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" ... eine gefährliche und heikle Sache"

Emily Singer

Wissenschaftler sprechen sich in einem offenen Brief für die freie Nutzbarkeit von Medikamenten zur Steigerung der Leistungsfähigkeit von Gedächtnis und Konzentration aus. Michael Gazzaniga, Direktor des "Sage Center for the Study of Mind", erklärt warum.

Die Verwendung von Stimulanzien wie Ritalin außerhalb zugelassener Anwendungsbereiche nimmt in den letzten Jahren unter Studenten stetig zu. Studien zeigen, dass zwischen 5 und 15 Prozent amerikanischer College-Besucher inzwischen rezeptpflichtige Medikamente als Lernhilfe nutzen – und selbst in Forscherkreisen scheint die Praxis zuzunehmen. Der Trend sorgt für eine Debatte, wie und wann diese "Gehirnbooster" erlaubt sein sollten – und wann nicht. Das US-Militärpersonal nutzt die Mittel inzwischen sogar regulär im Dienst. Aber was ist mit Chirurgen? Und was mit Wissenschaftlern, die die Nacht über hart im Labor arbeiten oder Studenten kurz vor dem Examen?

Ein offener Brief im Wissenschaftsjournal "Nature" sprach sich kürzlich dafür aus, die Verwendung von Medikamenten zur Steigerung der Leistungsfähigkeit von Gedächtnis und Konzentration freizugeben. In dem Text, der von einer Gruppe aus Ethikern, Psychologen und kognitiven Neurowissenschaftlern verfasst wurde, heißt es, dass solche Mittel "im Gegensatz zu Doping beim Sport" zu "wichtigen Verbesserungen in der Welt" führen könnten.

Gegner führten an, dass die Nutzung solcher Gehirnbooster unfair sei und den Wert harter geistiger Arbeit schmälere. Die Wahrheit sei aber, dass solche Stoffe in die gleiche Kategorie wie andere Instrumente zur Verbesserung der Gehirnleistung fielen, "etwa Kaffee, Tee oder eine Mütze Schlaf". Entsprechend sollten sie auch (nicht) reguliert werden, so die Wissenschaftler.

Kritiker sehen das anders. Als größte Gefahr im Zusammenhang mit dem breiten Zugriff auf solche Wirkstoffe gilt ihnen, dass der Druck zunehmen könnte, sie auch zu nehmen – ganz einfach, um mithalten zu können. Eine nichtrepräsentative Umfrage von "Nature" aus dem vergangenen Jahr unter 1400 Personen aus 60 Ländern fand heraus, dass 20 Prozent der Teilnehmer solche Mittel verwendeten, um Konzentration und Gedächtnis steigern – natürlich ohne Rezept. Ritalin ist dabei am populärsten, gefolgt von Adderall. Beide Stoffe werden eigentlich gegen ADHD verschrieben. Das Potenzial von Gruppenzwang ist laut der Umfrage durchaus vorhanden: Während 85 Prozent der Teilnehmer sagten, dass die Verwendung dieser Wirkstoffe durch Kinder unter 16 Jahren eigentlich eingeschränkt werden sollte, meinte ein Drittel, dass sie sie ihren Kindern geben würden, wenn andere Minderjährige sie nehmen.

Die Autoren des offenen Briefs räumen durchaus ein, dass die Gehirnbooster vor einer breiteren Verwendung intensiver untersucht werden müssten – entsprechende Studien zur genauen Wirksamkeit seien enorm wichtig. Auch die Nebenwirkungen der Langzeitnutzung seien, auch bei Kindern, noch unklar. Hinzu komme die Gefahr der Abhängigkeit und des Missbrauchs.

Michael Gazzaniga [1], Direktor des "Sage Center for the Study of Mind" an der University of California in Santa Barbara gehört zu den Autoren des "Nature"-Briefes. Im Gespräch mit Technology Review erläutert er die Position, die er und seine Kollegen in der Debatte einnehmen.

Technology Review: Herr Gazzaniga, Ihr offener Brief empfiehlt, dass gesunde Erwachsene Zugriff auf Medikamente haben sollten, die die Hirnleistung verbessern können. Warum denken Sie, dass das eine gute Idee ist?

Michael Gazzaniga: Der normale Alterungsprozess des Menschen führt dazu, dass das Gedächtnis mit der Zeit nachlässt. Würde es Mittel geben, die dagegen helfen und gleichzeitig sicher sind, sollten diese der Öffentlichkeit auch zur Verfügung stehen, finde ich.

TR: In Ihrem Kommentar steht unter anderem, dass solche Gehirnbooster "in der gleichen Kategorie" angesiedelt werden sollten, in der heute Errungenschaften wie Bildung, eine gesunde Lebensweise und die Informationstechnologie zu finden sind. Wieso sehen Sie das so?

Gazzaniga: Allen neuen Technologien wurde zunächst Widerspruch entgegengebracht, sogar der Schreibmaschine. Wenn man nun seinen mentalen Zustand plötzlich verändern kann, werden die Leute nervös – besonders, wenn dadurch die Gehirnleistung gesteigert wird. Die Menschen haben das Gefühl, als würden sie betrügen. Aber selbst die Chemotherapie zur Krebsbekämpfung wäre dann Betrug. Wenn all diese neuen Technologien in Maßen und im richtigen sozialen Kontext angewendet werden, sind sie gut.

TR: Denken Sie nicht, dass es unmöglich wäre, Gruppendruck zu verhindern – also dass die Menschen dann denken, sie müssten diese Wirkstoffe nehmen, um mit anderen mithalten zu können? Es fließt enorm viel Geld in die Pharmawerbung. Das könnte breite Auswirkungen haben.

Gazzaniga: Die Verwendung außerhalb der zugelassenen Anwendungsbereiche wird sich stabilisieren. Ich denke, sie wird auch bei einer breiten Zulassung niedrig bleiben. Man kann sich schon heute ganz einfach Ritalin besorgen, um seine Nachmittagsmüdigkeit zu bekämpfen, doch die wenigsten Menschen tun das. Der Tee oder Kaffee zu dieser Zeit ist immer noch beliebter und reicht den meisten aus.

TR: Ist das wirklich so? Was ist mit Bereichen, in denen Menschen stark unter Druck stehen, wie beispielsweise der Forschung?

Gazzaniga: Man darf nicht vergessen, dass einen diese Medikamente nicht schlauer machen. Sie halten einen wach, damit man lernen kann, um schlauer zu werden. Obwohl es immer wieder einen Boom bei der Benutzung einzelner Wirkstoffe geben wird, ist doch damit zu rechnen, dass sich das auf niedrigem Niveau stabilisiert. Dieser Wert wird höher sein, als er manchem lieb ist, aber er wird sich etablieren, egal wie die extern aufgestellten gesetzlichen Regelungen lauten.

TR: Was ist mit dem Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial? Wie würden Sie sicherstellen, dass die Stoffe verantwortungsvoll verwendet werden?

Gazzaniga: Aufklärung ist hier das einzige Werkzeug, das funktioniert. Wie wir bei illegalen Drogen festgestellt haben, ist es nahezu unmöglich, sie aus einer Gemeinschaft herauszuhalten. Die Nachfrage nach einem Wirkstoff, sei dieser nun verboten oder nicht, hat stets mit dem örtlichen sozialen Kontext zu tun. Wir können einfach nicht hundertprozentig sicherstellen, dass Medikamente und andere chemische Stoffe immer verantwortlich verwendet werden. Es ist Aufgabe jeder Gemeinschaft, ihre Mitglieder über die Gefahren unsachgemäßer Anwendung solcher Mittel aufzuklären. Dadurch lässt sich der Basiswert der Verwendung kontrollieren. Eine perfekte Welt entsteht dadurch aber nicht.

TR: Ein Hauptargument gegen die weitläufige Verwendung solcher Gehirnbooster besteht darin, dass für den Nutzer eine ungerechte Abkürzung darstellen. Stimmen Sie dem nicht zu?

Gazzaniga: Um eine Analogie aus dem Sport zu finden – die meisten dieser Wirkstoffe werden im Spurt angewendet, also dann, wenn große mentale Anstrengungen gefordert sind. Sie werden nicht für die tägliche Routine gebraucht. Trotzdem denke ich, dass die Angst, dass sich Abhängigkeiten bilden könnten, durchaus ihre Berechtigung hat – deshalb müssen wir sicherstellen, dass sich die Einnahme nicht zu einem Lifestyle wandelt. Wer sich derart körperlich überdehnt, muss mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen.

TR: Was ist mit den Sicherheitsbedenken? Gibt man die Mittel einem Gesunden, ist dessen Risikotoleranz doch eher gering.

Gazzaniga: So sollte das auch sein. Bedenken Sie: Es soll kein Schaden entstehen. Ich denke, die Ängste liegen darin begründet, was passiert, wenn man sich damit in einen falschen mentalen Zustand bringt. Dann sind die Bilder, die man sieht, vielleicht etwas zu lebendig. Wir müssen vorsichtig testen und analysieren, damit so etwas nicht passiert.

TR: Warum macht die Idee, Medikamente zur Leistungssteigerung des Gehirns einzusetzen, die Leute so unsicher?

Gazzaniga: Wenn man mit seinem Geist experimentiert, ist das eine gefährliche und heikle Sache. Das sollte man niemals zu leicht nehmen. (bsc [2])


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https://www.heise.de/-275950

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.psych.ucsb.edu/~gazzanig/index.htm
[2] mailto:bsc@heise.de