Missing Link: Kontrollverlust der liberalen Demokratien – Panik ist angebracht

Klassischer Parlamentarismus westlicher Demokratien ist selbsterhaltend, löst aber keine wichtigen Probleme. Studien bestätigen den Machtverlust der Parlamente.

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Missing Link: Demokratische Defizite – Panik ist angebracht

Der Goðafoss ist einer der bekanntesten Wasserfälle Islands.

(Bild: pixabay)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Monika Ermert
Inhaltsverzeichnis

2016 wurde sie als mögliche erste Präsidentin für die Partei der Piraten gehandelt. 2019 lebt sie zurückgezogen in Islands Hauptstadt Reykjavik. Wegbegleiter sagen, sie hat viele Brücken abgebrochen. Im Gespräch mit heise online mahnt Birgitta Jonsdottir, Politikerin, Poetin und Chefin des Icelandic Modern Media Institute (IMMI), davor, sich auf den klassischen Parlamentarismus westlicher Demokratien zu verlassen: "Das aktuelle System funktioniert nicht", sagt sie.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Jonsdottir, die sich sehr spontan zum Gespräch in einem kleinen Café am Rande der Reykjaviker Altstadt bereit erklärt, gehörte 2012 zu den Gründerinnen der Piratenpartei in Island. Nur ein Jahr später zog sie ins Parlament ein. Nach dem Rücktritt des damaligen Premierministers David Gunnarlaugarson, der den von der Finanzkrise gebeutelten Isländer Sparsamkeit verordnete, selbst aber durch die Panama Papers als jemand geoutet wurde, der Geld am Fiskus vorbei ins Ausland geschafft hatte, erlebten die Piraten einen rasanten Höhenflug.

Umfragen sahen sie zwischen 30 und 40 Prozent. Islands Piraten und Jonsdottir trugen die Zahlen eine immense Medienaufmerksamkeit ein. Journalisten standen Schlange und Einladungen auf politische Bühnen weltweit, etwa zur Münchner Sicherheitskonferenz, trudelten ein. Diesen ganzen Rummel sei sie nicht gewohnt gewesen, sagt Jonsdottir, die sich selbst eher als Aktivistin, als Punk und Künstlerin sieht. "Alles, was ich im Parlament gemacht habe, war eine Installation", sagt sie und lacht.

Ihr rascher Rückzug nur ein Jahr später hatte mehrere Gründe. Rampenlicht und Rummel, einschließlich der juristischen Auseinandersetzung mit den US-Behörden, die Jonsdottirs wegen ihrer Mitarbeit an Wikileaks ins Visier nahmen, zehrten die Kräfte auf. Vor allem aber verzweifelte der "Punk" an der Art, wie im Parlament Politik gemacht wurde.

"Die Parlamentarier haben am wenigsten Macht", kritisiert sie. Die Verwaltung, die Ministerialbürokratie seien die Zentren der Macht und trieben die Maschinerie der Gesetzgebung an. Verantwortungsvollen Politikern bliebe regelmäßig zu wenig Zeit, die kurzfristig vorgelegten Entwürfe so zu prüfen, wie sie es ihren Wählerinnen schuldig seien. Das Ergebnis sind nach Ansicht von Jonsdottir nicht nur zu viele, sondern vor allem qualitativ schlechte Gesetze. Jonsdottirs Bilanz ist bitter: Parteien wären Teil einer Religion, die Gesetzgebung sei die neue Bibel. "Das System ist selbsterhaltend", klagt sie. "Aber es löst nicht die wichtigen Probleme, die wir lösen müssen."

Birgitta Jonsdottir, Politikerin und Poetin und Chefin des Icelandic Modern Media Institute

(Bild: Monika Ermert)

Jonsdottirs Kritik klingt hart, doch auch in der Wissenschaft hat das Thema "Krise der repräsentativen Demokratien" Konjunktur. Jeanette Hofmann, Leiterin einer Forschungsgruppe am Wissenschaftszentrum Berlin, Professorin für Internetpolitik an der Freien Universität, Direktorin am Humboldt Institute für Internet und Gesellschaft und "Principle Investigator" beim Weizenbaum Institut, verweist auf zwei zentrale Beobachtungen der Forscher. Zum einen bestätigen Studien den "enormen Machtverlust der Parlamente", zum anderen notieren sie ein "Umschalten von Vertrauen ins Misstrauen" in die demokratischen Institutionen.

Jonsdottirs Erfahrungen von Machtlosigkeit decken sich mit den Befunden der Wissenschaft, dass einerseits die Exekutive, also Regierungen, und andererseits Ministerialverwaltungen immer mächtiger werden in den klassischen westlichen Demokratien. Ein Beispiel für die Entmachtung eines Parlaments par excellence lieferten gerade eben Europas Regierungschefs mit ihrem ex cathedra dem Parlament verordneten Führungspersonal.

Zudem wird laut Hofmann mehr und mehr Verantwortung inzwischen verlagert in internationale oder supranationale Institutionen. Und noch auf einen anderen Trend macht Hofmann aufmerksam: Durch fortschreitende Privatisierung und Steuersenkung haben liberale Demokratien "faktisch alle Kontrolle über die Infrastrukturen verloren", sagt sie. Es bleibt eine beschränkte Rolle, in der die Staaten lediglich "Marktkorrekturen" vornehmen. Natürlich gebe es das Internet nicht, hätten Regierungen nicht Postbehörden und staatliche Telefonanbieter privatisiert. Ein Effekt der Entwicklung aber sei auch der nicht stattfindende Breitbandausbau in Deutschland. "Die Mittel des Staates sind hier echt begrenzt", konstatiert Hofmann.

Das zweite große von der Wissenschaft in der Demokratieforschung unter die Lupe genommene Phänomen ist die Krise der Parteien. Früher als Milieu Verbände Gemeinschaften, denen sich die jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen fast schon familiär zugehörig fühlten. Per Wahlakt wurde Verantwortung an die eigene Partei abgegeben.

Heute sei das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Politik völlig anders. Die Öffentlichkeit beobachtet, kritisiert und skandalisiert die Politik, so die Analyse des französischen Historikers Pierre Rosanvallon. "Wählen ist heute Abstrafen" und junge Wähler, die sich für ein Thema engagieren, sehen nicht ein, dass es dreißig Jahre dauert, um ein wichtiges Problem – etwa den Braunkohleausstieg – zu lösen. "Die Parteien könnten da eine ganze Generation verlieren."

"Wir sollten panisch sein", bestätigt Jonsdottir die unerträgliche Beharrlichkeit des "Systems", wie sie es erfahren hat. Nicht nur Klimakrise und Artensterben, auch der zunehmende Krieg gegen Aktivisten und kritische oder ganz normale Journalisten vor der eigenen Haustür macht ihr Sorgen. "Jedes Land ist im Krieg mit sich selbst", fürchtet sie.

Tatsächlich listet Reporter ohne Grenzen die EU-Mitglieder Ungarn auf Platz 87 der Missetäter gegen die Pressefreiheit. Großbritannien und Frankreich schaffen es gerade noch ins Mittelfeld (33 und 32), und selbst für Deutschland warnt die Organisation, der verbesserte Platz (von 15 auf 13) sei angesichts der stetig verschärften Überwachungsgesetze nur noch Folge davon, dass andere Demokratien so tief gefallen sind.

Das aktuelle Verfahren um die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange nannte Jonsdottir in einem Kommentar den "vielleicht größten Test, ob die Pressefreiheit noch unter dem Schutz des Rechts steht, ebenso wie all diejenigen, die alles riskieren, um Korruption, Macht und Habgier bloßzustellen."

"Jedem, dem etwas daran liegt, wofür Wikileaks damals gestanden hat – Informations- und Meinungsfreiheit und der Schutz von Whistleblowern – muss alles in seiner Macht stehende tun, die Auslieferung zu stoppen," schrieb Jonsdottir, unabhängig davon, was man von der Person Assange halte. Selbst Wikileaks-Unterstützerin der ersten Stunde, nimmt sie Assange sein Verhalten zu den Vergewaltigungsvorwürfen übel und klagt gegenüber heise online, er habe Wikileaks "geopfert". Genauso übrigens, wie klassische Verlage ihrerseits ihre Aufgabe als vierte Gewalt beim Übergang in die digitale Welt "geopfert" haben – auf dem Altar der Klicks.

Jonsdottirs Abkehr vom politischen Tagesgeschäft des Parlaments, ihr Austritt aus der Partei, die sie erfolgreich mit gegründet hat, und ihre Fundamentalkritik am aktuellen demokratischen Modell legt die Frage nahe, welche Alternativen sie vorschlägt, um politische Entscheidungsprozesse neu – und effektiver – zu gestalten.

"Ich habe die Antworten nicht, schon gar nicht allein. Wer bin ich? Ich bin nur ein Poet in einem Keller", schmunzelt Jonsdottir und bietet doch etwas an. "Ich denke, wir brauchen zufällig gewählte Personen, die uns für beschränkte Zeit vertreten, um Lösungen für bestimmte Probleme zu suchen." Die Überwindung von Differenzen muss am Anfang stehen und Transparenz und maximaler Informationszugang gehört für die Ex-Piraten nach wie vor zum Credo, ohne das keine sachorientierte Politik gemacht werden kann.

Hofmann forscht aktuell intensiv zu Schwärmen und Netzwerken. "Was die gemeinsam haben, sind fehlende Steuerungszentren, der Verzicht auf Hierarchien. Zugleich sind sie ähnlich unkalkulierbar in ihrer Entwicklung, nicht gut repräsentierbar und oft geschart um charismatische Führungsfiguren", so der wissenschaftliche Befund. Hofmann verweist darauf, dass auch den Altparteien die Entwicklung nicht entgeht und sie darauf reagieren. "Nicht-Mitglieder werden aufgefordert, den Vorsitzenden mit zu wählen oder, wie bei der SPD, am Parteiprogramm mit zu stricken." Das "Follower-Prinzip" wird hier und da übernommen oder, wie sie selbst als Mitglied der Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft erlebt hat, breite und durch Stakeholder mit getragene Deliberationsprozesse werden zugelassen – und anschließend in einer Schublade versenkt.

Überhaupt, fürchtet sie, wurde das viel beschworene Multi-Stakeholder-Modell lange "radikal überschätzt". "Multi-Stakeholder-Organisationen wie etwa die private Netzverwaltung ICANN, praktisch eine Version des eigentlich bekannten Neokorporatismus, reagieren auf Kritik und Legitimationsdruck von außen mit immer mehr Regeln und Verfahrenspunkten." Das erhöhe letztlich die Barrieren der Teilnahme für jedermann und verschärfe das sowieso bestehende Problem der Ressourcenungleichheit. "Eine NGO aus Südamerkika kann in einem solchen Prozess alle ihre Ressourcen verbrennen" – und doch den großen Unternehmens-Stakeholdern immer hinterherlaufen.

Was hält die Wissenschaftlerin von Schwarmintelligenz und zufällig ausgewählten Bürgerrepräsentanten? Eine Reihe von Wissenschaftlern halte diese aktuell für die beste Antwort, bestätigt Hofmann. US-Internetrechtler und Verfassungsjuristen Lawrence Lessig von der Harvard Universität hält durch zufällig gewählte Repräsentanten das Problem mit Wahlfinanzierung und Lobbyeinfluss in den USA für lösbar. Sein Stanford-Kollege James Fishkin arbeitet seit 15 Jahren an der Verfeinerung der "deliberativen Demokratie", bei der Normalbürger sich in Diskussionen zu anstehenden Problemen austauschen und zu ausdiskutierten Entscheidungen kommen.

Hofmann ist skeptisch: "In einer hoch integrierten Weltwirtschaft und angesichts von großen Problemen wie dem Klimawandel, braucht man meiner Meinung nach mehr als lokale Deliberationsprozesse", sagt sie. Trotzdem hält sie das Netz, das bislang leider vor allem die expressive Funktion und nicht so sehr die reflexive stärkt, für das vielleicht beste Spielfeld zum Experimentieren mit neuen Formen der Entscheidungsvorbereitung. "Wir brauchen sicher neue Integrationsverfahren", fügt sie hinzu und begrüßt Überlegungen wie die des Staatsrechtlers Thomas Vesting. Vesting hat angeregt, dass in Zukunft auch die Verfassung möglicherweise auf sinkende Wahlbeteiligung reagieren und den Bedeutungsverlust von Parteien als alleinige Instrumente politischer Willensbildung nachvollziehen muss. "Es müssten andere Formen der Organisation politischer Willensbildung gefördert werden."

Jonsdottir hält lokale Deliberation und zufällige Repräsentation zwar auch noch für Zukunftsmusik, aber sie sieht hier und da ganz praktische Entwicklungen: das Projekt der Millionenmetropole Mexico City, sich eine eigene, von den Bürgern mit diskutierte, Stadtverfassung zu geben, Helsinkis laufender Plan zur Beteiligung der Bürger an den Entscheidungsprozessen der Stadt. "Keiner ist bislang die ganze Strecke gegangen", sagt Jonsdottir.

Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich Jonsdottirs eigenes "Baby", ein umfassendes Gesetzespaket, um Island zu einem sicheren Hafen für Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit zu machen. Als Chefin des IMMI hat Jonsdottir seit 2010 dafür gestritten, einen sicheren Hafen für die vierte Macht zu schaffen und das Recht der Bürger auf besten Informationszugang zu schützen. "Wir wollten vorbereitet sein auf die Woge von Misinformation und Vertrauensverlust in demokratische Systeme", schrieb Jonsdottir vergangene Woche in der Ankündigung, dass man praktisch am Ziel sei.

Gerade eben wurde vom aktuellen isländischen Parlament die Verbesserung von Informationsfreiheitsanfragen und zum Schutz verabschiedet, ebenso wie die Absicherung eines Regimes beschränkter Haftung für IP-Hosts. Eine eigene Regelung wurde erlassen für die Pflichten der öffentlichen Hand zu Transparenz und Informationsweitergabe und zur Veröffentlichung von Dokumenten als Public-Domain-Informationen. Bis zum Ende des Jahres sollen ein Whistleblower Act und die Verabschiedung von einer Vorratsdatenspeicherung dazukommen, sowie zwei weitere Gesetze, die die Pressefreiheit gegen Verschärfungen im Äußerungsrecht stärken. Ganz so unnütz war die Parlamentsarbeit des Punk damit letztlich doch nicht. (bme)