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Was war. Was wird. Die Jahresend- und -anfangedition, mit etwas Aufklärung, etwas Rückblick, etwas Optimismus

Alles ändert sich, damit alles bleibt, wie es ist? Statistiken sprechen ihre eigene Sprache, vor allem, wenn die Server des Heise-Verlags sie ausspucken. Etwas mehr Aufklärung, etwas mehr Optimismus bitte, fordert Hal Faber.

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Was war. Was wird. Die Jahresendedition, mit etwas Aufklärung, etwas Rückblick, etwas Optimismus
Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche, zum Jahresende dieses Mal aber donnerstägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich - und zum Jahresende dann doch mehr Rück- als Vorschau.

Was war.

"Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi." (Tancredi Falconeri)

(Bild: Il Gattopardo)

*** Die Eulen der Minerva haben ihren Flug längst begonnen. Und doch: "Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert." Am Jahresende muss ein schlichtes Motto für das nächste Jahr her, wenn in der Tradition des Jahresend-WWWW oder des Jahresanfangs-WWWW die nüchternen Zahlen auf den Tisch kommen, was die Top-100 von heise online im abgelaufenen Jahr gewesen sind. Was das stockkonservative Motto anbelangt: Es hat sich sehr, sehr viel geändert im Jahre 2014, doch ist nicht längst nicht alles gleich geblieben. In absoluten Zahlen ist diese Meldung über das nächste Windows mit 1.331.230 PIs und 1655 Kommentaren zur Microsoft-Politik die Spitzenmeldung des abgelaufenen Jahres, was der bleibenden Tendenz der Leser entspricht, technische Themen zu favorisieren. Addiert man jedoch die Meldungen, so hat der Purzelbaum des kleinen Philae die Gemüter bewegt: Allein fünf Meldungen zur Landung der Sonde (Top 2, 1.255.000 PIs) und zur ESA-Mission (Top 3) haben es in die Top Ten geschafft. Wenn man auf die Top 100 herauszoomt, sind es gar 25 Berichte. Die Themenseite Rosetta hat die sonst dominierende Themenseite Linux überholt.

Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.

*** Aber halt: Wollen wir, das alles bleibt oder wollen wir alles verschlüsseln, damit sich etwas wirklich verändert, diese Frage bewegte die Leser und Leserinnen des Newsticker aus der norddeutschen Tiefebene ganz gewaltig. Rechnet man die PIs der Forumskommentare und die der Meldung, dass Truecrypt nicht mehr sicher ist, stellt das Thema alle übrigen in Schatten. Mit 2.371.580 PIs zeigt sie das überragende Interesse des werten Publikums an sicheren Systemen. Mit deutlichem Abstand folgen die Nachrichten zum Horror-Bug von SSL. Schaut man indes abseits der Meldung allein auf die aufgelaufenen Forenkommentare, so siegt ein Evergreen: Beginnend mit dieser Meldung vom Limux-Projekt nahm die Diskussion "Linux kontra Windows" in den Foren Ausmaße an, die alle Themen in den Schatten stellte. Wir nennen es Redeschlacht.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.

*** Bevor die Erbsenzählerei zu langweilen beginnt, muss eine bittere Pille geschluckt werden. Bereits im Jahresrückblick 2013 hieß es: "Die NSA mit ihrem Superrechenzentrum überwacht uns alle und entschlüsselt alles. Oder auch nicht", ein Thema, was auch in der letzten Edition wieder aufgenommen wurde. Über das gesamte Jahr hinweg gab es Nachrichten vom Tun und Treiben der Behörde, deren Organisationsstrutktur sich damit nach und nach zu erkennen gibt, doch Nachrichten von "Spion & Spion" sind keine Schlager. Einzig die Meldung, dass die NSA direkt in Deutschland sabotiert, brachte es in die Top 100 der Meldungen, aber abgeschlagen auf Platz 92. In der Diskussion im Forum sorgte die Meldung, dass nach Analyse eines Quellcodes Tor-Nutzer als Extremisten markiert werden, für Aufregung und einen Rang auf Platz 68 im reinen Forumsranking, aber das war's auch schon. Im Jahr 2013 schaffte es das Abhören der NSA von Merkels Handy ebenso wie die Aufdeckung der Identität des Whistleblowers Edward Snowden unter die Top-Meldungen und führte dazu, dass das Thema NSA insgesamt die Nummer 1 wurde. Ein Jahr später schaffte es die Meldung eines Boulevard-Blattes, dass auch Merkels neues Blackberry 10 abgehört wurde, nicht einmal unter die Top 200. Größer war da schon die Empörung über die Staatsanwaltschaft, der die von einem Nachrichtenmagazin vorgelegten Beweise nicht ausreichten. Die ökonomisch sicher erfolgreiche Technik, den Bestand der Snowden-Files tröpfchenweise zu veröffentlichen, mag die Aufmerksamkeit für das Thema dämpfen. Gelegentliche Ausreißer sind dann skurrile Berichte aus dem deutschen NSA-Untersuchungsausschuss, wenn Aktionen von BND und NSA zwar auf deutschem Boden stattfinden, aber irgendwo im Weltraum passieren und dieser als rechtsfreier Raum definiert wird. Insgesamt, das zeigt auch diese Zeitleiste, gibt es kaum Konsequenzen. Alles verändern, damit alles bleibt, wie es ist? Pah, warum so kompliziert, wenn Themen ausgesessen werden können.

Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.

*** Ein aktuelles Beispiel für die ermüdende Tröpfel-Taktik: Bereits im Jahre 2013 gab es Informationen, wie mit dem Programm Bullrun die Verschlüsselung ausgehebelt werden soll. Erst zum Jahresend-Kongress des Chaos Computer Clubs wurden weitere Einzelheiten zu Bullrun publik. Die lapidare Begründung für die Verzögerung: Es habe die Zeit gefehlt, die Masse der Dokumente zu Bullrun zu analysieren. Positiv muss angemerkt werden, dass die Hacker- und Medienkonkurrenz der Besitzer der Snowden-Files dazu führt, dass die ach so sorgfältig durchgeführten Schwärzungen sich gegenseitig aufheben. Die 2014 aufgestellte Forderung Open the Snowden-Files kann ohne weiteres ins kommende Jahr übertragen werden.

*** In die Fussstapfen der NSA als Thema Nr. 1 ist im Jahre 2014 der Addition aller Meldungen der Fall Redtube getreten, der im Dezember 2013 zu Köcheln begann. Im Ranking, in dem Foren-Kommentare und die Meldung zusammen bewertet werden, brachte es die Meldung über das ominöse Porno-Gutachten mit 1771 Leser-Kommentaren auf Platz 3 (1.373.905 PIs für die Meldung, 1.158.360 PIs für das Forum). Die in Zusammenarbeit mit rührigen Heise-Lesern veröffentlichte Meldung, dass ein Gericht der Briefkastenfirma auf den Leim ging, folgte auf Platz 6 der Top Ten (1.289.335 PIs Meldung, 1.062.825 PIs Forum), weitere vier Meldungen zum Treiben des Rechtsanwaltes Thomas Urmann bis hin zu Nummer 5 über seine Verurteilung wegen versuchten Betruges schafften es ins vordere Mittelfeld der Top 100. Das damit Abmahnungen von legalen Streaming-Diensten und Filesharing-Angeboten im kommenden Jahr vom Tisch sind, dürfte allerdings ein frommer Wunsch sein.

Was wird.

Und wo bleibt das Positive, wo bleibt die Veränderung bei all der Erbsenzählerei, die doch nur das Bestehende bestätigt? Willkommen also im Jahr 2015! Noch leicht schwindelig vom vielen Sekt? Falsch, ganz falsch ist das, denn 2015 ist das Jahr der Trance. Im Jahr 1995 veröffentlichten die Trendforscher Gerd Gerken und Michael Konitzer die "Trends 2015" und prognostizierten zwei Dutzend große Trends und viele kleine. Das Zeitalter der Trance, hervorgerufen durch "Cyber" und die allgemeine Verbreitung der "Virtual Reality" bricht 2015 an, wenn die Saat der "telematischen Gesellschaft" aufgeht. Vergessen wir NSA und BND, denn "es gibt keine echte Steuerung mehr, alle Menschen verhalten sich, wie sie es für richtig halten. Als Summe dieser Impulse entsteht eine Selbststeuerung der Gesellschaft: Die Evolution ist dann das Ergebnis der Aktivitäten aller Beteiligten." Die Suche nach linearen Ursachen ist anachronistisch, die Fantasy-Bank der 2015 lebenden Menschen ist vernetzt. Die Menschen selbst werden von den Trendforschern "New Edger" genannt. "Datenbanken, elektronische Dialogsysteme, Mailboxen etc. Dort erlebt der New Edger seine Identität - und zugleich seine grenzenlose Universalität dank der Verbindungen in die ganze Welt. Edge ist ein kollektives Phänomen der Vernetzung und eine Art Zukunfts-, Informations- und Gefühlsbank, die allen gehört. Man vertraut darauf, dass auch andere Menschen, wie man selbst, ihre Vorstellungen in den Netzwerkpool hineinwerfen. Jeder weiß, dass aus all den Impulsen, die ins Netzwerk der Ideen und Möglichkeiten hineingegeben werden, im Sinne der Selbststeuerung etwas entstehen wird. Und das klappt."

Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann.

Die schönen Visionen vom New Edger – der heute von Trendforschern als "Digital Native" bezeichnet wird – haben den Nachteil, dass die prognostizierten Trends nicht unbedingt eingetreten sind. Ein Beispiel: "Nach der Jahrtausendwende gehen wir nur noch 25 Stunden pro Woche zur Arbeit. Wir fahren in Fashion-Kleinstautos und bezahlen nur noch nach gefahrenen Kilometern." Die Kleinstautos sind da, das Smartphone findet sie und zeigt die aufgefahrenen Kosten an. Doch 25 Stunden pro Woche arbeiten? Man lese nur die Abrechnung eines Arbeitsrichters mit dem Irrsinn der Hartz-IV-Reformen. Stattdessen leisten sich die staatsragenden Medien eine Debatte, in der von einer "fiskalische Nettobilanz je Migrant von minus 1800 Euro im Jahr" die Rede ist und heizen damit die Ausländerfeindlichkeit kräftig an. Dass der Sozialstaat von Zuwanderung profitiert, weil höher qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen, wäre ein Thema für 2015. Man kann es auch einfacher, weniger merkantilistisch sagen: Sich offener zu geben, das wär doch was, und wir hätten alle was davon - ein besseres Leben nämlich. Besser jedenfalls wäre es, als durch das Fördern von dumpfen Pegida-Ressentiments Deutschland ins tumbe Niemandsland einer Marine Le Pen zu führen. Solch deutsch-französische Freundschaft könnte mir gestohlen bleiben.

Womit wir be der aktuellen NSA-Debatte wären. Wenn aus der Tatsache, dass Geheimdienste sich für Metadaten interessieren, der Schluss gezogen wird, dass hier ein Trend vorliegt, der zur "Bildung von Monopolen oder Oligopolen" führt, wünscht man sich mehr Offenheit der Analyse. Denn wenn dann auch noch Oligopole oder Geheimdienste die "Schlüssel" verwalten, "mit denen zukünftig kontrolliert wird, welches Betriebssystem wir auf unseren Computern und Tablets nutzen können", dann ist es zappenduster. Aber was heißt schon NSA-Debatte, wenn ich nochmal auf die Statistik für 2014 verweisen darf. Gibt es überhaupt eine Debatte über die Auswirkungen der Digitalisierung für unser Leben außerhalb eines engen Zirkels im bürgerlichen Feuilleton und einer Szene aus Netzpolitikern und Edel-Hackern? Wobei selbst da die Debatte ja viel zu oft in Horrorszenarien versandet, vom neuen Netz-Optimismus war bislang wenig zu spüren.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Die aufgeklärte Weisheit als Minerva schützt die Gläubigen aller Religionen.

(Bild: Daniel Chodowiecki, 1791)

So bleibt uns doch eine Aufgabe für 2015, über den aufklärerischen Impetus der NSA-Berichterstattung, der netzpolitischen Diskussionen und der Digitalisierungsuntersuchungen hinaus. Mehr Optimismus wagen, auch wenn die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Wo bleibt das Positive, wenn es nicht von uns kommt, die wir schon lange in der digitalisierten Welt leben, auch wenn uns das manches Mal wie Tiere in einem Zoo erscheinen lässt, die staunend von Neuland-Besuchern begafft werden. Denn was heute als in den digitalen Menschheitsabgrund führende Technik beschrieben wird, ist auch nicht mehr als Brückentechnik, bis nach dem Verschwinden der Computer das Verschwinden der Interfaces alte Versprechen der Digitalisierung und der Vernetzung endlich einzulösen vermag. Mehr Netz-Optimismus wagen! Mehr Aufklärung! Mehr Veränderung! Das sei auch all den Filterblasen-Debattierern des digitalen Untergangs aufs neujahrliche Frühstücksbrot geschmiert. Oder in die Heringstunke geschüttet. Prosit, darauf einen Tancredi, und auf ein Neues. (jk)