"Wir hatten nicht einmal einen Business-Plan"

Qualcomm-Gründer Irwin Jacobs über 4G-Netze, den Mobilfunkboom in Entwicklungsländern, die Probleme eines begrenzten Frequenzspektrums und die Bedeutung von Augmented Reality für das mobile Netz.

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Von
  • Jason Pontin

Qualcomm ist der weltweit größte Hersteller von Chipsätzen und Software für drahtlose Netzwerke. Der große Erfolg kam für das kalifornische Unternehmen mit der Kommerzialisierung der CDMA-Technologie für den Mobilfunk ab 1990. CDMA steht für „Code Division Multiple Access“ oder Code-Multiplex-Verfahren: Mit ihm können mehrere Datenströme gleichzeitig in einem Frequenzband übertragen werden. Heute wird der Standard, auf dem vor allem Mobilfunknetze der dritten Generation (3G, UMTS) aufbauen, von 308 Netzanbietern in 116 Ländern verwendet.

Mit der Ausbreitung von 4G-Netzen wachsen allerdings die Anforderungen an Qualcomm, seinen Kunden – Handyhersteller und Netzbetreibern – vor allem in neuen Märkten wie China, Indien und Afrika unterschiedlichste Dienste zu ermöglichen. Technology Review sprach mit Qualcomm-Gründer Irwin Jacobs über die Zukunft von CDMA, den Mobilboom in Entwicklungsländern, die Probleme eines begrenzten Frequenzspektrums und die Bedeutung von Augmented Reality für das mobile Netz.

Technology Review: In diesem Jahr feiert Qualcomm 25-jähriges Bestehen. Wie oft mussten Sie das Unternehmen neu erfinden?

Irwin Jacobs: Ich würde nicht von „neu erfinden“ sprechen. Wir haben das Unternehmen nie anders geführt als bei der Gründung. Als wir starteten, hatten wir kein spezielles Produkt im Sinn, nicht einmal einen Business-Plan. Wir wussten aber, dass drahtlose und digitale Technologien interessant würden und dass wir innovativ sein wollten. In den ersten Monaten hatten wir mehrere Ideen – darunter CDMA, das uns seitdem auf Trab gehalten hat.

TR: CDMA ist seit langem ihr Kerngeschäft. Nun muss sich das Unternehmen aber wohl doch neu erfinden, denn die Standards der vierten Mobilfunkgeneration verdrängen nach und nach CDMA.

Jacobs: Auch hier würde ich nicht von „Neuerfindung“ sprechen. Wir entwickeln uns mit der Technik weiter. Natürlich basieren alle 3G-Technologien auf CDMA. Deshalb bin ich mir sicher, dass es noch mindestens ein Jahrzehnt intensiv genutzt wird.

TR: Können Sie einige der kommenden technischen Plattformen beschreiben? Und welche Möglichkeiten sich daraus für Qualcomm ergeben?

Jacobs: 3G expandiert immer noch rasant. China hat seine 3G-Lizenzen vor zwei Jahren vergeben, Indien die 3G- und 4G-Lizenzen vor kurzem. Dort wird es ein beträchtliches Wachstum geben. In den kommenden fünf Jahren – vielleicht sogar im nächsten Jahrzehnt – werden sich die mobilen Endgeräte weiterentwickeln, die Technik selbst wird sich zu einem Mix aus CDMA und OFDMA [„orthogonal frequency-division multiple access“, ein 4G-Verfahren] wandeln.

TR: Auf Reisen in China, Indien und Teilen von Afrika konnte ich selbst erleben, wie mobile Technologien diese Regionen verändern. Dort scheint man die leitungsgebundene Infrastruktur der Industrieländer einfach zu überspringen. Dennoch sind Handys für die ärmste Milliarde der Menschheit immer noch unerschwinglich. Wie lassen sich die Kosten von drahtlosen und mobilen Technologien noch weiter senken?

Jacobs: Ich teile Ihre Einschätzung. Im Moment gibt es fünf Milliarden Handys auf der Erde. Die Technik hat sich rasend schnell verbreitet. Und warum? Nehmen Sie Indien als Beispiel. Bevor CDMA zugelassen wurde, gab es nur den GSM-Standard. Die Preise waren hoch, sowohl für die Geräte als auch für die Dienste. Entsprechend gering war die Nutzung des Mobilfunks. Dann entschied das Kommunikationsministerium, nur noch Lizenzen ohne Spezfizierung eines 2G-Standards zu vergeben. Durch den Wettbewerb, den nun die Nutzung von CDMA entfachte, sanken die Preise. Die Netzbetreiber lernten, mit niedrigen Kosten und geringerem Umsatz pro Kunde zu kalkulieren, und siehe da: Die Handynutzung breitete sich durch die gesamte indische Bevölkerung aus. Das ist die erste wichtige Sache: Wettbewerb.

Was die Geräte selbst betrifft: Nun, vor einigen Jahren wagte ich eine wilde Prognose – dachte ich damals jedenfalls –, dass die Handypreise im Großhandel auf 100 Dollar fallen würden. Heute kosten sie in Indien etwas mehr als 20 Dollar. Das liegt zum Teil daran, dass viel Entwicklungsarbeit in die Bauteile von Handys geht. Inzwischen sind fast alle digitalen Funktionen auf einem einzigen Chip untergebracht, und zunehmend bringen wir auch die Stromversorgung auf dem Chip unter. Das bedeutet, dass wir Handys aus nur noch wenigen Einzelteilen herstellen können, was wiederum Großhandelspreise senkt. Solange das Moore’sche Gesetz noch für einige weitere Produktgenerationen gilt, werden die Preise meines Erachtens noch etwas runtergehen. Obwohl sie schon ganz schön niedrig sind.

Eine andere Erklärung für das Wachstum der Mobiltechnologien in Entwicklungsländern ist der Nutzen, den gerade Analphabeten daraus ziehen können. Wir haben zum Beispiel in verschiedenen Projekten Fischern und Bauern geholfen, für sie wichtige Informationen über das Handy zugänglich zu machen. Die Fischer können so herausfinden, welche Preise sie in verschiedenen Häfen erzielen können, dadurch werden sie unabhängiger von Mittelsmännern. Oder wir liefern ihnen Wettervorhersagen – das war so erfolgreich, dass inzwischen ein kommerzieller Dienst daraus geworden ist. Meine Hoffnung ist, dass die Fischer und Bauern eine zusätzliche Motivation bekommen, lesen und schreiben zu lernen, wenn sie all diese Informationen als Sprachnachricht oder Diagramm auf ihrem Handy erhalten.

TR: Qualcomm hat Google mit dem Snapdragon-Chip beliefert, für ein Handy, das unabhängig von Verträgen mit Mobilfunkbetreibern vermarktet werden sollte. Aber das Geschäftsmodell funktionierte nicht. Warum? Und gibt es andere Ansätze, um den enormen Einfluss der Netzbetreiber auf Innovationen zu verringern?

Jacobs: Google hat die Sache auch nicht mit Nachdruck verfolgt, weil sie mit anderen Herstellern von Android-Smartphones konkurrierten. Da es also an Vermarktung, Vertrieb und Support mangelte, funktionierte das Geschäftsmodell nicht. Es gibt aber sicher Situationen, in denen man ein Handy im Einzelhandel und den Dienst separat bei einem Netzbetreiber kauft. Warten wir ab, wie sich das entwickelt.

Natürlich gibt es noch einige andere Modelle, zum Beispiel das, was Amazon mit dem Kindle gestartet hat und was andere dann übernommen haben: Wenn man über den Kindle ein e-Book kauft, laufen sowohl die Bestellung als auch die Buchlieferung über das Mobilnetz – aber man muss nicht mehr extra für die Datenübermittlung zahlen. Die ist schon im Buchpreis inbegriffen. Da wird es eine ganze Reihe von Geschäftsmodellen geben, die von Wettbewerb und diversen Anwendungen motiviert sind.

TR: Was kann die Mobilindustrie der kaum vorhersehbaren Belastung der Netze durch mobile Videos entgegensetzen?

Jacobs: Wie sehr sich die Kunden für Videos begeistern, fiel uns zuerst in Korea auf, als wir dort einige 3G-Dienste starteten. Smartphone-Videos werden noch weiter zunehmen. Die Nutzer werden aber weniger selbst senden als vielmehr Videos nachfragen. Und das erhöht die Netzwerklast. Aus diesem Grund haben wir die MediaFLO-Technologie entwickelt, einen Streaming-Dienst für Netzbetreiber: Es ging uns um ein separates Frequenzband als Kanal [forward link], um Videos aufs Handy zu übermitteln. Ich halte es für möglich, dass es für Video einen zusätzlichen Teil des Spektrums gibt. Ein anderer Weg, die Bandbreite zu erhöhen, ist, die Zahl der Basisstationen zu erhöhen. Die Netzwerke entwickeln sich dahingehend, dass es immer mehr Zugangspunkte gibt – vielleicht sogar in Wohnungen. Dennoch ist das Frequenzspektrum begrenzt, weshalb wir etwas tun müssen, um dieselben Frequenzen wiederzuverwerten.

TR: Der Mobilmarkt beschränkt sich längst nicht mehr nur auf Telefone. Welche Auswirkungen hat die wachsende Popularität von Tablet-Rechnern und anderen Geräten auf Qualcomm?

Jacobs: Es geht vor allem darum, dass die neuen Geräte leistungsfähige Chips bekommen, die nur sehr wenig Strom verbrauchen. Wir haben das früh erkannt und eine eigene Forschungsgruppe dafür gegründet. Aus der kam der Snapdragon-Chip. Er war zunächst nur für Smartphones gedacht, wird aber auch schon in anderen Geräten eingesetzt. Das ist ein wichtiges Feld für Qualcomm, denn meines Erachtens wird der Tablet-Rechner in Zukunft für die meisten Leute zum Hauptrechner im Alltag.

TR: Qualcomm hat auch einiges in Technologien der erweiterten Realität investiert. Warum wird Ihrer Meinung nach Augmented Reality auf Mobilgeräten an Bedeutung gewinnen?

Jacobs: Es gibt da viele interessante Möglichkeiten. Nehmen wir an, ich bin im Ausland: Vor mir steht ein Straßenschild, dass ich nicht lesen kann – dann halte ich einfach das Smartphone davor und bekomme die Übersetzung angezeigt. Man könnte Augmented Reality auch für Produktvergleiche in Geschäften einsetzen. Oder stellen wir uns vor, man ortet Freunde, sobald man eine bestimmte Gegend betritt. Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher, vor allem nicht für Gesichter. Deswegen fände ich es sehr angenehm, wenn mir die Kamera meines Smartphones verraten könnte, wer gerade vor mir steht.

TR: Damit verändert sich auch die Art und Weise, wie wir auf die Welt reagieren, oder? Wir lagern immer mehr Teile unseres Gedächtnisses und unserer Wahrnehmung ins Netz aus. Ich selbst versuche gar nicht mehr, mir bestimmte Dinge zu merken – Telefonnummern zum Beispiel. Mein Kind wird noch weniger auswendig lernen.

Jacobs: Ich weiß, dass manche Menschen diese Entwicklung beunruhigend finden. Ich glaube aber, dass die meisten von uns viele Vorteile daraus ziehen werden. Nehmen Sie Ihr Kind: Dank der Gedächtnisfunktion von Augmented Reality wird es eine viel größere Wissensspanne haben als Sie heute. (nbo)