Chinas Wissenschaft: "Masse statt Klasse"

Ein renommiertes Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften kritisiert: „Das gesamte akademische System in China mündet darin, Masse statt Klasse zu produzieren.“

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Von
  • Robert Thielicke
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Die nackten Zahlen sind beeindruckend: 1,14 Millionen wissenschaftlich-technische Arbeiten haben chinesische Forscher seit 2003 international veröffentlicht. Nur aus den USA stammten im gleichen Zeitraum mehr Papiere. Der Chemie-Professor Wu Feipeng von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) in Peking sieht darin allerdings keineswegs den Beweis, dass sich China von der Werkbank zum Labor der Welt entwickelt. „Das gesamte akademische System in China mündet darin, Masse statt Klasse zu produzieren“, kritisiert er in der aktuellen Ausgabe von Technology Review (online zu bestellen).

Der Wissenschaftler ist eine Größe in der chinesischen Forschungslandschaft: Vor Jahren entwickelte er ein Produktionsverfahren für Polyacrylamide. Gleich zwei große chinesische Energiekonzerne kauften der Akademie die Technologie für viel Geld ab. Über Jahre hinaus ist seine Forschung damit finanziert. Seitdem genießt er an der Akademie einen Sonderstatus – und kann ungewöhnlich offen reden.

Das nutzt er für grundlegende Kritik am System: Jeder Forscher, der beim Blick durch ein Mikroskop irgendetwas Neues entdeckt, schreibe sofort einen Artikel, ohne seine Entdeckung in den Zusammenhang einer Fragestellung zu setzen, klagt Wu Feipeng. „Das bringt Chinas Wissenschaft kein bisschen nach vorn.“ Im Gegenteil: Es gebe seit zehn Jahren keine entscheidenden Verbesserungen.

Als Beispiel nennt Wu Feipeng Supraleiter: Diese Materialien können unterhalb bestimmter Temperaturen ohne Verlust Elektrizität transportieren. Im Januar dieses Jahres verlieh Staatspräsident Xi Jinping einem Forscherteam um den CAS-Physiker Zhao Zhongxian die Nationale Auszeichnung Nummer 1 für Erkenntnisse in Naturwissenschaften. Zhao und seine Leute hatten gleich eine ganze Familie neuer Supraleiter ermittelt. Dazu machten sich die Chinesen die Entdeckung des Japaners Hideo Hosono von der Universität Tokio zunutze, der kurz zuvor herausgefunden hatte, dass das chemische Element Lanthan bei einer Temperatur unterhalb von 26 Kelvin als Supraleiter taugt.

In China sprangen mehrere Forscherteams unmittelbar nach Hosonos Veröffentlichung auf den Zug auf und weiteten die Untersuchungen auf andere chemische Elemente aus. Mit Erfolg. Binnen zwei Monaten hatten die Chinesen die Supraleiter-Tauglichkeit der Elemente Samarium, Cerium und Neodym nachgewiesen.

Doch alle diese Materialien entstammten der gleichen Elementefamilie wie Lanthan, den „seltenen Erden“. Die Chinesen beschreiben also mehr oder weniger das Offensichtliche. Dennoch sei die Erkenntnis preiswürdig, befand das chinesische Technologieministerium.

Auch in den USA zeigte man sich beeindruckt. Das Wissenschaftsmagazin Science titelte auf seinem Nachrichtenkanal: „Neue Supraleiter heben Chinas Physiker an die Spitze“ und zitierte mehrere Forscher, die sich überrascht zeigten, dass die Forscher im Reich der Mitte zu solchen Entdeckungen in der Lage waren.

Für Wu jedoch war das Erstaunen im Westen vor allem das Resultat einer geringen Erwartungshaltung. Wer glaubte, die chinesische Wissenschaft würde Jahrzehnte hinterherhinken, sah sich mit dem Gegenteil konfrontiert. „An die Spitze“ allerdings hätten die neuen Supraleiter Chinas Physiker nicht gehoben, urteilt der Forscher. „Technologisch mögen die Entdeckungen durchaus interessant sein. Aber aus wissenschaftlicher Perspektive haben sie überhaupt keinen Wert“, sagt er.

Ein Indiz für diese These ist, dass der Preis erst sechs Jahre nach den Veröffentlichungen vergeben wurde. Die Verantwortlichen in den Ministerien hätten endlich eine Auszeichnung der höchsten Kategorie Nummer 1 vergeben wollen, um ihr Image aufzubessern. Zuvor wurde jahrelang darauf verzichtet, weil es schlicht nichts zu prämieren gab. Unterstützung für die These bekommt Wu von Huan Xiuqin von der Universität in Nanjing. Der Physiker hatte schon vor einigen Jahren öffentlich darauf hingewiesen, dass eigentlich die Japaner die Lorbeeren verdient hätten.

Den Vorwurf "Masse statt Klasse" erhärtete auch eine Recherche das Fachmagazins "Science": In einer fünfmonatigen Untersuchung enthüllte die US-Journalistin Mara Hvistendahl einen florierenden Schwarzmarkt für wissenschaftliche Papiere in China. Entweder können Wissenschaftler über Bestechung belanglose Arbeiten in wichtige Zeitschriften hieven. Oder sie bezahlen spezielle Unternehmen, die ihnen eine Autorenschaft in einer zur Veröffentlichung akzeptierten Studie vermitteln. Das lohnt sich oft unmittelbar. Unis oder Institute vergüten Veröffentlichungen mit bis zu mehreren Tausend Euro, den Autoren winkt beruflicher Aufstieg.

Der Staat versucht mittlerweile immerhin, die Probleme in den Griff zu bekommen. Mit der Initiative Forefront 5000 hat er eine Online-Plattform entwickelt, um wertvolle Arbeiten vorzustellen und öffentlich als gut einzustufen, wenn ein akademisches Gremium die entsprechende Empfehlung abgegeben hat. Ob dieser Weg funktioniert, muss sich allerdings erst noch zeigen.

Mehr zum Thema in Technology Review 05/2014:

(rot)