ESOF 2016: Europa – eine "Gelehrtenrepublik für viele"?

In Manchester findet diese Woche wieder das EuroScience Open Forum statt. Die Konferenz dreht sich um neue Entdeckungen und die Richtung zukünftiger Forschung.

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ESOF 2016: Europa – eine „Gelehrtenrepublik für viele“?

Kein Spielzeug: Diese aus Legosteinen gebaute Anlage am Stand von Cisco soll die Prinzipien einer Smart City veranschaulichen, in der zum Beispiel Rettungsfahrzeuge durch intelligente Ampelschaltungen schneller zum Einsatzort kommen.

(Bild: Hans-Arthur Marsiske)

Lesezeit: 6 Min.
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  • Hans-Arthur Marsiske
Inhaltsverzeichnis

In Manchester trifft sich in dieser Woche das EuroScience Open Forum. Die Konferenz versammelt sich seit 2014 alle zwei Jahre, um über neue Entdeckungen und die Richtung zukünftiger Forschung zu diskutieren. Viele Veranstaltungen drehen sich in diesem Jahr um Big Data, das Verhältnis von Mensch und Maschine, aber auch den Platz der Wissenschaft in der Gesellschaft.

Carlos Moedas, EU-Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation, bezog sich in seinem Plenarvortrag auf die Res publica literaria oder "Gelehrtenrepublik": Bis ins 18. Jahrhundert hinein war die briefliche Kommunikation das wichtigste Medium für den Gedankenaustausch europäischer Wissenschaftler. Diese Zusammenarbeit sei von vornherein grenzüberschreitend gewesen, aber bis ins 20. Jahrhundert auf die Gemeinschaft der Wissenschaftler beschränkt geblieben. "Wissenschaftliche Forschung kann den Klimawandel erklären", meinte Moedas. "Aber sie bietet keine Hilfe, wenn jemand nicht mehr weiß, wie er noch seine Wohnung heizen soll."

Siemens präsentiert in Manchester einen 50 kg schweren elektrischen
Flugzeugmotor, der 260 Kilowatt Leistung erzeugt und erst vor einem
Monat mit dem zweisitzigen Kunstflugzeug Extra 330LE seinen
Jungfernflug absolviert hat.

(Bild: Hans-Arthur Marsiske)

Die Öffentlichkeit müsse daher zukünftig an der Forschung beteiligt werden, statt nur Empfänger der Ergebnisse zu sein. Im 21. Jahrhundert entstehe neues Wissen im Zusammenspiel von Öffentlichkeit, Daten und Wissenschaftlern. Es gelte, eine neue "Gelehrtenrepublik für viele" zu schaffen statt nur für wenige. Europa wolle diesen Wandel zu einer neuen Ära der Forschung anführen und habe daher open data und open access im Rahmen des aktuellen europäischen Wissenschaftsprogramms Horizon 2020 zum Standard erhoben.

Es sind wohl noch die Nachwirkungen der alten Gelehrtenrepublik. Wer weiß schon außerhalb des Wissenschaftsbetriebs, was "open data" oder "open access" genau bedeuten? Das dürfte sich ändern, je mehr die Bürger unmittelbar in die Forschung eingebunden werden. Moedas selbst verwies etwa auf die große Bedeutung von Computerspielen zur Generierung wichtiger Daten.

Zudem werde die Aufbereitung und Verarbeitung großer Datenmengen zukünftig auch im Alltag wichtiger. Ian Kennedy von Cisco verwies in einer Diskussionsrunde zum Thema From Turing to the big data deluge als Beispiel auf das Verkehrsmanagement in Smart Cities, bei dem mehr und mehr Entscheidungen vom Computer getroffen würden. Die Herausforderung sei dabei nicht nur die schiere Menge an Daten, sondern vor allem auch deren sehr unterschiedliche Herkunft und Beschaffenheit.

Ein Lösungsweg bestehe darin, die Daten so wenig wie möglich hin und her zu bewegen, sondern sie möglichst an Ort und Stelle zu verarbeiten, betonte Brendan Bouffler von Amazon Web Services. "Wir wollen, dass Datenverarbeitung allgegenwärtig ist", sagte er. Schon heute würden viele Entscheidungen bei Amazon datenbasiert getroffen, etwa wann Speicherchips gewechselt oder die Flotte von Transportfahrzeugen vergrößert werden muss.

Vorangetrieben werden die Datenflut und der Umgang mit ihr aber immer noch vornehmlich von klassischen Forschungsinstitutionen wie dem Square Kilometer Array (SKA), dem größten Radioteleskop der Erde, das derzeit in Südafrika und Australien errichtet wird. Mehr als hunderttausend einzelne Antennen sollen dabei so koordiniert werden, dass sie wie eine einzelne Antenne mit einer Fläche von einem Quadratkilometer wirken.

Dabei gelte es, die Kühlung und die Energieversorgung so zu regeln, dass der Datenfluss 24 Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche zuverlässig gewährleistet werden könne, sagte Juande Santander-Vela. Er betreut als Element System Engineer den Bau dieses gigantischen Observatoriums, das nicht vor 2030 komplett fertiggestellt sein wird. Bei einem Instrument mit diesen Dimensionen sei von vornherein klar, dass es immer irgend etwas geben werde, was nicht wie vorgesehen funktioniert. Bei Entfernungen bis zu 120 Kilometer zwischen den einzelnen Antennen seien allein die meteorologischen Bedingungen so unterschiedlich, dass die Kalibrierung als dynamisches Problem betrachtet und so autonom wie möglich geregelt werden müsse.

Die Menge der Daten, die dabei gebändigt werden muss, bezifferte Anna Scaife mit 10 Terabyte pro Sekunde. Dies seien die Rohdaten, die permanent eintreffen, sagte die Astronomin von der University of Manchester. Daraus entstünden täglich 90 Terabyte an aufbereiteten Beobachtungsdaten. Die Wiedergabe der an einem Tag vom SKA gesammelten Daten würde auf einem iPod zwei Millionen Jahre dauern.

Ein Modell des Kometenlanders Philae weist auf die jüngsten Erfolge der
europäischen Weltraumforschung hin.

(Bild: Hans-Arthur Marsiske)

Es lassen sich aber zweifellos sinnvollere Dinge mit Radioteleskopen anstellen, als dem geheimnisvollen Knistern am Himmel zu lauschen. Die kürzlich publizierte Entdeckung der bislang ältesten bekannten Galaxie sei auf die Nutzung von Big Data zurückzuführen, erklärte Scaife. Ein erklärtes Ziel des SKA sei es zudem, den Himmel in Gravitationswellen abzubilden. Der vor kurzem gelungene Nachweis dieser Wellen sei ein großer Durchbruch gewesen. Um dieses neu geöffnete Fenster nun zur weiteren Erkundung des Universums zu nutzen, soll das SKA ein Netzwerk von tausenden Pulsaren erstellen und die Signale dieser rotierenden Neutronensterne permanent beobachten.

Daneben werde es mit Sicherheit unerwartete Entdeckungen geben, meinte Scaife. In der Anfangszeit der Radioastronomie habe ja auch niemand damit gerechnet, dass diese Technik eines Tages dem drahtlosen Internet den Weg bereiten werde. Gewiss werde das SKA den Umgang mit Big Data generell voranbringen. Auf die Frage, wie weit die Automatisierung der Datenverarbeitung gehen werde und ob das SKA eines Tages selbstständig Hypothesen entwickeln und Beobachtungsziele auswählen könne, antwortete sie, erst gestern Abend darüber gescherzt zu haben, dass das SKA ein eigenes Bewusstsein entwickeln könne. Dann räumte sie dann ein, dass die Kalibrierung dieses riesigen Instruments ohne Verfahren des maschinellen Lernens nicht möglich wäre.

Bouffler ergänzte, dass Amazon bereits an Programmen arbeite, die es dem Computer ermöglichen, ungewöhnliche Muster in Daten zu erkennen. Er verwies auf ein Projekt, das versuche, aus Twitter- Meldungen den emotionalen Zustand einer Nation abzulesen. Es sei gewiss eine langfristige Aufgabe, die gesellschaftliche Akzeptanz für solche Technik zu gewährleisten, vermutete Santander-Vela. Und Scaife sah die eigentliche Herausforderung darin, "wie wir miteinander kooperieren".

Womit wir wieder bei der von EU-Kommissar beschworenen Gelehrtenrepublik wären. Deren Transformation zu einer "Republik für viele" ist eben vorerst nicht viel mehr als eine Absichtserklärung – was vielleicht ein Grund für den bislang geringen Widerhall in den Medien sein könnte. (mls)