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Moderne Mainframe-Anwendungen: Frische Köpfe statt neuer Technik

Berthold Wesseler

Neu ist immer besser – oder? Wann und für wen die Modernisierung von Mainframe-Anwendungen Sinn ergibt, erklärt Heidi Schmidt im Interview.

Unternehmen mit Tradition und Historie befinden sich oft in einem Teufelskreis bezüglich ihrer Mainframe-Anwendungen: Ihre Software ist über Jahrzehnte gewachsen und funktional umfangreich, technisch aber teilweise veraltet. Erfahrene Entwickler und Anwender gehen in Rente, ihr Expertenwissen geht verloren. Es fehlt zunehmend an Transparenz und Dokumentation der Prozessabläufe. Die notwendige Weiterentwicklung und Veränderung der Systeme wird dadurch komplexer und fehleranfälliger. Den Unternehmen drohen kurzfristig der technische Stillstand und mittel- bis langfristig der Verlust von Kunden und Märkten.

Die Mainframe-Interviews, Folge 8: Anwendungsmodernisierung - und wann sie sinnvoll ist

Wir wollen den Schleier des Mythos Mainframe lüften – und haben dazu wahre Kenner des Mainframe befragt. In dieser Folge sprechen wir mit Heidi Schmidt, Gesellschafterin der TIMETOACT Group & Geschäftsführerin der Ravensburger PKS GmbH, zu ihrem Spezialthema „Anwendungsmodernisierung“, welches sie unter dem Slogan „Wir gestalten die Zukunft“ sowohl für Mainframe- als auch IBM Power i -Anwendungen anbietet.

Blicken wir zunächst auf den Alters-Mix der Anwendungsprogramme auf dem Mainframe: Wie würden Sie den charakterisieren? Gibt es überhaupt noch Neuentwicklungen für den Mainframe?

Der große Vorteil, den IBM für Mainframe-Anwender von Anfang an zur Verfügung stellte, ist der hundertprozentige Investitionsschutz für die eigen entwickelten Anwendungsprogramme. Will heißen: Die Systemarchitektur sorgte immer schon dafür, dass die Kunden ihre in Software gegossenen Prozesse und damit Unternehmenswerte ohne große Mühe von einer Technologiegeneration auf die nächste mitnehmen konnten.

Dies war zum Beispiel im Windows- oder Unix-Umfeld meistens nicht der Fall. Somit haben wir natürlich „alte“ Programme auf dem Host – aber das muss ja nichts Schlechtes sein, wenn das Programm ausgereift, stabil und fehlerfrei läuft. Dann bringt es nichts – außer weiteren Kosten – dieses Programm noch mal neu zu schreiben!

Und natürlich gibt es auch Neuentwicklungen auf dem Mainframe – vielleicht oft nicht mehr in Cobol oder PL/1, sondern in Java. Gerade in Zeiten von Cloud und DevOps wird ja die Plattform, auf der ihre Anwendungen dann laufen, für Entwickler und Anwender immer weniger relevant. Es geht vielmehr um den Service, um die Zuverlässigkeit und um die Sicherheit der Daten – alles Punkte, bei denen der Mainframe allen anderen Plattformen überlegen ist.

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Sie sagen, dass Mainframes das operationale Tagesgeschäft stützen. Dann sollten die eingesetzten Anwendungsprogramme ja auch immer auf dem aktuellen Stand der Technik sein. Beobachten Sie das auch tatsächlich so in der Realität?

Die Anwendungen laufen stabil – das kann ich in jedem Fall bestätigen! Aber die teilweise über 40 Jahre alten Programme und der Vorteil, dass man den vorhandenen Code einfach immer „mitnehmen“ konnte auf neue Rechnermodelle, haben leider des Öfteren dazu geführt, die technischen Schulden, die sich bei jedem System ansammeln, nicht zu bereinigen.

Viele unserer Kunden kämpfen heute genau mit diesem Problem: Die technischen Schulden der Vergangenheit, wie zum Beispiel monolithische Code-Strukturen, fehlende Dokumentation usw. müssen bereinigt werden, damit auch der Nachwuchs eine Chance hat, in Zukunft von der Qualität und dem Leistungsspektrum der vorhandenen Anwendungen zu profitieren.

Wie oft werden Sie mit dem Thema „technische Schulden“ bei Ihren Mainframe-Kunden konfrontiert?

Immer! (lacht) Aber das hat natürlich schlichtweg mit unserem Firmenzweck zu tun. Wir bei PKS haben es zu unserer Hauptaufgabe gemacht, den Unternehmen bei der Beseitigung ihrer technischen Schulden mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Und der Bedarf ist in den letzten Jahren nur eins: gewachsen. Denn technische Schulden lösen sich nicht von selbst auf! Sie sind vielmehr spannenderweise sowohl bei einer Weiterentwicklung der Anwendung als auch bei ihrer Ablösung der Schlüssel zum Erfolg.

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Was ist die typische Vorgehensweise bei der Modernisierung von Mainframe-Anwendungen?

Es hat sich gezeigt: Die Analyse des Ist-Zustands ist das A und O. Früher dachte man oft, die volle Konzentration auf die Zieldefinition reiche und das fehlende Wissen über das Bestandssystem sei nicht so relevant. Aufgrund vieler Projekte ist im Markt heute längst bekannt, dass ein System nur dann modernisiert werden kann, wenn das Projektteam – bestehend aus Technik und Business – sowohl technologisch, strukturell als auch fachlich vollkommen durchdringt, was genau das Bestandssystem heute macht. Mit dem Wissen um den Ist-Zustand werden außerdem nicht nur Systemschwächen oder -mängel klar, sondern die Stärken und die echten Knüller werden wieder bewusst und für das Unternehmen nutzbar.

Parallel zur Ist-Analyse ist die Definition des Zielzustands notwendig. Hier gilt: Ein schlechter alter Prozess wird durch neue Technologie ohne Veränderung ein schlechter neuer Prozess werden. Die Unternehmen müssen daher aus ihrer Businessstrategie eine IT-Strategie ableiten. Das bedeutet konkret: herausarbeiten, für welche Prozesse im Unternehmen zukünftig Individualsoftware genutzt werden soll und wo Kaufsoftware reicht.

Sobald Start und Ziel der Modernisierungs-Journey klar sind, können die Projekte entsprechend geplant werden. Bei der Projektrealisierung zeigt sich dann, dass nicht die technischen Herausforderungen über Erfolg und Misserfolg entscheiden, sondern der Faktor Mensch. Der Mensch muss in den häufig vielfältigen Change-Prozessen abgeholt und mitgenommen werden.

Dies gelingt auf Anhieb oft nicht so gut, weil es hier um Teams und Mitarbeiter geht, die oft über Jahrzehnte mit wenig Veränderungen konfrontiert wurden. Jedoch ist anzuraten, sich hiermit zu befassen, um die Erfahrung, Kompetenz und Loyalität dieser Mitarbeiter nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Sie sind es, die die heutigen Systeme am besten kennen und zu deren Ablösung oder Modernisierung wertvolle Beiträge leisten können.

Vor Beginn des Projekts steht also die Frage: Lohnt sich die Modernisierung überhaupt – oder wäre eine vollständige Neuentwicklung oder die Anschaffung einer Standardsoftware besser?

Absolut! Dieser Frage muss sich jedes Unternehmen stellen und eine individuelle Antwort finden. Hier gibt es keine Lösung oder einen Zuschnitt, der für alle identisch wäre. Diesen Zuschnitt erarbeitet man sich am besten im Rahmen eines sogenannten Software- oder Landscape-Assessments, wie auch wir es anbieten.

Was spricht für eine Modernisierung?

Die Modernisierung empfiehlt sich für Anwendungen, die fachlich über Jahre und Jahrzehnte gereift sind und besondere Spezialitäten abdecken, die den Erfolg des Unternehmens ausmachen. Warum sollte man diese Wettbewerbsvorteile leichtfertig aufgeben und nicht weiter nutzen?

Wenn es um die Modernisierung von Mainframe-Anwendungen geht, steht automatisch auch direkt die Plattform-Frage im Raum: Unter welchen Bedingungen kommt ein Rehosting oder Replatforming auf Scale-Out-Cluster oder in die Cloud auf keinen Fall in Betracht – und warum?

Das ist eine sehr spannende Frage! (lacht) Ich bin der Meinung, dass hier vor allen Dingen Performance- und Security-Aspekte beleuchtet werden müssen, um die richtige Entscheidung zu treffen.

Fakt ist, dass eine Verlagerung in die Cloud auch wegen der Kosten häufig ungeeignet ist, falls man nicht noch im Startup-Modus unterwegs ist. Es zeigt sich mittlerweile, dass Unternehmen ab einer gewissen Größe alle eher wieder die Cloud verlassen, weil ein Betrieb der Systeme on Premises dann häufig günstiger ist. Rehosting oder Replatforming macht meiner Erfahrung nach eher bei kleineren Anwendungen oder bei „Restbeständen“ auf dem Mainframe Sinn.

Häufig geht es auch um zusätzliche Funktionalität, bessere „User Experiences“ oder auch neue Schnittstellen. Inwieweit müssen die Anwendungsprogramme modifiziert werden, um innovative Features neuer Prozessorgenerationen auszunutzen, wie sie beispielsweise IBM in den Bereichen Verschlüsselung/Datenschutz oder Analytics/KI entwickelt?

Natürlich müssen die Anwendungsprogramme auch architektonisch und technologisch modernisiert werden, um die heutigen Features maximal nutzen zu können. Als Beispiel sei hier die Verbesserung der Serviceschnittstellen genannt. Ein ganz klarer Punkt, der betrachtet und angegangen werden muss.

Welche Rolle spielt heute der Open-Source-Gedanke bei der Modernisierung von Mainframe-Anwendungen?

Aus meiner Sicht eine sehr wichtige, denn er holt den Mainframe raus aus der proprietären Ecke und macht ihn zugänglich auch für bisher noch nicht Mainframe-affine Gruppen.

Was bereitet die großen Probleme bei der Modernisierung von Mainframe-Anwendungen – und wie lösen Sie sie?

Tatsächlich würde ich sagen: Es sind eher Skill- und Change-Probleme und nicht rein technische Showstopper – für die finden sich immer Lösungen. Vielmehr sind die richtigen Know-how-Träger in solchen Projekten der Schlüssel zum Erfolg. Ebenso wichtig ist die Kompetenz, technisch und fachlich Verantwortliche in die Lage zu versetzen, auf Augenhöhe und echtem Verständnis miteinander zusammenzuarbeiten.

Frau Schmidt, vielen Dank für das Interview! Zuletzt haben wir mit Wolfram Greis über die Karriere-Chancen im Mainframe-Kontext [3] und mit Professor Philipp Brune über die Hochschulperspektive [4]auf das Thema gesprochen. Der erste Teil unserer Interview-Reihe widmete sich IBMs interner Sicht auf das Mainframe-Business [5].

(jvo [6])


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[3] https://www.heise.de/news/Mainframes-Exzellente-Chancen-fuer-Linux-Admins-aber-Manager-muessen-umdenken-7143989.html
[4] https://www.heise.de/news/Mainframe-Ausbildung-Glaenzende-Berufsaussichten-fehlt-jedoch-im-Studium-meist-7101451.html
[5] https://www.heise.de/news/Mainframes-Nicht-wegzudenken-fuer-den-Erhalt-unserer-Infrastruktur-6291956.html
[6] mailto:jvo@ix.de