Arbeitsteilung

Die terrestrischen Rundfunknetze sind eine recht statische Angelegenheit; sie werden einmal geplant und anschließend kaum noch verändert. Doch nachdem immer mehr internetfähige Fernsehempfänger in den Haushalten stehen, verschiebt sich die Gewichtung der Übertragungswege immer mehr in Richtung auf die Breitbandnetze. Mittels „Dynamic Broadcasting“ soll der Bandbreitenbedarf durch die zunehmenden Video- und TV-Übertragungen in den Breitbandnetzen befriedigt werden.

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Von
  • Richard Sietmann

Das Internet entwickelt sich immer mehr zu einer Alternative für die klassische Fernsehübertragung. Vor allem das Digitalfernsehen DVB-T, das den größten Teil des terrestrischen VHF- und UHF-Spektrums belegt, droht ins Abseits zu geraten. Mit Dynamic Broadcasting soll der Rundfunk beweglicher werden. „Die Rundfunkveranstalter zögern vielleicht noch, das zu akzeptieren, aber die terrestrische Rundfunkwelt wird sich verändern müssen“, meint der Technische Leiter des DVB-Konsortiums, Professor Ulrich Reimers. Wenn mit der zunehmenden Verbreitung von Fernsehern mit Breitbandanschluss immer mehr Zuschauer auf den Geschmack der Vielfalt im Internet kommen, würden die herkömmlichen Übertragungswege der Rundfunkprogramme – DVB-T, DVB-C, DVB-S – obsolet und müssten dann unter hohen Kosten nur noch für eine stetig schrumpfende Zahl von Zuschauern aufrechterhalten werden.

Reimers, der auch das Institut für Nachrichtentechnik (IfN) an der TU Braunschweig leitet, plädiert für eine engere Kooperation von TV-Sendern und Netzbetreibern, die sich die Vorteile beider Systeme zunutze macht. Er hat mit seinen Mitarbeitern ein System zur Arbeitsteilung unter den Verteilnetzen – „Dynamic Broadcasting“ – entwickelt, das er kürzlich auf der International Conference on Intelligence in Next Generation Networks (ICIN 2011) vorstellte. Nach diesem Konzept, das auf eine flexiblere Nutzung des Rundfunkspektrums zielt, würde sich die terrestrische Ausstrahlung auf die Lastspitzen gleichzeitig nachgefragter Sendungen beschränken und der „Long Tail“ der weniger populären Programme über die Breitbandnetze verteilen.

Dynamic Broadcasting geht weit über das ebenfalls im DVB-Konsortium entwickelte und vom ETSI standardisierte „Hybrid broadband broadcast TV“ (HbbTV) hinaus. Bei HbbTV kann der Nutzer mit seiner Fernbedienung ein ausgestrahltes Programm mit Zusatzinformationen des Veranstalters aus dem Web ergänzen oder umgekehrt ein laufendes Programm in die betrachtete Webseite einblenden.

Bei HbbTV entscheidet der Zuschauer mit der Fernbedienung, welches Programm und welche Zusatzinformation er sich auf den Bildschirm holt.

(Bild: IRT)

Die Verknüpfung von Broadband und Broadcast findet bei HbbTV also im TV-Gerät statt. Dynamic Broadcasting hingegen nimmt die Netze und die Arbeitsteilung der beiden Übertragungswege in den Blick. Anhand der Informationen, die durch die User-Interaktionen über den Internet-Rückkanal anfallen, kann der Programmveranstalter die Software des Systems entscheiden lassen: Soll ein bestimmter Inhalt als Echtzeit-Datenstrom oder als progressiver Download paketiert werden? Soll er über den Rundfunksender oder über das Breitband-Internet zu den Empfängern gelangen?

Der Ansatz ermöglicht die beweglichere Nutzung und Entlastung der Rundfunkkanäle. Bislang wurden bei DVB mittels starrer Multiplexe („Bouquets“) die einzelnen linear ausgestrahlten Programme in einen Transportstrom zusammengefasst und bestimmten Frequenzkanälen fest zugeordnet. An ihre Stelle würden künftig flexible Multiplexe treten, die variable Kanalzuweisungen und dynamisch konfigurierte Übertragungsparameter ermöglichen.

Die Zahl benötigter Sendekanäle könnte noch weiter sinken, wenn die Programmveranstalter die Speicherkapazität der Endgeräte ausnutzen. Bislang wiederholt gesendetes Material könnte dadurch für eine gewisse Zeit bei den Zuschauern eingelagert werden. Weder eine wiederholte Aussendung noch eine notwendige sofortige Übertragung von Echtzeitmaterial auch bei überlasteter Infrastruktur würde den Bandbreitenbedarf in den Netzen weiter erhöhen. Das System der Elektronic Program Guides (EPGs), Programminformationen jeweils einige Tage im voraus im Empfangsgerät abzuspeichern, würde damit auf die Inhalte selbst ausgedehnt. Und der EPG könnte künftig unterscheiden, welche Inhalte schon lokal auf der Festplatte liegen und welche Sendungen über welches Netz verfügbar sind.

Untersuchungen am IfN haben gezeigt, dass sich auf diese Weise ein erhebliches Einsparpotenzial ergibt. In Stichproben stellten die Braunschweiger fest, dass es sich bei etwa nur einem Fünftel der Sendungen in einem Bouquet tatsächlich um Echtzeitmaterial handelt – Sendungen also, bei denen wie im Falle von Nachrichten oder Live-Übertragungen der Inhalt vor dem Sendezeitpunkt nicht verfügbar ist. Den weitaus größten Teil der Programme machten dagegen vorproduzierte Sendungen und Wiederholungen aus den letzten 14 Tagen aus, und bei 15 Prozent handelte es sich um noch ältere Konserven.

Mit Dynamic Broadcasting winkt erneut eine digitale Dividende, indem Sender die frei werdende Kapazität zeitweilig anderen zur Sekundärnutzung überlassen und die brachliegenden „Weißen Flecken“’ des Spektrums durch eine geeignete Signalisierung anzeigen. An einer solchen kooperativen Nutzung müsste vor allem der bandbreitenhungrige Mobilfunk interessiert sein, meint Reimers – Mobilfunk-Provider müssten in Zukunft damit rechnen, mit Videos überschwemmt zu werden. Den Prognosen des Cisco Virtual Networking Index (VNI) zufolge würden bereits 2015 zwei Drittel des gesamten Verkehrsvolumens in den Mobilfunknetzen auf Videos entfallen.

Beim Dynamic Broadcasting legt der Programmveranstalter je nach erwarteten oder gemessenen Zuschauerzahlen fest, über welchen Weg die einzelnen Sendungen in die Endgeräte der Teilnehmer gelangen.

(Bild: IfN/TU Braunschweig)

„LTE ist wunderbar, LTE-Advanced sogar noch besser, aber beides sind Netze mit begrenzter Kapazität“, betont Reimers. Außerdem treiben sie den Energiebedarf und damit den „Carbon Footprint“ weiter in die Höhe. Erst kürzlich haben Gerhard Fettweis und seine Mitarbeiter an der TU Dresden im EU-Projekt EARTH durchgeführte Berechnungen veröffentlicht, wonach sich im Vergleich zu 2007 die weltweit vom Mobilfunk verursachten Kohlendioxidemissionen bis 2020 verdreifachen werden.

Im Festnetz, wo nach den Cisco-Analysen das Videostreaming aus dem Web auf den Fernseher im vergangenen Jahr dem Volumen nach das Filesharing vom Spitzenplatz in der Internetnutzung verdrängte, hat der Tsunami bereits aufgeschlagen. Die Vorstellung indes, die Rundfunkprogramme gleich gänzlich über das Internet zu streamen, hält Reimers für illusorisch. „Wenn man flächendeckend ein leistungsfähiges Breitbandnetz hätte, könnte man daran denken, alles darüber zu senden.“ Aber diese Voraussetzung sei nicht gegeben, und für den Ausbau hätten weder die Betreiber ein tragfähiges Geschäftsmodell noch brächten die Endkunden dafür die erforderliche Zahlungsbereitschaft mit. (jk)