Boeing 737 Max: Dokument belastet Flugzeughersteller

Ein der Aufsichtsbehörde bisher unbekannter Chatverlauf zwischen zwei Boeing-Mitarbeitern deutet auf Probleme mit MCAS schon während der Zulassung hin.

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Boeing 737 Max: Dokument belastet Flugzeughersteller

(Bild: Boeing)

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Im Fall der mit einem globalen Flugverbot belegten Boeing 737 Max ist ein Dokument öffentlich geworden, das den Hersteller in Erklärungsnot bringt. Ein Chatverlauf zwischen zwei Mitarbeitern deutet darauf hin, dass Boeing schon während der Zulassung des Flugzeugtyps im Jahr 2016 vom problematischen Verhalten einer Steuerungssoftware wusste, die für den späteren Absturz zweier Maschinen des Typs verantwortlich gemacht wird. Die US-Luftfahrtbehörde FAA wirft Boeing zudem öffentlich vor, der Behörde das Dokument vorenthalten zu haben.

Das Dokument ist die Mitschrift eines Chats zwischen Mark F., der 2016 als leitender Testpilot für die Zulassung und Dokumentation der 737 Max verantwortlich war, und seinem Mitarbeiter Patrik G. In dem von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichten Chatverlauf beschreibt F., wie bei einem Simulatortest die Steuerungssoftware MCAS zu seiner Überraschung auch bei niedriger Geschwindigkeit eingriff:

F: Schockalarm: MCAS ist nun schon bis runter zu M .2 aktiv [0,2 Mach, entspricht rund 250 km/h]. Es ließ sich bei mir im Simulator nicht mehr einfangen. Zumindest glaubt Vince, dass es das war.

G: Oh großartig, das heißt wir müssen die Beschreibung der Geschwindigkeitstrimmung in Band 2 ändern.

F: Im Grunde habe ich also die Aufsichtsbehörde belogen (unwissentlich).

G: Es war keine Lüge, niemand hat uns gesagt, dass es so ist.

F: Ich gehe bei etwa 1200 Meter in Horizontalflug über, 425 km/h und das Flugzeug trimmt sich wie irre selbst, ich so: WAS?

Diese Unterhaltung erhärtet den Verdacht, dass Boeing schon während des Zulassungsverfahrens über das mögliche Fehlverhalten von MCAS informiert war. Die Aufsichtsbehörde soll über den Wirkungsgrad der Software allerdings weitgehend im Dunkeln gelassen worden sein. Laut dem Chat betraf das offenbar wohl auch die mit der Zulassung befassten Boeing-Mitarbeiter. Zusätzlich hat wohl eine zu enge Verquickung zwischen FAA und Hersteller zu Nachlässigkeiten bei der Zulassung geführt. Nun stellt sich die Frage, ob das Boeing-Management die FAA bewusst und gezielt über MCAS getäuscht hat. Mark F., der heute bei der Fluggesellschaft Southwest arbeitet, hat in der laufenden Untersuchung von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Boeing hatte das Dokument im Frühjahr dem US-Justizministerium für seine laufende Untersuchung übermittelt und später auch einem Ausschuss des Abgeordnetenhauses vorgelegt. Die FAA als für die Wiederzulassung des Flugzeugtyps maßgebliche Behörde hatte erst in der vergangenen Woche Kenntnis von dem Dokument erlangt. Daraufhin hatte die Behörde einen geharnischten Brief an den Boeing-CEO Dennis Muilenburg veröffentlicht. Der betont in einer knappen Stellungnahme, dass Boeing weiterhin alles zur Aufklärung nötige tun werde.

Allerdings mehren sich die Hinweise auf eine problematische Sicherheitskultur im Unternehmen. Bei Boeing ist es dem Bericht eines Whistleblowers zufolge primär darum gegangen, die 737 Max so schnell und günstig wie möglich in die Luft zu bringen. 2015 hatte Boeing unter Hochdruck eine Alternative für den spritsparenden und bei Airlines beliebten Airbus 320neo entwickelt. Anstatt die 737 von Grund auf neu zu konstruieren, modifizierte der Hersteller die Triebwerksaufhängung, damit die größeren und verbrauchsärmeren Mantelstromtriebwerke von CFM, die auch den A320neo antreiben, an die vergleichsweise kurzbeinige 737 passen.

So konnte die 737 Max die Betriebsgenehmigung des Vorgängermodells "erben" und musste nicht durch ein langwieriges Neuzulassungsverfahren. Auch das bei einer Neukonstruktion notwendige und für die Airlines teure Pilotentraining ("type rating") entfiel. Diesen Zeitvorteil erkaufte sich Boeing mit einem technischen Hilfsmittel: Das Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) sollte die Nachteile des neuen Antriebsdesigns kompensieren und sicherstellen, dass sich die Flugeigenschaften der 737 Max nicht ändern.

MCAS war schon nach dem Absturz einer 737 Max der indonesischen Lion Air im Oktober 2018 ins Visier der Ermittler geraten. Laut ersten Untersuchungsergebnissen hatte ein defekter Sensor das MCAS mit fehlerhaften Daten gefüttert – die Maschine senkte die Nase gegen die Steuerimpulse der Piloten, die nicht wussten, womit sie es zu tun haben. Auch der Absturz einer Boeing 737 Max der Ethiopian Airlines einige Monate später erfolgte unter vergleichbaren Bedingungen.

Unterdessen haben zahlreiche Airlines damit begonnen, ihre stillgelegten 737 Max zur Überwinterung auf Parkmöglichkeiten in gemäßigten Klimazonen zu verlegen. Solche Stationierungsflüge sind weiterhin möglich, das weltweite Flugverbot beschränkt sich auf kommerzielle Flüge mit Passagieren. Darüber hinaus haben weitere Fluggesellschaften die 737 Max aus ihren Winterflugplänen gestrichen. Beides deutet darauf hin, dass die Branche nicht mit einer baldigen Wiederzulassung der 737 Max rechnet. Boeing hingegen hofft, die 737 Max noch in diesem Jahr wieder in die Luft zu kriegen.

Allerdings hat Boeing darüber hinaus noch ein weiteres Problem mit seinem Mittelstreckenarbeitspferd: Beim Max-Vorgänger 737 Next Generation sind bei zahlreichen Maschinen Haarrisse in einem Verbindungsteil zwischen Rumpf und Tragfläche aufgetreten, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. Derzeit werden alle Maschinen des Typs mit besonders vielen Start- und Landungszyklen geprüft. Nach den Ursachen für die Haarrisse wird noch geforscht. Herstellungsfehler werden ebensowenig ausgeschlossen wie veränderte Belastungsmuster durch später modifizierte Flügelspitzen.

Doch immerhin sorgt Boeing derzeit nicht nur für Negativschlagzeilen: Am Sonntagmorgen ist der bisher längste Direktflug der Welt in Sydney gelandet. Gestartet war die Boeing 787 gut 19 Stunden zuvor in New York.

Update 23.10.2019: Boeing bedauert in einer Stellungnahme, dass die Veröffentlichung des Chatprotokols ohne "sinnvolle Einordnung" erfolgt sei und betont, dass es um Fehler in der Simulatorsoftware gehe, die noch getestet wurde. Der Seattle Times zufolge hat einer der Beteiligten an diesem Chat bestätigt, dass er die Unterhaltung dahingehend verstanden hat, dass es um einen Fehler in der Simulatorsoftware ging. Inzwischen halten es auch Luftfahrtexperten für unwahrscheinlich, dass die von den Testpiloten beschriebenen Simulatorprobleme ein frühes Indiz für Fehlfunktionen von MCAS sein könnten. (vbr)