Organoide statt Tierversuche: US-Zulassungsbehörde geht den richtigen Weg

Die USA verlangen keine Tierversuche mehr und machen damit den Weg für alternative vorklinische Tests frei. Das ist konsequent.

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Gute Nachrichten für Laborratten wie die Wistar-Ratte.

(Bild: Janet Stephens / gemeinfrei)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Nur zehn Prozent aller Medikamentenkandidaten schaffen es von der ersten klinischen Testphase bis zur Zulassung. 90 Prozent der Wirkstoffe also, die nach den vorklinischen Tierversuchen mit Nagern zu den Tests am Menschen weitergewunken wurden, enttäuschen die Erwartungen. Schlimmstenfalls, weil sie sich doch als zu gesundheitsschädlich erweisen, bestenfalls, weil sie schlicht nicht wirksam genug sind oder im Menschen nicht das bewirken, was sie in Mäusen, Ratten, Hamstern oder Primaten bewirkt haben. Bei Substanzen, die auf das Nervensystem abzielen, liegt die Durchfallquote noch höher.

Ein Kommentar von Veronika Szentpétery-Kessler

Veronika Szentpétery-Kessler ist Biologin und Redakteurin bei MIT Technology Review. Sie schreibt über Themen aus dem Bereich Medizin, Biologie, Biotech und Chemie.

Daraus haben die USA – nach intensiver Lobbyarbeit von Tierschutzorganisationen – nun die richtigen Konsequenzen gezogen. In dem von Präsident Biden im Dezember unterschriebenen Modernization Act 2.0 der US-Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) sind Tierversuche nicht mehr zwingend vorgesehen, um erste klinische Studien an Menschen für einen Wirkstoff oder eine Therapie zu ermöglichen. Tierversuche als Teil der Entwicklungskette werden zwar nicht komplett abgeschafft. Nun sind aber auch Alternativen wie Tests auf Organchips möglich. Dabei fließt das Medikament in winzigen Kanälchen etwa über Leber-, Lungen-, Herz- und Nierenzellen hinweg. Der Vorteil: Hier reagieren menschliche Zellen.

Einer kürzlich im Fachjournal Nature Communications Medicine veröffentlichten Studie zufolge zeigte der Leberchip des Bostoner Biotechnologie-Unternehmens Emulate in 87 Prozent der Fälle korrekt an, dass ein Wirkstoff giftig für die Leber ist. Nicht leberschädliche Mittel detektierte der Emulate-Chip sogar zu 100 Prozent. Dafür waren 27 Medikamente mit bekannter Wirkung auf die Leber auf 870 Chips untersucht worden.

MIT Technology Review 2/2023

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Ebenfalls im Gespräch als Alternative zu Tierversuchen sind aus Stammzellen gezüchtete Organoide. Auch mit den Miniorganen sollen sich künftig mögliche Schäden durch neue Wirkstoffe an Leber und Herzzellen voraussagen lassen. Noch sind sie dafür nicht weit genug entwickelt und die Stammzellen müssten – um ihren Einsatz auch ethisch vertreten zu können – aus umprogrammierten Körperzellen kommen. Auch der Emulate-Chip muss seine Trefferquote weiter verbessern. Das ist aber sehr wahrscheinlich keine Frage des "Ob", sondern des "Wann". Die Entwicklungen weisen darauf hin, dass es in Zukunft möglich sein dürfte, Tierversuche zumindest sehr stark einzuschränken.

Für In-silico-Studien würden nicht einmal Zellen bemüht: Experten hoffen, dass In-silico-Tests, die mit künstlichen neuronalen Netzwerken vorhersagen, was ein Stoff im Zielgewebe bewirkt, zu einer Alternative werden können. Die Modelle generieren ihre Aussagen über die Verträglichkeit und potenzielle Wirkung von Stoffen rein aus Datensätzen über ähnliche Substanzen, deren Wirkprofile gut untersucht sind. In einer Studie der University of Oxford hatten simulierte Herzzellen bekannte Nebenwirkungen von zugelassenen Herzmedikamenten zuverlässiger angezeigt als Tierversuche mit präparierten Kaninchenherzen. Die Genauigkeit der In-silico-Methode betrug bei über 60 getesteten Medikamenten 89 Prozent. Die Kaninchenherzen reagierten nur in 75 Prozent wie ein menschliches Herz.

Das neue Gesetz wird Beobachtern zufolge nicht für ein schlagartiges Abnehmen der Tierversuche in den USA sorgen. Es ist allenfalls eine Gesprächsgrundlage zwischen entwickelnden Unternehmen und der Zulassungsbehörde. Viele Gutachter dürften also trotz der mangelnden Aussagekraft weiterhin Ergebnisse aus Tierversuchen bevorzugen und auch fordern. So gesehen wäre es konsequenter gewesen, wenn es bereits FDA-Vorgaben für die Alternativen gäbe. Denn welche Tests künftig als Tierversuch-Alternative anerkannt werden, steht noch nicht fest.

Immerhin hat die FDA für dieses Jahr fünf Millionen Dollar Förderung von der US-Regierung erhalten, um die Entwicklung von Testmethoden zu unterstützen, mit denen sich Tierversuche künftig ersetzen, reduzieren und verbessern lassen. Das Gesetz ist also insgesamt ein Schritt in die richtige Richtung.

(jle)