Der Weg zur digitalen Barrierefreiheit: Warum sie wirklich wichtig ist

Barrierefreiheit geht jeden an: Im Alter hören wir schlechter, die Sonne kann blenden, ein Formular unausfüllbar sein. Das soll sich ändern.

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Viele Unternehmen tun sich schwer auf dem Weg zur Barrierefreiheit.

(Bild: Alexey_Erofejchev/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Michael Wahl
Inhaltsverzeichnis

In jedem Bus, in jeder Hand, im Büro und auf dem Bahnhof leuchten sie – die Displays unserer Tage. Damit sind nicht nur die großen Bildschirme wie etwa Abfahrtstafeln oder Werbebildschirme gemeint, sondern auch die kleinen privaten Smartphones und Tablets. Schöne digitale Welt, immer verfügbar, nachhaltig, günstig und offen für alle. Zumindest beim letzten Punkt, der Zugänglichkeit oder etwas technischer, der Barrierefreiheit (accessibility), stimmt das ganz und gar nicht.

Gleiswechsel ohne Ansage am Bahnhof, schon ist der Zug für blinde Reisende weg. Wäre die Reiseapp doch nur barrierefrei abrufbar. In Videotutorials verraten schlaue Stimmen die Lösung zu fast jedem Problem. Ohne Untertitel oder Gebärdensprache bleibt man als Mensch mit Höreinschränkung mit dem Problem allein. Komplizierte Buchungen und Freigabeverfahren sind für uns alle schwer, aber wie bekommen das Menschen mit Lernschwierigkeiten hin? Das mit dem Onlineshoppen, mit dem richtigen Klick auf Cookiebanner und kleinen Häkchen vor Buchstabenbergen? Gar nicht – so ernüchternd ehrlich ist die Antwort.

Ein Gastbeitrag von Michael Wahl

Michael Wahl ist Leiter der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik. Der Magister in Politikwissenschaft und Philosophie ist blind und daher auf barrierefreie Angebote angewiesen.

Für Menschen mit Beeinträchtigungen geht es nicht um die Frage, ob die technische Infrastruktur eine schnelle Verbindung zum Web vom aktuellen Standort herstellen kann. Es geht grundsätzlich darum, überhaupt einen Zugang zu Information und Kommunikation zu bekommen. Blinde Kolleginnen und Kollegen arbeiten ohne Maus und notfalls auch ohne Bildschirm selbständig am PC, Menschen mit und ohne Höreinschränkung diskutieren digital zu Fachthemen, Menschen mit Mobilitätseinschränkungen von Armen und Händen reichen digitale Anträge ein oder Seniorinnen und Senioren leisten die digitale Einkommenssteuererklärung durch eine barrierefreie Nutzerführung, das alles ist barrierefreie digitale Informations- und Kommunikationstechnik (IKT). Es geht ganz einfach um die Frage, ob viele Menschen drinnen oder draußen sind in der digitalen Zukunft. Das ist untertrieben. Es geht um das digitale Jetzt, um Dabeisein im Alltag von heute. Und darum, dass diese digitale Kluft in Zukunft nicht noch größer wird.

Digitale Barrierefreiheit zählt, denn es werden immer mehr statt weniger Hürden und Hindernisse in der digitalen Welt errichtet. In den allermeisten Fällen geschieht dies ohne Absicht, sondern schlicht unwissend und daher unsichtbar. Bordsteine in der digitalen Welt gibt es nicht, daher kann man sich nur schwer vorstellen, warum es eine Art digitale Rampe braucht. Digital ist schnell, dynamisch und flexibel. Es reicht ein falsches Format oder Konvertierungstool und das Ergebnis ist ein nicht für Screenreader (Sprachausgabe für Blinde) oder die Braillezeile lesbares PDF. Oder es fällt die Entscheidung für eine bestimmte Entwicklungsumgebung zu Beginn einer App- oder Softwareentwicklung und schon sind digitale Barrieren zementiert, die im üblichen digitalen Kostendruck und vorprogrammierten Zeitverzug nie wieder repariert werden können. Die App oder Software wird nicht barrierefrei sein.

Neben diesen eher technischen Barrieren gibt es die eher redaktionellen oder sprachlich, gestalterisch erzeugten Zugangshindernisse. Die fehlende Gebärdensprache oder Untertitelung ist neben der fehlenden Leichten Sprache offensichtlich. Aber es sind auch fehlende Alternativtexte (Beschreibungstexte für rein visuelle Elemente wie Bilder) oder nicht ausfüllbare Formulare, die Menschen mit Beeinträchtigungen behindern. Menschen mit Beeinträchtigungen ist dabei ein Schlüsselbegriff. Denn mit großer Sicherheit sind oder waren die überwiegende Mehrheit der User schon von digitalen Barrieren betroffen: Zu wenige Kontraste, zu kleine Schrift, zu leise Ansagen in der Bahn, Sonne auf dem Display des eigenen Smartphones – schon gehören Sie zu den Menschen, die von Barrieren behindert werden. Das Schöne an der digitalen Barrierefreiheit ist nun, dass sie für diese dauerhaften Beeinträchtigungen oder temporären Ärgernisse Lösungen bereitstellt.

Die digitalen Barrieren sind schwer zu sehen und daher leider sehr zahlreich verbreitet und schwer zu vermeiden. Dabei sind sie, wenn von Beginn an im Bewusstsein von Programmierern, Entwicklern, Projektmanagern, Webdesignern und Autoren vorhanden, ohne großen Aufwand oder Zeitverlust zu vermeiden. Dieses frühe Bewusstsein für digitale Barrieren ist entscheidend. Denn wenn einmal im Prozess eingeschlichen, erweisen sich digitale Barrieren teilweise als sehr hartnäckig.

Die aktuellen Gesetze auf europäischer sowie deutscher Ebene sind deshalb auch eindeutig und fordern die Beseitigung sämtlicher Barrieren im Netz für öffentliche Stellen schon seit einiger Zeit. Für viele Produkte und Dienstleistungen aus der privatwirtschaftlichen digitalen Welt wird ein Gesetz im Juni 2025 scharf gestellt. Auch die Standardisierung ist mit gesamteuropäischen Normierungen, die einheitlich in der EU gelten, weit fortgeschritten. Die Rahmenbedingungen für die Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit stehen bereit.

Nur leider hängt die Praxis weit zurück, in Deutschland wie auch in Europa. Das Bewusstsein für die Pflicht zur Umsetzung, aber noch viel mehr für die Potenziale von digitaler Barrierefreiheit ist praktisch nicht vorhanden. Bereits die Grundvorstellung über Größe und Gewicht der Zielgruppe scheint nicht bewusst zu sein. Allein die Kernzielgruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen umfasst weit mehr als die 10 % Bundesbürger mit einem Schwerbehindertenausweis, denn ältere Menschen sind von den digitalen Barrieren in der Regel ebenfalls betroffen.

Das Alter lässt uns schlechter hören und sehen und somit entsteht der Bedarf an digitaler Barrierefreiheit ab einem gewissen Alter ganz automatisch. Über die Kernzielgruppe hinaus sind es die temporären Beeinträchtigungen, die eine laute, hektische oder auch grelle Umwelt immer wieder für uns alle hervorbringt. Digitale Barrierefreiheit wird so für alle sinnvoll. Denn digitale Barrierefreiheit ist der Kern von Nutzerfreundlichkeit, Gebrauchstauglichkeit oder auch Usability. Wenn man digitale Kommunikation und Informationstechnik für den größtmöglichen Nutzerkreis wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und möglichst flexibel (technisch robust) einsetzbar gestaltet oder anders gesagt, den vier Grundprinzipien der digitalen Barrierefreiheit folgt, liegt das Potenzial auf der Hand.

Digitale Barrierefreiheit führt zu zufriedenen Bürgerinnen und Bürgern oder Kundinnen und Kunden. Bei anhaltender Digitalisierung und demografischen Wandel sicherlich eine Disziplin mit Zukunft. Die Bedeutung und konkrete Dimension von digitaler Barrierefreiheit muss verstärkt sichtbar gemacht werden. Heute in der Zeit der digitalen Transformation sollte Digitalisierung mehr als nur die Elektrifizierung von analogen Prozessen sein. Wir sollten stets auf die Nutzerinnen und Nutzer schauen und deren Bedürfnisse als zentrale Ziele der Digitalisierung ansehen. Die digitale Barrierefreiheit muss eine zentrale Zielgröße werden, damit Menschen mit Beeinträchtigungen heute und in Zukunft digital teilhaben können.

(emw)