IoT: Die Automotive Supply Chain absichern mit Distributed-Ledger-Technologie

Softwarelieferketten und Disruption waren Thema der EXPO2022: Vernetzte Fahrzeuge brauchen Sicherheitskonzepte, und Start-ups reichen Autoherstellern die Hand.

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Ola Källenius, Saeed Amidi und Dan Ram eröffneten die EXPO2022 in Stuttgart.

(Bild: Startup Autobahn)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Silke Hahn
Inhaltsverzeichnis

In Stuttgart trafen sich am 7. Juli 2022 Software-Start-ups mit Herstellern und Zulieferern der Automobilindustrie (Original Equipment Manufacturers, kurz: OEMs) zum Ideenaustausch und Pläneschmieden für technisch neue Ansätze in der Mobilität. Offenkundig stellt das neue Primat der Software über die alte Welt der Hardware die OEMs wohl vor große, teils noch ungelöste Herausforderungen: Im Mittelpunkt standen das Software-definierte Fahrzeug (Software-Defined Vehicle, kurz: SDV), die durch die Komplexität des Themas auftauchenden Schwierigkeiten und wie die Partner aus Forschung, Start-ups und Industrie sie gemeinsam meistern könnten.

Es sei nicht mehr zeitgemäß, alles aus einem Guss alleine bewerkstelligen zu wollen – die kommenden Autos seien eher "Smartphones auf Rädern", so Ola Källenius (Vorstandsvorsitzender von Mercedes-Benz). CO2-neutrale Technologien sind ihm zufolge ein Ziel, zu dem sich der Initiator der Veranstaltung, die Mercedes-Benz Group AG, bekennt. Auf der Suche nach effizienteren Techniken, die im Idealfall in Serienproduktion gehen können, haben die OEMs bereits seit Längerem ein Auge auf Start-ups und deren Innovationen geworfen. Globale Krisen und Verwerfungen in der Branche erfordern zusätzliches Umdenken, betonten Tanja Rückert (CDO Bosch) und Saori Dubourg (Vorstandsmitglied bei BASF) bei der Eröffnung in ihren Keynotes.

Das Ende der Wachstumskurve sei erreicht, so Dubourg, die aktuelle Zeit sei "beispiellos" (unprecedented) mit ihren Verwerfungen. Zwei Paradigmenwechsel machte sie in ihrem Vortrag aus, das Emporkommen neuer Innovationsfelder als Antwort auf die aktuellen Verwerfungen – und einen Wandel in der Finanzindustrie: Durch den Klimawandel bedingte Verluste (in Höhe von 311 Milliarden Euro allein aufgrund wetterbedingter Schäden) führten derzeit zu einer Hinwendung der Kapitalmärkte zu nachhhaltigen Investments. Der Green Deal sei eine Hoffnung für Europa, und mit Ursula von der Leyen bezeichnete sie ihn als "Europe's Man to the Moon moment".

Källenius zufolge scheint ein technischer Durchbruch schon zum Greifen nahe. So hatte das Forschungsfahrzeug Mercedes Vision EQXX vor Kurzem einen neuen Reichweitenrekord in der E-Mobilität aufgestellt: Bei einer Testfahrt aus den Alpen hatte es 1200 Kilometer mit einer einzigen Batterieladung geschafft, wozu unter anderem dessen Aerodynamik und ein reduzierter Windwiderstand beitrugen. Start-ups wie das von dem Aerodynamiker Dr. Andreas Waldmann und seinen Kollegen Rafael Abel und Lutz Pegel gegründete Ventus stehen hinter solchen Erfolgen: So modelliert das Team von Ventus bodennahe Winde, die für die Reichweite, Planbarkeit und Kosten in der Elektromobilität eine entscheidende Rolle spielen.

Vergleich eines herkömmlichen Wettermodells und des präziseren Windmodells von Ventus, das 30 mal 30 Meter Auflösung bietet.

(Bild: Startup Autobahn)

Das von Ventus (und offenbar auch Mercedes) eingesetzte Modell mit 30 mal 30 Meter großen Quadraten und Höhenprofilen erzielt eine präzise Windprognose, wohingegen herkömmliche Wettermodelle mit 10 mal 10 Kilometern durch ihre geringe Auflösung schlecht dafür geeignet sind, die kleinskaligen bodennahen Windphänomene vorherzusagen – für den Luftwiderstand am Auto sind genau diese allerdings relevant. Das im Foto gezeigte 3D-Modell stellt links und rechts dieselbe Landschaft dar. Das grobe Modell hat eine gewisse Höheninformation, die aber nicht ausreicht für den Anwendungszweck. In der Luftfahrt sei man da weiter. Wie heise Developer von dem Aerodynamiker und Kollegen der umliegenden Stände erfuhr, verbringen E-Autos einen großen Teil ihrer Entwicklungszeit im Windkanal (etwa sechs Monate).

Ein weiteres Start-up UBQ aus Israel entwickelte in einem Upcycling-Verfahren aus Abfällen einen bionischen Ersatz für Kunststoff. "Das ist keine Science-Fiction, sondern greifbar", berichtete Källenius, dessen Unternehmen mit beiden Start-ups eine Partnerschaft eingegangen ist. In einer launigen Einlage bezeichnete er Mercedes zu seiner Gründerzeit als "dieses kleine Start-up", dessen Gründer sich zum Ziel gesetzt hätte, die Pferde los zu werden im Transportwesen. Auch Bosch-CDO Tanja Rückert trat mit innovativen Vorschlägen vor das Publikum. Sie hatte Henning Lategahn an ihrer Seite, den CEO des von Bosch aufgekauften Start-ups atlatec, eines Spezialisten für Karten in hoher Auflösung für das autonome Fahren und für Simulationen.

Digitale 3D-Karten sind Rückert zufolge entscheidend, da Level 4 nicht allein mit im Fahrzeug verbauten Sensoren erreichbar sein wird. Um Level 4 zu erreichen, müssten die Fahrzeuge "ihre Umgebung verstehen". Rückert und Lategahn berichteten von den Vor- und Nachteilen ihrer Partnerschaft beziehungsweise Übernahme eines kleinen, wendigen Start-ups durch einen großen Konzern. Unter anderem bremse die Vielzahl an Stakeholdern die Abstimmungs- und Alignment-Prozesse ab, war zu hören. Dafür bietet der Konzern dem kleineren Partner eine stabile Infrastruktur, um zu wachsen und auch in Serie produzieren zu können. Skalierung gilt als eine der größeren Herausforderungen für Start-ups.

Technischen Tiefgang boten vor allem die Diskussionspanel. So loteten Mirko Ross, der Gründer und Geschäftsführer des Start-ups für IoT-Sicherheit namens asvin, und zwei weitere Panelisten von DXC Technology und Excelfore gemeinsam mit ihrer Moderatorin von heise Developer aus, wie sicheres IoT-Lifecycle-Management für softwaredefinierte Fahrzeuge (SDV) funktioniert. Schwachstellen in Software wie bei Log4j können Autohersteller sich nicht leisten – die Herkunft, Versionierung und vor allem auch sichere Update-Kanäle mit "Over-The-Air"-Konnektivität (OTA) gilt es zu gewährleisten. Gemeinsam haben die drei Partnerunternehmen einen Weg entwickelt, um Softwarekomponenten über ihre gesamte CI/CD-Pipeline hinweg zu verfolgen und nachzuvollziehen, welches Stück Software von welchem Anbieter stammt, in welcher Version und mit welcher Zertifizierung es vorliegt.

Paneldiskussion "Track and Trace" über sichere Softwarelieferketten für Autos – v. l. n. r.: Silke Hahn (heise Developer), Mirko Ross (asvin), Moritz Glandien (DXC) und Volker Haninger (Excelfore).

(Bild: Startup Autobahn)

Das betrifft insbesondere die Steuerungseinheiten des Autos (Electronic Control Units, kurz: ECUs). Das ist wichtig, um bestehende Auflagen zu erfüllen (regulatory compliance) und die Sicherheit solcher Fahrzeuge zu gewährleisten. Technisch hat asvin mit seinen Partnern in einem 100-Tage-Projekt dafür eine Blockchain-Anwendung mit Distributed-Ledger-Architektur entwickelt, die "Fingerabdrücke" von der deployten Software nimmt. Das Produkt lässt sich zur Dokumentation und für das Prüfen auf Schwachstellen verwenden, aber auch in Verbindung mit einem Software Bill-of-Materials (SBOM) und dessen Verlaufsgeschichten einsetzen. Fazit des Panels war, dass vernetzte Fahrzeuge Sicherheitskonzepte brauchen, und für die Sicherheitskonzepte wäre eine Standardisierung der nächste Schritt.

Den äußeren Rahmen für die EXPO2022 boten die Wagenhallen beim Stuttgarter Nordbahnhof: Der Ort für Kunst und Kultur hatte schon einigen früheren Ausgaben als Location gedient, und das Tochterunternehmen von Plug and Play "Startup Autobahn" richtete das Event erneut dort aus. Im Innen- und Außenbereich bot die Veranstaltung auf drei Bühnen ein Programm mit Keynotes, Pitches und Diskussionspanels zu Themen aus Forschung, Industrie und Kunst, während Start-ups und OEMs in den Hallen meist auch eigene Stände hatten, an denen sie Live-Demos vorführten und über ihre Erfindungen, Technik sowie Use Cases informierten. Der Profi-Sprecher und Coach Dan Ram führte kenntnisreich und energiegeladen auf wechselnden Bühnen als Moderator durch den Tag.

Für alle Interessierten waren die Vorträge und Panels als Livestream online frei zugänglich, mittlerweile stehen die Aufzeichnungen auch auf YouTube bereit. heise Developer war vertreten durch die Redakteurin Silke Hahn vor Ort dabei – unter anderem, um mit DXC Technology, Excelfore und dem deutschen IoT-Security-Start-up asvin ein Diskussionspanel zur Software Supply Chain Security zu gestalten ("Track and Trace").

Hinter der Innovationsplattform "Startup Autobahn" steht das in Sunnyvale/Kalifornien ansässige Unternehmen Plug and Play, dessen Gründer Saeed Amidi das Projekt gemeinsam mit dem Executive Board von Mercedes-Benz 2016 initiiert hatte. Die Grundidee dabei: OEMs entwickeln mit Start-ups in 100 Tagen ein Projekt und entscheiden dann über die weitere Zusammenarbeit. Seither fand die dazugehörige Veranstaltung EXPO Startup Autobahn bereits elfmal statt: Meistens, aber nicht immer in den Wagenhallen (unter anderem diente auch schon die Messe Stuttgart als Veranstaltungsort). Gegenwärtig sowie in Zukunft soll es regelmäßig einmal pro Jahr eine EXPO geben.

Ziel des Start-up-Spezialisten und des alteingesessenen Karosseriebauers war es nach Angaben von Amidi und des Mercedes-Benz-Vorstands Ola Källenius, den Spirit des Silicon Valley nach Stuttgart zu holen und mit dem hier vorhandenen Ingenieurskönnen zusammenzubringen. Die Universität Stuttgart und der Forschungscampus ARENA36 sind ebenfalls als Gründungspartner an der Initiative beteiligt, bei der sich unter anderem auch ADAC, BASF, Bosch, DXC Technology, Porsche, Schaeffler und Linde einbringen.

Weiterführende Informationen zum Event, zur Plattform und zu den Partnern des Netzwerks lassen sich der Website von Startup Autobahn entnehmen.

(sih)