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Prozess um Darkweb-Forum: Plädoyers drehen sich um Mitschuld am Anschlag

Christoph Lemmer
Prozess um Darkweb-Forum: Plädoyers drehen sich um Mitschuld am Anschlag

(Bild: tookapic)

Im Prozess gegen den Betreiber des Darkweb-Forums DiDW ging es nun um die Frage, welche Mitverantwortung der Betreiber am Münchener Anschlag hat.

Eine Woche Zeit will sich das Gericht für sein Urteil geben – und die wird es auch brauchen. Denn das, was das Landgericht Karlsruhe jetzt zu entscheiden hat, betrifft nicht nur den Betreiber des Darkweb-Forums "Deutschland im Deep Web" (DiDW), Alexander U. (31). "Es geht um die Verantwortung eines Betreibers einer Plattform für die Taten anderer", sagte Staatsanwalt Christoph Wedekind am Mittwoch in seinem Plädoyer. Und die sieht der Ankläger am Ende nach akribischer Auflistung aller Vergehen als gegeben an. Neun Jahre und fünf Monate Gefängnis beantragt er für den Angeklagten.

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Die Taten anderer – damit meint der Staatsanwalt 31 Delikte. Die meisten davon sind Drogen- und Waffendeals, die Nutzer des Forums DiDW zwischen 2013 und 2017 abgewickelt haben sollen. Nur Tat Nummer 32 betrifft allein Alexander U., nämlich dessen eigene Drogenkäufe, die aber bestenfalls wenige Monate ausmachen. Die mit Abstand schwerste Tat ragt heraus: Der Anschlag eines 18-jährigen am Münchner Olympia-Einkaufszentrum am 22. Juli 2016. Auch dafür soll Alexander U. nach dem Willen des Anklägers bestraft werden.

Vor dem Staatsanwalt haben die Eltern eines 14-Jährigen das Wort, der in München getötet worden war und die als Nebenkläger an dem Verfahren teilnehmen. Ihr "Vertrauen in Gerechtigkeit und Ethik des Staates ist stark erschüttert", sagt die Mutter. Sie habe in diesem Prozess wie auch schon vorher im Münchner Verfahren gegen den Waffenlieferanten des Attentäters "vergeblich auf Antworten gewartet, die mir Aufklärung und Sicherheit geben". Sie nennt den Täter einen "rechtsextremen Attentäter", der ihr ihren Sohn "für immer" genommen habe.

Ein bisschen tumultig wird es, als der Vater des Angeklagten, der auf einem Zuschauerplatz sitzt, zwischenruft und die Mutter des ermordeten Münchner Jugendlichen unterbricht. Er ist nicht genau zu verstehen. Er will sich wohl dagegen verwahren, dass sein Sohn mit dem Anschlag in München zu tun habe. Aber der Vorsitzende Richter geht sofort dazwischen. Auch die Verlobte des Angeklagten versucht, etwas in den Saal zu rufen. Auch ihr schneidet der Richter sofort das Wort ab. Der Verlobten lag wohl eher so etwas wie eine verständnisvolle Entschuldigung auf den Lippen, aber sie will das auch später nicht weiter erläutern.

Die Frage, inwieweit der Angeklagte Alexander U. als Plattformbetreiber für die Morde in München haften müsse, sei "juristisches Neuland", meint Staatsanwalt Wedekind. U. habe mit seiner Plattform DiDW einen Marktplatz für den gewerbsmäßigen Handel mit illegalen Waffen geschaffen. Gewerbsmäßig schon deshalb, weil einzelne Händler auf der Plattform mehrmals Waffen anboten. Genau das habe der Angeklagte auch in Kauf genommen und gewusst.

Laut Waffenrecht folgten aus jedem illegalen Waffendeal zwei Delikte und nicht nur eines, denn nicht nur der Verkauf sei verboten, sondern auch der Kauf. Verkäufer und Käufer machten sich je separat strafbar. Und der Plattformbetreiber? Der habe "Sorgfaltspflichten" einzuhalten, sagt der Staatsanwalt. Alexander U. habe das wohl auch gewusst. Er habe selbst seine Waffenkategorie als Plattform für "Herstellung, Vertrieb und sachgerechte Verwendung" von Waffen bezeichnet. Sicher habe er mit "sachgerechter Verwendung" keinen Terroranschlag gemeint.

Er habe außerdem gewusst, wie heikel die ganze Geschichte war. Nach der verheerenden Anschlagsserie im Pariser Konzertsaal Bataclan mit 130 Todesopfern habe er die Waffenkategorie unsichtbar geschaltet. Das war am 13. November 2015. Wenige Wochen vorher, am 24. Oktober 2015, habe der spätere Münchener Attentäter unter seinem Pseudonym "Maurächer" einen neuen Diskussionsfaden in der Waffenrubrik eröffnet und Interesse am Kauf einer Pistole vom Typ Glock 17 bekundet. Auch "Maurächers" Beitrag war nach den Pariser Anschlägen also offline.

"Dann hat der Angeklagte die Kategorie erneut eingeblendet und damit das Kaufgesuch sichtbar gemacht", trägt Staatsanwalt Wedekind vor. Monate später, nämlich am 13. März, habe sich im Forum etwas geregt. Der Waffenhändler mit dem Pseudonym "Rico" habe Kontakt mit "Maurächer" aufgenommen. Die beiden schrieben sich mehrmals in der von "Maurächer" angelegten Diskussion in der Waffenrubrik. Allerdings stellten sie da beide nur PGP-verschlüsselte Nachrichten ein. Darum sei es unmöglich gewesen, dieser Kommunikation zu folgen. Auch Alexander U. habe da keinen Einblick gehabt.

"Am 20. Mai 2015 trafen sie sich in Marburg", setzt der Staatsanwalt die Chronologie fort. Dort habe "Rico" die Pistole mit 100 Schuss Munition an "Maurächer" übergeben und 4000 Euro in bar kassiert. Am 18. Juli, zwei Monate später, hätten sich die beiden erneut in Marburg getroffen. Diesmal habe "Rico" weitere 350 Schuss Munition an "Maurächer" verkauft. Nur vier Tage danach, am 22. Juli, habe "Maurächer" im McDonalds am Münchner Olympia-Einkaufszentrum seinen Anschlag begonnen. Dann habe er das Restaurant verlassen, auf der Straße weiter um sich geschossen, das Einkaufszentrum durchquert, sei schießend über das Parkdeck spaziert und habe sich am Ende angesichts drohender Verhaftung selbst erschossen.

Und genau hier beginnt das juristische Neuland: Was bedeutet diese Tat rechtlich für das Karlsruher Verfahren? Welchen Beitrag im juristischen Sinn habe der Angeklagte DiDW-Betreiber Alexander U. für den Anschlag in München geleistet, fragt Ankläger Wedekind.

Und antwortet: "Der Beitrag des Angeklagten lag in der Wiederanschaltung des Forums und damit die erneute Aktivierung der Waffenrubrik." Alexander U. habe erkannt, dass man sich auf seiner Plattform illegal eine Waffe beschaffen konnte. Spätestens nach den Pariser Anschlägen habe ihm das bewusst sein müssen, auch, wenn die Pariser Attentäter entgegen vorherigen Gerüchten ihre Waffen wohl nicht aus Darkweb-Kontakten hatten. Alexander U. habe auch erkennen "müssen und können", dass seine Nutzer die über seine Plattform ergatterten Waffen auch zum Töten von Menschen gebrauchen könnten.

Dabei spiele keine Rolle, dass U. die Tat von München "nicht mehr beherrschen" konnte. Er sei durch die Ereignisse in Paris vorgewarnt gewesen und "hätte die Möglichkeit gehabt, den Anschlag in München zu verhindern. Stattdessen führte er Händler und Käufer zusammen".

Was den Münchner Anschlag betrifft habe Alexander U. sich darum wegen fahrlässiger Tötung in neun Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen strafbar gemacht. Das ist in der Tat juristisches Neuland. Sollte das Gericht dem folgen, dann müssten Plattformbetreiber unter vergleichbaren Umständen auch für Taten haften, die nicht unmittelbar an den von ihnen ermöglichten Kontakten hängen. Sie müssen auch nicht wissen, was ihre User da im einzelnen so tun.

Aus Sicht des Staatsanwalts liege es "nicht außerhalb der Lebenserfahrung, dass Waffen aus dem Darkweb zum Töten oder Verletzen benützt" werden. Genau darum handele es sich hier nicht um eine "Verkettung, sondern um eine direkte Unterstützung des Angeklagten". Die Grenze zum bedingten Gehilfenvorsatz sei zwar "nicht überschritten, aber er kam nahe dran". Das heißt: Es habe nicht viel gefehlt und Alexander U. hätte sich wegen Beihilfe zum Mord verantworten müssen und nicht nur für fahrlässige Tötung.

Einmal angekommen bei dieser rechtlichen Konstruktion ist der Rest vergleichsweise unspektakulär. Zu Lasten des Angeklagten müssten die "erheblichen Folgen" der von ihm fahrlässig mitverursachten Tat berücksichtigt werden. Die Opfer hätten keine Chance zur Gegenwehr gehabt. Es seien meist junge Menschen gewesen. Er habe "keine Schutzvorkehrungen getroffen, um eine solche Auswirkung zu vermeiden".

Damit bleibe er an dieser Stelle sogar hinter dem Treiben des Waffendealers "Rico" zurück. Der habe sich persönlich mit dem späteren Attentäter getroffen und "immerhin versucht, sich ein Bild von dem zu verschaffen, dem er eine Waffe verkaufte – wenn auch vergeblich".

Sein Forum habe U. unter das Motto gestellt: "Keine Kontrolle alles erlaubt." Er habe damit also "ein Stück Anarchie geschaffen, einen Bereich, in dem keine Gesetze gelten". Ergo: "Er muss dann auch für die Taten aus der Anarchie haften". Als Teilstrafe für den Münchner Anschlag beantragt Staatsanwalt Wedekind darum vier Jahre und zehn Monate Gefängnis.

Der Rest seines Strafantrags folgt aus den Drogendeals, die der Angeklagte auf seinem Forum ermöglicht habe. Die sortiert der Staatsanwalt zu 30 Fällen zusammen. Sie umfassen das ganze Spektrum mit Cannabis, Pilzen, LSD, Amphetaminen bis zu Kokain und Heroin und unterschiedlichen Mengen vom persönlichen Bedarf bis zu gewerblichen Handelsmengen.

Die von Alexander U. installierte automatisierte Treuhand-Funktion spielt im Anklageplädoyer kaum eine Rolle. Staatsanwalt Wedekind erwähnt sie nur einmal und stellt fest, sie habe halt zur "Absicherung von Geschäften" beigetragen.

Zugunsten des Angeklagten macht der Staatsanwalt geltend, dass er nicht einschlägig vorbestraft sei und das Verfahren mit seinem Teilgeständnis erleichtert habe. Alexander U. hatte eingeräumt, dass er allein das DiDW-Forum aufgesetzt und administriert habe. Er hatte auch sein Pseudonym "Luckyspax" preisgegeben. Zugute hält ihm der Ankläger auch, dass er das Forum nicht kommerziell betrieben und keine Anteile an Handelserlösen erhalten habe, sondern nur Spenden angenommen. Überdies habe er der Staatskasse von Baden-Württemberg Bitcoin im Wert von knapp 10.000 Euro abgetreten – wohl Geld aus dem Spendenaufkommen.

Die Verteidiger von Alexander U. verzichteten auf einen eigenen Antrag zur Strafzumessung. Allerdings wecken sie erhebliche Zweifel an der Begehbarkeit des "juristischen Neulands" der Staatsanwaltschaft. Anders als von Anklage und Nebenklage angenommen sei "Deutschland im Deep Web" per se keineswegs illegal gewesen. Auch das Tornetz – aka "Darknet" – sei es nicht. Im Darknet seien auch Institutionen wie Wikileaks oder die New York Times präsent.

Das DiDW sei eine Kommunikationsplattform gewesen, sagte Rechtsanwalt Marvin Schroth. Zwar sei auf der auch gehandelt worden, "aber es ist und bleibt vorrangig eine Kommunikationsplattform". Der Anteil der Forenbeiträge mit Geschäftsabsicht sei "verschwindend gering" gewesen. Nur wenige der mehr als 23.000 registrierten User hätten Geschäfte angebahnt. In den im Ganzen rund 528.000 Einträgen in den unterschiedlichen Kategorien sei es in den allerwenigsten um Geschäfte gegangen.

Illegal sei dagegen etwas ganz anderes gewesen: "Der Hacking-Angriff des BKA". Damit meint Schroth die SQL-Injection auf die Datenbank des Forums. Das BKA hatte mit einer solchen Attacke die Aufmerksamkeit von Alexander U. geweckt und ihn dazu gebracht, zu einem geplanten Zeitpunkt mit geöffneter Software vor seinem Computer zu sitzen. Der Plan bestand darin, auf diese Weise Zugriff auf seine Daten zu erlangen und zu verhindern, dass U. durch Abschalten oder Herunterfahren die Verschlüsselung seiner Datenträger aktiviert. Der Plan ging auch auf. Während U. am Rechner saß, rammten GSG-9-Männer seine Wohnungstür auf. Die Fahnder erwischten U. tatsächlich am eingeschalteten Computer.

"Man mag das verharmlosen als Simulation, technische Unkenntnis oder einen dilettantischen Versuch", schimpft der Verteidiger, "aber die Befugnis gab es zu keinem Zeitpunkt". Gleichwohl habe sich die Verteidigung im Verfahren zurückgehalten. Auf Anträge zu einem Erhebungs- oder Verwertungsverbot der auf diese Weise erlangten Beweise habe sie verzichtet, obwohl sie möglich gewesen wären.

Noch schärfer attackiert Schroth das Zollfahndungsamt, das ebenfalls gegen DiDW ermittelte und die Accounts verhafteter User für verdeckte Operationen weiterverwendete. Es hab eine Anfrage des Münchener Attentäters an Erichhartmann gegeben, sagte der Anwalt. "Erichhartmann" war einer dieser Accounts, die sich die Zollfahnder geschnappt hatten. Tatsächlich hatte sich "Maurächer" rund ein Jahr vor seinen Anschlag in München bei "Erichhartmann" nach einer Glock-Pistole erkundigt. Demnach, so der Verteidiger, müsse es ein Ermittlungsverfahren gegen den Zollfahnder hinter "Erichhartmann" geben, dessen Klarname aus der Akte bekannt ist und der im Münchner OEZ-Prozess auch als Zeuge aussagte. "Wenn das so richtig ist, hätte dieser Anschlag dann verhindert werden können?", fragt Anwalt Schroth in die Runde.

Zweifel am "juristischen Neuland" weckt er auch damit, dass er DiDW mit anderen Plattformen vergleicht, die zwar allgemein als legal gelten, aber ebenfalls für kriminelle Aktivitäten verwendet werden könnten. Etwa die Paketfirma DHL, "die anonyme Postfächer bereitstellt". Oder diejenigen, die die Zugangsknoten zum Tornetz verwalten. Auch das seien ja "reale Menschen". Und "was ist mit den Journalisten oder den chinesischen Dissidenten, die da sind? Wie weit wollen Sie da gehen?"

In Sachen Münchner Anschlag habe sich sein Mandant nur der Beihilfe zum Waffenhandel schuldig gemacht, mehr nicht. An die Adresse der Opfer-Angehörigen sagt er, dass es in diesem Verfahren um die strafrechtliche Verantwortung gehe und nicht die moralische. Er verstehe, dass die Angehörigen mehr wissen wollten. Ihre Erwartung an den Prozess in Karlsruhe sei aber zu hoch. "Hier ist der falsche Ort, um die Tat von München aufzuklären."

Gar keine Schuld will Anwalt Schroth seinem Mandanten wegen der Beihilfe zum Drogenhandel anlasten – für die Anklage immerhin knapp die Hälfte der geforderten Gefängnisstrafe. Was da auf DiDW zu sehen war, "das sind überhaupt keine Angebote". Das sei nur Werbung gewesen, "wie ein Schaufenster, wie ein Flyer". Weder Angebotstexte noch Bilder ("Proofpics") taugten da als Beweis für die Existenz konkreter Verkaufsangebote. Die Bilder würden gar nichts aussagen. "Ich könnte Salz fotografieren", spottet der Verteidiger, und dazu könne er den Namen des Vorsitzenden Richters der Karlsruher Kammer schreiben, irgendein Datum dazusetzen und bekomme dann die Freischaltung des Administrators.

Folglich habe sich Alexander U. keineswegs der Beihilfe zum Drogenhandel schuldig gemacht, sondern nur der Beihilfe zur Werbung.

Kurz fällt am Ende das Schlusswort des Angeklagten aus. "Ich will nach vorne schauen, heiraten, arbeiten und mein Leben in den Griff bekommen."

Damit ist der Prozess gegen Alexander U. fürs Erste beendet. Am 19. Dezember will das Gericht das Urteil verkünden. Allerdings ist nicht sicher, dass es bei diesem Plan bleibt. Vor wenigen Tagen verschickte das Bundeskriminalamt große Dateipakete an die Prozessparteien, auf denen sich das gesicherte DiDW befinden soll. Verpackt sind sie in virtuelle Maschinen. Nebenkläger beschwerten sich darüber, dass sie die nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten auf ihren Computern zum Laufen brachten.

Sollten sich bis zum Mittwoch darauf noch neue Beweise finden, könnten die auch jetzt noch eingebracht werden. Das Gericht würde dann in die Beweisaufnahme zurückkehren. Allerdings würde in diesem Fall weiteres Ungemach drohen. Anwalt Schroth, der die virtuelle Maschine des BKA als einer der wenigen Prozessbeteiligten zum Laufen brachte, bezweifelt die Authentizität des darin gespeicherten Forums. "Das, was Sie haben, kann nicht das sein, was bei Herrn U. gesichert werden konnte." (mho [4])


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