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Was war. Was wird. Von Kolumnen und Kolumnisten

Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen, dann ist das... genau, weltfremd! Und Denken ist das neue Reden, befürchtet Hal Faber.

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Was war. Was wird. Von Kolumnen und Kolumnisten

(Bild: Yoko Nishimiya/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

In der letzten Wochenschau habe ich über Covidioten ohne Maske geschrieben. Gemeint waren Menschen, die das Virus für eine Einbildung halten und Ärzte auslachen, wahlweise auch Menschen, die glauben, dass Bill Gates mit einer Zwangsimpfung die Weltherrschaft an sich reißt. Man kann auch von Menschen mit einem "engen mentalen Spektrum" sprechen, wie das der Soziologe Armin Nassehi tut. Bloß versteht das kaum jemand. Jedenfalls kam das Wort von den Covidioten bei den sich offenbar angesprochenen Lesern dieser Kolumne nicht besonders gut an. Deshalb schreibe ich dieses Wort noch einmal hin, mit einer kurzen Definition, was für mich ein Covidiot ist.

Eine längere Erklärung ist indes nötig, was eine Kolumne wie "Was war, was wird" eigentlich ist, passend zur eintausendeinhundertsten Ausgabe von WWWW. Da sei zunächst einmal ein kenntnisreicher Kolumnist zitiert: Wie auch immer, eine Kolumne ist keine Information, keine Analyse und keine Kritik. Aber wenn sie nicht auf diese drei Bausteine der Kommunikation aufbaut, dann bleibt sie eine ziemlich leere Angelegenheit, vielleicht sogar der Missbrauch einer in der Tat privilegierten Position. Weil Kolumnistinnen und Kolumnisten mehr dürfen als wirkliche Journalisten, haben sie auch eine besondere Verantwortung. So ist es, darum braust ein Ruf wie Donnerhall: lang lebe der Kolumnismus! Man könnte noch hinzufügen, dass eine Kolumne alles darf, wie Satire. Nur langweilig darf sie nicht sein.

Sie kann den Verschwörungstheorien hinterherstiefeln und herausfinden, dass Bill Gates keine Chips im Hirn implantieren will, sondern Elon Musk, auch wenn dieser nicht über das Schweineschnauzenstadium hinausgekommen ist. Eine Kolumne ist eine sehr persönliche Sache. Sie entsteht nicht immer nach Plan und man müsste schon Erinnerungen speichern können, wie Elon Musk das will, um die Entstehung einer Kolumne nachzeichnen zu können. Eine Kolumnistin, ein Kolumnist darf sich nicht nur, was die persönliche Einstellung anbelangt, etwas mehr an Freiheit herausnehmen als die Redaktion. Dafür ist er oder sie eben auch nur ein Gast und bleibt für sein Schreiben am Ende selbst verantwortlich. Eine Insel der Subjektivität im Meer der, nun ja, objektiven oder wenigstens argumentierenden Informationen. Solange es diese kleine Wochenschau vom Rande der norddeutschen Tiefebene gibt, wird sie weiterhin subjektiv bleiben, auch wenn es Leser gibt, die das objektiv für falsch halten.

Der Philosoph Slavoj Žižek ist ein Fan von Elon Musk. In seinem neuen Buch Hegel im verdrahteten Gehirn schreibt er über die Geschäftsidee von Musks Firma Neuralink: "Wenn ich dir eine Idee mitteilen will, würden wir im Grunde einvernehmliche Telepathie betreiben. Du müsstest nichts in Worte fassen." Das ist nicht gerade der Hegel, für den sich der Inhalt eines Gedankens in seiner sprachlichen Äußerung verwirklicht, aber sei's drum. Bei Žižek ist ohnehin alles und gleichzeitig nichts. So schreibt er davon, dass das 20. Jahrhundert marxistisch gewesen sei und das 21. Jahrhundert hegelianisch, dank Elon Musk.

Inmitten all der feierlichen Artikel zum 250. Geburtstag von ebendiesem Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist diese kleine Zitataufklärung sicher das schönste Geburtstagsgeschenk. "Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen." 60 Jahre nach seinem Tod wurde dieser idiotische Satz dem Naturphilosophen Hegel zugeschrieben. Angeblich soll der Satz gefallen sein, nachdem ein Student von Hegel meinte, dass manche Tatsachen nicht mit seiner Theorie übereinstimmten. Es gab einmal einen deutschen Innenminister namens Otto Schily, der genau diesen angeblichen Satz von Hegel nutzte, um den Datenschützern und Kritikern seines Otto-Kataloges eine weltfremde Einstellung vorzuwerfen.

Während in Berlin Reichsbürger, Querdenker und Esoteriker gegen die Demokratie demonstrieren wollen und zeigen, wie man das Leben anderer aufs Spiel setzt, demonstrieren in Minsk Menschen für die Demokratie und setzen dabei ihr Leben aufs Spiel. Die Nachricht, dass US-Firmen wie Sandvine der Regierung von Lukaschenko helfen, das Internet zu kontrollieren, ist beunruhigend. Man beteuert, nur den russischen Partner Jet Infosystems beliefert zu haben, der das belarussische System für Deep Packet Inspection installierte. Diese Argumentation ist bekannt und erinnert an den Fall von Blue Coat in Syrien, der seinerzeit von Telecomix-Aktivisten aufgedeckt wurde. Was nebenbei die Frage aufwirft, ob Telecomix noch existiert. "Siegen mit dem Geist, mit der Kraft unserer Überzeugungen", das ist dem Volk von Belarus zu wünschen. Unterdessen fantasiert Lukaschenko von US-amerikanischen Jets, die auf einem geheimen Flugplatz bei Berlin stehen und möchte aus Russland Unterstützung holen. Westlichen Journalisten wurde die Akkreditierung rückwirkend entzogen, womit sie beschuldigt werden konnten, illegal zu arbeiten. Immerhin wurden die meisten von ihnen abgeschoben.

Unser hochgeschätztes Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bereitet sich wieder einmal auf den European Cyber Security Month vor. Alle Veranstaltungen zur IT-Sicherheit in der Zeit vom 15. September bis zum 15. November gehören dazu, auch wenn sie wie der IT-Grundschutztag nur online stattfinden werden. Zum eigentlichen Monat der europäischen Cybersicherheit gibt es dann was Neues, eine IT-Notfallkarte, die ähnlich wie bei einem Brand alles aufzählt, was im Notfall zu machen ist. Da gibt es viel zu tun. Bleibt die Frage, wann aus einer Störung ein Notfall wird. Beim BSI heißt es dazu schlicht: "Ein Notfall ist ein Schadensereignis, bei dem Prozesse oder Ressourcen einer Institution nicht wie vorgesehen funktionieren. Notfälle können nicht mehr im allgemeinen Tagesgeschäft abgewickelt werden, sondern erfordern eine gesonderte Notfallbewältigungsorganisation." Also her mit den tollen Karten, sie passen schön zur Sammlung von Notfall-CDs.

Otto Schily, der Hegel-Kenner, war mehrfacher Preisträger der Big Brother Awards. Er schaffte es sogar, im Jahre 2005 den begehrten Preis für sein Lebenswerk zu erhalten. Vom Frühling in den Herbst verschoben, soll die Preisverleihung nun im September über die Bühne gehen und Online übertragen werden. Würdige Preisträger gibt es genügend und diesmal haben sie Ausreden genug, um den Negativpreis nicht vor Ort entgegen nehmen zu müssen. Online ist diese "neue Normalität", von der alle reden, auch bei dem sonst offenen Abend der Digitalen Gesellschaft in der c-base, wo diesmal der 10. Geburtstag der ehrenwerten Gesellschaft stattfindet.

Das wiederum bringt uns Hopplahopp zur nächsten Veranstaltung, den Datenspuren 2020 in Dresden. Denn dort will man weg vom Virus abbiegen nach Utopia und sich fragen, wie die Welt in 10 oder 50 Jahren aussehen wird. Gehen wir aufs Holodeck? Werden die Städte autofrei? Und, noch kniffliger: Werden IT-Konzerne datensparsam? Wo ist nur mein Jetpack, um nach Dresden zu reisen?

Nach den Reisen in die Zukunft? Wie wäre es mit einer in die Vergangenheit. Bekanntlich wird gerade ein Zitat bei den Covidioten durchgereicht, dass der Widerstandskämpferin Sophie Scholl zugeschrieben wird: "Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht." Auch dies ist ein Kuckuckszitat, wie die Zitatforschung feststellt. Verräterisch ist die "schweigende Mehrheit", die man wahlweise Richard Nixon oder der Schweigespiralen-Theorie von Elisabeth Noelle-Neumann zuordnen kann. Sophie Scholl konnte besser formulieren: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!"

(bme)