Hochaufgelöste TV-Euphorie

Vom 10. bis 14. September war Amsterdam der Nabel der Fernsehwelt. Über 1000 Hersteller präsentierten ihre Novitäten für die gesamte TV-Produktions- und Sendekette. Angetrieben vom heraufbeschworenen HDTV-Boom stand die Messe voll im Zeichen hochauflösender TV-Bilder.

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Inhaltsverzeichnis

Ein Blick in das Kongressprogramm und die Hallen der diesjährigen IBC verdeutlichte, dass das klassische analoge Broadcasting-Segment endgültig zu Grabe getragen wird. Die gesamte Branche rüstet sich für hoch auflösende digitale Formate - verständlicherweise, verspricht HDTV in den kommenden Jahren doch enorme Umsätze. Von der HD-Profikamera bis hin zum HDTV-Display im Wohnzimmer des Konsumenten muss alles erneuert werden, um die schöne hochauflösende TV-Welt zu realisieren. Statt der herkömmlichen D1-Auflösung (720 x 576 bei PAL) sprach jedermann von 720p (1280 x 720 progressiv) und 1080i (1920 x 1080 interlaced).

Gut zwanzig Jahre nachdem auf der IBC erstmals über HDTV diskutiert wurde, habe man den Zeitpunkt erreicht, zu dem man HD-Inhalte in etwa zu gleichen Kosten produzieren könne wie SDTV, so die einhellige Meinung. Entsprechend ging es auf der diesjährigen IBC nicht mehr darum, wie man HDTV überhaupt produziert, sondern wie es besonders kostengünstig klappt.

So verwundert es wenig, dass Sonys Profi-Camcorder HDCAM HDW-730S für Aufnahmen in 1080i in Scharen umlagert wurde und dem Konzern angeblich bereits vor der IBC Vorbestellungen im Wert von rund einer Million Euro bescherte - immerhin ist die Kamera mit gut 50 000 Euro für eine Profikamera vergleichsweise günstig. Semiprofis greifen zum kürzlich vorgestellten HVD-Camcorder Sony HDR-FX1, der unter 5000 Euro kosten soll.

Die Videoschnittspezialisten sind für die HD-Bilderflut gerüstet: Unter anderem präsentierte Avid HD-Unterstützung für seine komplette Profi-Produktlinie (Avid Xpress Pro, NewsCutter XP, Media Composer Adrenaline und weitere), die dank der 10-Bit-Kodiertechnik NxHD die Post Production von HD-Material bei gleichem Platz- und Ressourcenbedarf wie SD-Videos erlaubt. Pinnacle erweiterte Liquid in Version 6.0 um Multikamera- und HD-Support. Und auch die kommende Version von Apples Final Cut Pro HD soll nativ „1080i/50 fps Editing“ beherrschen und Panasonics bandlose DVCPRO-Camcorder unterstützen.

Im High-Definition-Kontext zeichnet sich sowohl im Broadcast-Segment als auch bei den DVD-Nachfolgeformaten HD-DVD und BD-ROM (Blu-Ray Disc) ein Zweikampf zwischen H.264/AVC (auch MPEG-4 Part 10 genannt) und Windows Media Video 9 alias VC-9 alias VC-1 ab. Zur Aufklärung: Microsoft hatte eine verallgemeinerte Spezifikation seines WMV9 als Video Codec 9 (VC-9) zur Standardisierung an die SMPTE (Society of Motion Picture and Television Engineers) übergeben. Diese hat VC-9 während des Standardisierungsprozesses in VC-1 umbenannt.

Momentan hat Microsofts Codec die Nase vorn: Beispielsweise präsentierte Equator Technologies ein für Settop-Boxen gedachtes System on a Chip (SoC) aus seiner BSP-15-Serie. Der Chip dekodiert Windows Media 9 Advanced Profile, sprich Inhalte in High Definition bis 1920 x 1080. Das gleiche SoC spielte auch Dicas’ mpegable AVC, allerdings nur in D1-Auflösung. Erst die kommende Chip-Generation wird schnell genug sein, um H.264/AVC in HD wiedergeben zu können.

Auch bei dem für Broadcasting wichtigen Echtzeit-Kodieren mit Hardware-Unterstützung hinkt H.264/AVC etwas hinterher. Während verschiedene Firmen bereits Realtime-Capturing in WMV HD mit Hilfe von DSPs präsentierten, reicht es bei H.264/AVC momentan nur für D1-Auflösung (etwa Moonlight Cordless auf Philips’ PNX1500-DSP). Die Implementierung von MainConcept schaffte es auf einem VP3-Referenzboard von Vitec Multimedia (mit acht TMS320DM642-DSPs von TI) nur auf 15 Bilder/s, soll aber schon sehr bald 25 Bilder/s wandeln; zum Jahresende soll auch HD-Unterstützung folgen.

Damit der AVC-Zug schneller in Fahrt kommt, haben die wichtigsten Befürworter des Kompressionsstandards jüngst die AVC Alliance (www.avc-alliance.org) gegründet. Zu den Mitgliedern zählen Sony, Panasonic, Philips, ADB, Apple, Ateme, Broadcom, Dolby, Envivio, Fraunhofer-HHI, Fujitsu, Harmonic, Hitachi, HP, JVC, LSI Logic, Mitsubishi, Moonlight, Motorola, Nokia, PacketVideo, Polycon, Samsung, Sentivision, Sharp, ST Micro, Tandberg, Texas Instruments und Thomson Broadcast & Media Solutions, nach der IBC dürften weitere hinzukommen. Insbesondere die „Big Player“ unterstützen H.264/AVC - nicht zuletzt, weil sie selbst Patente an dem Kompressionsverfahren halten und auf saftige Lizenzeinnahmen hoffen.

Gegen diese Übermacht dürfte Microsoft kein leichtes Spiel haben, selbst mit einem standardisierten VC-1 im Rücken. Yaron Simler, Harmonics Präsident der Convergent Systems Division, sieht eine Verschärfung des Problems darin, dass seiner Ansicht nach die Broadcaster und Telcos lieber auf Unix-Systeme vertrauten und sich nicht auf Microsoft-Systeme verlassen wollen, deren Einsatz zumindest vorerst mit VC-1 einhergehen würde.

Dennoch darf man Microsoft sicherlich nicht abschreiben, denn die Redmonder sind mit ihrem WMV9 bereits seit zwei Jahren auf dem Markt und spielen mit WMV-HD-DVDs den Vorreiter fürs hochauflösende Heimkinovergnügen. Entsprechend gut dürfte es in Kürze um die Verfügbarkeit von günstigen WMV9/VC-1-tauglichen Decoder-Chips bestellt sein.

Eine weitere Formatfrage könnte das Durchstarten von HDTV in Europa verzögern. Denn ob nun die Auflösung 720p oder 1080i das Maß der Dinge ist, wurde auf der Messe kontrovers diskutiert.

Mike Croll, Vorsitzender der für die Television Quality Evolution (B/TQE) zuständigen Gruppe der European Broadcasting Union (EBU), präferiert 720p bei 50 Bildern/s mit einem modernen Kompressionsverfahren wie H.264/AVC oder VC-1. Damit ließe sich ein Kanal bei 8 MBit/s übertragen und gestattete so sogar terrestrische HDTV-Ausstrahlung. Ein HDTV-Kanal in MPEG-2 MP@HL (Main Profile at High Level) schlägt indes mit knapp 20 MBit/s zu Buche.

Croll sieht in 720p den besten Kompromiss zwischen wachsender Display-Größe und zu übertragender Datenrate; er sprach deshalb im Namen des B/TQE-Komitees eine Empfehlung für 720p aus. John Ive, Direktor für strategische Planung bei Sony, kritisierte: „720p wäre ein Umweg, kein Fortschritt. 720p ist ein Minderheitenformat“ - außerdem sei 1080i das von der ITU definierte „Common Image Format“ (CIF) für HDTV. „Bei HD geht es um den Wow-Faktor und nicht nur darum, ein wenig besser als MPEG-2 [in Standardauflösung] zu sein“, so Ive. Phil Laven, Direktor der technischen Abteilung der EBU, stellte daraufhin klar, dass bezüglich der Auflösungen ohnehin noch nicht das letzte Wort gesprochen sei.

Angesichts diese Uneinigkeit dürften die Hersteller kommender HDTV-fähiger Receiver gut beraten sein, Decoder-Chips zu verbauen, die sowohl 720p als auch 1080i sowie H.264/AVC und VC-1 unterstützen.

Unbeirrt von solchen Überlegungen kündigte der Pay-TV-Sender Premiere an, er wollen ab November 2005 Programme in High Definition senden. Das HDTV-Angebot des Senders für Deutschland und Österreich soll drei Kanäle umfassen: Sport, Film, Dokumentationen. Die Programme werden zunächst digital über die Satelliten von SES ASTRA ausgestrahlt. Auch im Kabelnetz will Premiere sein HDTV-Paket anbieten; offenbar gibt es hierüber jedoch noch keine Einigung mit den Kabel-Providern.

Andere Sender planen ebenfalls, im kommenden Jahr in Europa mit hochauflösendem Fernsehen an den Start zu gehen [1|#literatur]. Der bislang einzige europäische HDTV-Sender Euro1080 erweitert unterdessen sein Sendegebiet und beglückt demnächst via Sirius auch nordische und baltische Regionen mit seinem verschlüsselt ausgestrahlten Programm.

Im Zusammenhang mit der satellitengestützten Ausstrahlung von HDTV fiel auf der IBC immer wieder ein Begriff: DVB-S2. Dabei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des jetzigen digitalen Satellitenübertragungsstandards, der mit verbesserter Fehlerkorrektur („Forward Error Correction“, FEC) und zusätzlichen Modulationsverfahren (neben Quadrature Phase Shift Keying QPSK nun auch 8PSK, 16APSK und 32APSK) für höhere Datendichten aufwarten und so knapp 40 Prozent mehr Nutzdaten auf einem Transponder unterbringen soll. Zudem soll DVB-S2 die Konzentration der Satellitenleistung auf bestimmte Schlechtwettergebiete sowie das Ausrichten auf bestimmte Kerngebiete erlauben, mithin also Sender nur für bestimmte Regionen ausstrahlen können. Weitere Infos zu dem derzeit im Draft-Status befindlichen DVB-S2 finden sich in [2|#literatur]. Der endgültige Standard soll Ende 2004 veröffentlicht werden.

Präsentationen von HDTV via DVB-S2 mit H.264/AVC und WMV9 jeweils bei etwa 8 MBit/s in 720p zeigten, dass sich bequem sechs HD-Programme pro Transponder ausstrahlen lassen.

Noch nicht ganz so alt wie die Vision vom hoch auflösenden Fernsehen ist die Idee, TV-Inhalte über Breitbandzugänge zu verteilen: Ob „IPTV“, „TV via xDSL“ oder einfach Internet-TV, die Namen sind vielfältig, die Idee meist ähnlich. Fraunhofer, Modulus, VBrick, Harmonic, Microsoft und andere führten auf der Messe Prototypen ihrer Dienste für Free- und Pay-TV via DSL vor, die ebenfalls erst dank moderner Kompressionsverfahren wie H.264/AVC und VC-1 „Broadcast quality“ bei 1 MBit/s erreichen könnten. Die Telekommunikationsbranche wittert im so genannten „Triple Play“, bestehend aus Telefonie, Breitband-Internet und Fernsehen via IP beziehungsweise Video on Demand, einen Ausweg aus der Krise rückläufiger Pro-Kopf-Umsätze. Ob’s klappt, bleibt abzuwarten. (vza)

[1] Nico Jurran, HDTV-Kickdown, Hochauflösendes Fernsehen kommt in Fahrt, c't 15/04, S. 28

[2] Informationen zu DVB-S2 (vza)