Geld geben. Man sollte nicht erwarten, dass sie sich ändern, wenn die Anreize so sind. Die Antwort lautet also: 180-Grad-Wende. Anreize bieten, indem man Kostenüberschreitungen bestraft und Budget-Einhaltungen belohnt. Das ist die wichtigste Maßnahme überhaupt.

TR: Wie müsste die denn genau aussehen?

Flyvbjerg: Das ist die entscheidende Frage, und die Antwort drauf wird von Projekt zu Projekt, von Projekttyp zu Projekttyp unterschiedlich ausfallen. Großbritannien ist bei der Implementierung unserer Vorschläge am weitesten gegangen, und sie haben nun ein verbessertes Anreizsystem.

Die Regeln haben sich nun dahingehend geändert, dass man nur noch die Hälfte des Kostenüberschusses erstattet bekommt, wenn dieser einen vorher festgelegten Risikobereich nicht überschreitet. Ist er aber sogar darüber, dann muss die Behörde vor Ort alles selber bezahlen. Das hat das Risiko der Kostenüberschüsse im großen Maße von London zurück zu den Behörden vor Ort verlagert. So hat man es Großbritannien gemacht.

TR: Ist es in privaten Projekten anders?

Flyvbjerg: Sogar auf dem privaten Sektor ist dies ein Problem, da hier oft zusätzliche Arbeiten zu leisten sind und die Auftragnehmer das auch wissen. Daher verdienen sie ihr Geld mit diesen Extra-Arbeiten, die sie sehr teuer machen. Obwohl wir von Privatwirtschaft sprechen, kann man sie nicht immer verklagen. Manchmal sind die dafür vorgesehenen Strafen durch den jeweiligen Vertrag beschränkt. Ist einmal die maximale Strafe erschöpft, kann man keinen Anreiz mehr vorweisen, dass sich die Auftragnehmer anständig benehmen. Da passierte beim Bau der Kopenhagener Metro.

Man hat nie erkannt, dass die Budget-Überschreitung so groß sein könnte. Daher waren die Strafen auch nicht hoch genug, um die Vertragspartner auf eine befriedigende Weise zu bestrafen. Die Strafen erreichten das Maximum sehr schnell, und der Vertrag sah keine Steigerung vor. Wir reden hier also über das Verfassen lückenloser Verträge. Oft ist das Problem, dass sie nicht gut genug sind. Ebenfalls relevant ist die Frage nach verschiedenen Regierungsebenen. Wenn eine lokale Behörde einen Weg weiß, von einer zentralen Behörde Geld zu bekommen, oder sei es in der EU, wo eine nationale Regierung die Tricks für Brüssel kennt, dann ist das die gleiche Sache, weil man das Geld umsonst zu bekommen scheint.

TR: Kann man denn das eben vorgestellte Anreiz-System für den öffentlichen Bereich auf die Privatwirtschaft übertragen?

Flyvbjerg: Ja, das kann man. Das übergeordnete Prinzip bleibt bestehen. Das gilt für den öffentlichen Bereich genauso wie für den privaten. Und bei Letzterem kommt es besonders auf das richtige Verfassen der Verträge an. Das sollte hier eigentlich leichter sein, da man hier stärkere rechtliche Mittel zur Verfügung hat.

Aber ebenso fällt auf, dass die Vertragswerke oft sehr komplex sind und Schlupflöcher beinhalten. Im Vergleich zum öffentlichen Sektor hat man auf dem privaten mehr Erfahrung darin, solche Verträge zu verfassen. Dort ist man besser im Graben und Benutzen solcher Schlupflöcher. Ich weiß nicht, ob es in Deutschland so ist, aber es ist so in Dänemark, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und, und, und. Daher ist mein Ratschlag für den öffentlichen Sektor, sich die besten Experten für das Schreiben solcher Verträge zu besorgen.

TR: Wie sieht ihre zukünftige Forschung aus?

Flyvbjerg: Ich konzentriere mich gerade auf zwei Dinge. Einmal schaue ich mir die Eins-von-Zehn-Projekte an, die man pünktlich und ohne Mehrkosten abgeschlossen hat. Das Guggenheim Museum in Bilbao [2] zum Beispiel war ein sehr innovatives und sehr komplexes Projekt. Man würde also erwarten, dass dieses Gebäude nur mit erheblichen Mehrkosten, Verzögerungen und sonstigen Komplikationen realisiert werden konnte.

Nichts da. Es war pünktlich vollendet, und man kam mit dem Budget aus. Das zweite Forschungsvorhaben sind die Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Projekten. Es gibt eine ganze Menge Gerede, dass Public-Private-Parnerships und die Einbeziehung von privatem Kapital das Problem der Kostenunterschätzung lösen sollen. Ich will testen, ob das wirklich so stimmt. (bsc [3])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-274752

Links in diesem Artikel:
[1] http://flyvbjerg.plan.aau.dk/index.htm
[2] http://www.guggenheim-bilbao.es/
[3] mailto:bsc@heise.de