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Missing Link: Die unerträgliche Leichtigkeit der Thermodynamik - von KI und dem Erbe der Aufklärung

Detlef Borchers
Missing Link: Die unerträgliche Leichtigkeit der Thermodynamik

(Bild: pixabay.com)

In "Aufklärung jetzt" macht Steven Pinker mit optimistischem Blick auf das Erbe der Aufklärung auch vor der künstlichen Intelligenz nicht halt.

Für den kognitiven Psychologen Steven Pinker ist die künstliche Intelligenz (KI) nichts, vor der man Angst haben muss. Jedenfalls ist sie nicht in der Lage, den Menschen zu bedrohen. KIs, die Menschen aus Versehen unterjochen, weil sie gnadenlos zielstrebig den Auftrag erfüllen, etwa Büroklammern zu produzieren, hält Pinker für ein Hirngespinst. Solche Ideen seien Ausdruck einer viel zu engen Definition von Intelligenz, die "vollkommen außer Acht lässt, was für Informations- und Kontrollnetzwerke es in einem intelligenten System wie einem Computer, einem Hirn oder auch einer Gesellschaft als Ganzes gibt", schreibt er in seinem Buch "Aufklärung jetzt", das Bill Gates als sein "absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten" lobte.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Mit dieser Art einer Entwarnung [2] hat sich Pinker in einer dieser KI-Debatten zu Worte gemeldet, die der Literaturagent John Brockmann auf Edge.org führt [3] und in immer neuen Büchern verdichtet. Gegen die Büroklammer-Superintelligenz des Philosophen Nick Bostrom [4] hat Pinker einen empirischen Einwand parat: "Es ist nur eine Binse, aber bisher hat noch keine dieser KIs versucht, ihr Labor zu übernehmen oder ihre Programmierer zu versklaven. Und selbst wenn eine KI versuchen würde, Machtwillen zu entwickeln, wäre sie ohne die Kooperation von Menschen nur ein impotentes Hirn im Fass."

Denn solch eine frei drehende KI müsste ihre komplette Infrastruktur sicherstellen, von der Versorgung mit Strom bis zur Gestaltung der Effektoren, die sie mit der Welt verbindet. Für Pinker ist die Lösung ganz einfach: Baut so etwas nicht! So weit sein Beitrag zur KI-Debatte in der Süddeutschen Zeitung, der eine Auskoppelung aus seinem neuesten Buch ist: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. [5]

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Eine maschinelle Superintelligenz, die sich menschlicher Kontrolle entzieht? Keine absurde Vorstellung. Aber Bangemachen gilt nicht. Ignorieren schon gar nicht.

In dieser Verteidigung setzt Pinker auf das menschliche Wirken. Als größte Gefahr bezeichnet er in seinem Buch denn auch nicht die KI-Systeme, sondern Hacker, die keine Skrupel haben, mit den von ihnen beherrschten KI-Systemen Cyberterror- oder Bioterroranschläge auszuführen.

Binsen, Fakten und Tabellen sind die große Leidenschaft von Steven Pinker. In seinem Buch führt er nicht weniger 75 Grafiken und Tabellen auf, mit denen er nachweisen will, dass es der Menschheit insgesamt immer besser geht, was Schlüsselfaktoren wie Gesundheit, Ernährung und Wohlstand anbelangt, kurzum, was die generelle Lebensqualität der Gesamt-Menschheit ausmacht. Zwar gibt der Empiriker zu, dass es Gegenden gibt, in denen es an sauberem Wasser mangelt, oder in denen Kinder jämmerlich vom Hungertod bedroht sind, doch alles in allem hat der Fortschritt der Menschheit die allgemeine Verbesserung des Lebens gebracht.

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Mit immer neuen Zahlen will Pinker beweisen, dass es voran geht und Menschen tatsächlich die Kontrolle über den Fortschritt in ihrer Hand haben. Dabei verändern sich auch die Menschen, wie Pinker in früheren Büchern erklärte: Sie werden friedlicher und lehnen den Einsatz von Gewalt ab. In "Aufklärung jetzt" wird das etwas relativiert: Ein einzelner aggressiver Terrorist im Besitz der Freischaltcodes von Nuklearraketen kann die Welt schnell zu einem sehr unfriedlichen Ort machen. Das liest sich wie ein Kommentar zur aktuellen politischen Lage in den USA.

Dabei denkt Pinker viel mehr in langen Zeiträumen. Er setzt den Beginn des allgemeinen Fortschritts mit dem Beginn der Aufklärung an. Die Ideale der Aufklärung, der Glaube an die menschliche Vernunft, gekoppelt mit dem Mitgefühl, dass alle Menschen zu "empfindungsfähigen Weltbürgern" macht, sind für Pinker die eigentlichen Motoren des Fortschritts. Für die Aufklärung führt er Denker wie Montesquieu, Smith, Kant und Vico an, durch die der Humanismus definiert wurde, dem sich Pinker verpflichtet fühlt.

Die Kehrseite dieser Verklärung von Vernunft und Wissenschaft ist die Schärfe gegenüber Kritikern der Aufklärung, die sich mit den Defiziten dieser Entwicklung befasst haben. Für Denker wie Michael Foucault [14] und seine Theorie der Biopolitik oder Zygmunt Bauman [15] und seiner Kritik an der Überwachungsgesellschaft hat Pinker nur Hohn und Spott übrig.

Ganz schlimm sei es bei der "quasimarxistischen" Frankfurter Schule und ihrer Kritik an der Dialektik der Aufklärung [16], in der die negativen Folgen der Aufklärung erklärt werden. Das bringt uns zum schlimmsten Denker, der nach Pinker die Aufklärung bekämpfte: Friedrich Nietzsche, der mit seinen Gedanken über eine zukünftige Moral so ziemlich zu allem quer steht, was Pinker vermitteln will.

Pinkers Forderung: "Eine in einer kosmopolitischen Welt umsetzbare Moralphilosophie darf nicht aus Schichten komplizierter Argumentation bestehen oder auf tiefgründigen metaphysischen oder religiösen Überzeugungen beruhen. Sie muss ihre Kraft aus einfachen, transparenten Prinzipien beziehen, die jeder verstehen und akzeptieren kann. Solche einfachen Prinzipien sucht Pinker in den Naturwissenschaften und ihrem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis.

Ganz so einfach geht es freilich nicht, wenn es um den Sinn des Lebens geht. Schließlich entwickelten sich menschliche Gemeinschaften lange vor der heilsbringenden Aufklärung in alle möglichen Richtungen. Hier hat der Psychologe Pinker eine originelle Antwort parat, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik [17]. Seit dem Urknall strebe das Universum gemäß dem Hauptsatz der Entropie zu, in anderen Begriffen auch als Wärmetod des Weltalls bezeichnet.

Rejdan / shutterstock.com

(Bild: Rejdan / shutterstock.com)

Leben in all seinen Formen ist der Aufstand gegen diese Entropie und mithin ein Zustand, der ständig durch Nahrungszufuhr aufrechterhalten werden muss. Dies wird in der heutigen Welt mit erheblichen technischen, politischen und erzieherischen Mitteln von Systemen geleistet, die Pinker für schier endlos ausbaufähig hält. Weshalb er unverdrossen weitere Beweise für den Fortschritt und die Überwindung existenzieller Bedrohungen durch die Wissenschaft präsentiert.

Wie der Engländer C.P. Snow [18] ist auch Pinker der Meinung, dass jeder gebildete Mensch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik kennen muss, weil Wissenschaft das moderne Leben prägt. In seinem Bemühen, die Wissenschaft vor pessimistischen Ansätzen, Halbwahrheiten und "fake news" zu verteidigen, geht Pinker noch ein ganzes Stück weiter. Das macht ihn freilich anfällig für jene Beweise und Berechnungen, die seit den Warnungen des Club of Rome [19] das Ende des unbegrenzten Wachstums ins Auge fassen.

Tatsächlich gibt es Pinker-Kritiker, die für die von ihm präsentierten Fortschrittsdaten gegenteilige Fakten [20] präsentieren. Andere werfen ihm vor, im Namen der Aufklärung das große Ganze zu überhöhen [21], für den Alltag einfacher Menschen aber ein kaltes Herz zu haben. Für sein Buch hofft Pinker auf eine Langzeitwirkung, wie er im Vorwort schreibt: "Der Entwurf dazu entstand bereits einige Jahre bevor Donald Trump seine Kandidatur verkündete, und ich hoffe, dass es seine Amtszeit um viele weitere Jahre überdauern wird." Im Kampf gegen den grassierenden Pessimismus und Zynismus ist es schließlich ein handlicher Ziegelstein.

Dem Leser wird schnell klar, warum Pinkers Werk das "absolute Lieblingsbuch aller Zeiten" von Bill Gates ist. Wie Gates mit seiner Stiftung optimistisch daran geht, ganze Krankheiten auszurotten, das ist eine vorbildliche humanistische Einstellung für Pinker. Wie Bill Gates [22], so spricht sich auch Pinker für die Nutzung von Atomkraft [23] aus, um den Klimawandel zu stoppen.

Auch hier gibt es wieder Zahlen: die Zahlen der täglichen anfallenden Toten als Opfer von Kohlekraftwerken werden den Opfern von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima gegenübergestellt und das Problem der Lagerung von Atommüll wird gleichzeitig auf die Größe eines einzigen Walmarts herunter gerechnet. Überdies glauben die New Optimists [24], zu denen Pinker gerechnet wird, an den technischen Fortschritt in einer Weise, dass auch die Atommülllager eines Tages dank wissenschaftlicher Fortschritte genutzt werden können.

Damit zurück zur Ausgangsfrage dieses "Missing Link": Als Optimist kann Steven Pinker die Debatte um die Künstliche Intelligenz gelassen angehen. Auf die Frage nach einer KI, die die Menschheit bedroht und das stoffliche Universum in eines von Büroklammern beherrschten System umzuwandeln trachtet, gibt Pinker in seinem Buch ebenfalls eine sehr optimistische Antwort gegen Denker wie Nick Bostrom oder Ray Kurzweil mit seiner technologischen Singularität: "Wenn wir Hirngespinste wie rekursives Tuning, digitale Megalomanie, augenblickliche Allwissenheit und völlige Kontrolle über jedes Molekül im Universum mal außer Acht lassen, ist künstliche Intelligenz genau wie jede andere Technologie. Sie wird in kleinen Schritten entwickelt, darauf abgestimmt, vielfältigen Bedingungen gerecht zu werden, getestet, bevor man sie einsetzt, und fortwährend auf Effizienz und Sicherheit hin optimiert." Der Rest ist die umfassende Entropie aller Moleküle im Universum nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. (tiw [25])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4399134

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/steven-pinker-ki-maschine-mensch-1.4375316
[3] https://www.edge.org/conversation/john_brockman-possible-minds
[4] https://www.sueddeutsche.de/wissen/kuenstliche-intelligenz-bueroklammern-bis-zum-ende-der-menschheit-1.2498719
[5] https://www.fischerverlage.de/buch/steven_pinker_aufklaerung_jetzt/9783104030685
[6] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Von-Embodied-Intelligence-Superintelligenzen-und-der-Angst-vor-der-starken-KI-4258649.html
[7] https://www.heise.de/news/Missing-Link-KI-die-Kuenstlichen-Idioten-des-digitalen-Kapitalismus-4324653.html
[8] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Ein-Plaedoyer-wider-den-KI-Populismus-4063789.html
[9] https://www.dpunkt.de/buecher/13582/9783947619429-hell-fever.html
[10] https://www.dpunkt.de/buecher/13579/9783947619436-apokalypse-pallantau.html
[11] https://www.dpunkt.de/buecher/13581/9783947619399-die-letzte-crew-des-wandersterns.html
[12] https://www.dpunkt.de/buecher/13580/9783947619405-ausblendung.-wege-in-die-virtuelle-welt.html
[13] https://www.dpunkt.de/buecher/13583/9783947619412-massaker-in-robcity.html
[14] https://www.heise.de/news/Was-war-Was-wird-Vom-anonymen-Gemurmel-dans-l-anonymat-du-murmure-4316880.html
[15] https://www.heise.de/news/re-publica-15-Vom-Zeitalter-der-liquiden-Ueberwachung-und-der-fehlenden-reflexiven-Modernitaet-2638155.html
[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Dialektik_der_Aufkl%C3%A4rung
[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Hauptsatz_der_Thermodynamik
[18] https://www.heise.de/news/Wissenschaft-vs-Kunst-und-Politik-Die-beiden-Kulturen-217980.html
[19] https://www.heise.de/blog/Die-Grenzen-der-Prognose-4146648.html
[20] https://www.opendemocracy.net/en/transformation/steven-pinker-s-ideas-are-fatally-flawed-these-eight-graphs-show-why/
[21] https://www.nytimes.com/2018/02/28/books/review-enlightenment-now-steven-pinker.html
[22] https://www.heise.de/hintergrund/Kernkraft-die-naechste-Generation-4349299.html
[23] https://www.nytimes.com/2019/04/06/opinion/sunday/climate-change-nuclear-power.html
[24] https://www.theguardian.com/news/2017/jul/28/is-the-world-really-better-than-ever-the-new-optimists
[25] mailto:tiw@heise.de