Kunststoffe aus Stickstoff – aber mit drei großen Nachteilen

Forschende wollen umweltfreundliche Kunststoffe aus Stickstoff herstellen. Die Rezeptur müssen sie aber noch verbessern.

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(Bild: NAUFAL ARIEQ WIRA P / Shutterstock.com)

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Zwei münzkleine, transparente Plastikkleckse in einem Labor der Dalhousie University in Halifax, Kanada, sollen ein globales Problem lösen. Zumindest wenn der Plan eines Teams um den Chemiker Saurabh Chitnis aufgeht. Statt Kunststoffe wie üblich aus Erdöl oder Erdgas herzustellen, wollen sie Stickstoff nutzen. Das Gas ist mit einem Anteil von über 70 Prozent der Hauptbestandteil von Luft und damit praktisch unbegrenzt verfügbar. Zudem könne das "Plastik aus der Luft" mit biologischer Abbaubarkeit und Flammschutz punkten, schrieben die Forschenden kürzlich im Fachblatt JACS.

Mit seiner Machbarkeitsstudie will das Team ein Schlüsselproblem von Verbindungen mit hohem Stickstoffgehalt gelöst haben. Zwar ist Stickstoff als Gas in der Luft chemisch äußerst stabil. Doch steckt er in anderen Molekülen, kann er durchaus für brisante Eigenschaften sorgen. Nicht umsonst ist er etwa in Sprengstoffen enthalten. Auch Stickstoffdünger wie Ammoniumnitrat können zur Gefahr werden. Sie wirken als Brandbeschleuniger, wie etwa im Sommer 2020 in Beirut, als die Explosion eines Düngemittellagers ein ganzes Hafenviertel zerstörte.

"Wir haben gezeigt, dass wir aus Stickstoff thermisch sehr stabile Polymere herstellen. Damit haben wir ein Schlüsselproblem von Materialien mit hohem Stickstoffgehalt gelöst", sagt Chitnis. Der Trick der Forschenden: Sie bauen den Stickstoff in phosphorhaltige stabile Molekülkäfige ein. "Dann kann man diese Käfige zusammenbringen und damit die Stickstoffmoleküle zu langen Ketten verknüpfen. Und das ist die Grundlage für Plastik."

Im Vergleich zu gängigen Kunststoffen aus Kohlenstoffketten sollen jene aus den stickstoffhaltigen Molekülkäfigen recht resistent gegen Feuer sein. Lediglich die Oberfläche nehme leichten Schaden, heißt es in der Studie. Auch die Bioabbaubarkeit sei gegeben. "In der Natur zersetzen sich diese Kunststoffe in Dünger, in Phosphate und Nitrate", so Chitnis.

Ein paar Haken haben die neuartigen Kunststoffe allerdings: Das aktuelle Herstellungsverfahren ist alles andere als nachhaltig. Es beruht auf giftigen und explosiven Ausgangsstoffen. Selbst wenn diese größtenteils in geschlossenen Kreisläufen geführt werden, sind sie schon allein wegen der aufwendigen Handhabung wohl kaum für eine Massenproduktion geeignet. Für die Molekülkäfige der neuartigen Kunststoffe wird zudem Phosphor benötigt, der als Dünger für die Landwirtschaft dringend gebraucht wird.

Und das Verfahren verschlingt eine Menge Energie: Der Stickstoff wird erst einmal aus der Luft abgetrennt, wozu diese stark abgekühlt, verflüssigt und dann kontrolliert wieder erwärmt werden muss. Er wird abdestilliert und anschließend mit Wasserstoff – für dessen Produktion ebenfalls viel Energie nötig ist – bei hohen Temperaturen und Drücken zu Ammoniak vereint. Aus Ammoniak, der unter anderem zur Düngerherstellung genutzt und etwa in der Schifffahrt als Energieträger der Zukunft gehandelt wird, entsteht schließlich der neue Kunststofftyp.

Chitnis ficht solche Kritik nicht an. Man suche gerade nach Lösungen und verfolge dabei verschiedene Ideen, berichtet er. "Wir könnten zum Beispiel Phosphor ganz oder teilweise durch Silizium oder Titan ersetzen." Dann könne man auch auf die gefährlichen Ausgangssubstanzen verzichten. Andererseits könnten Kunststoffe aus phosphorhaltigen Stickstoffkäfigen am Ende als Dünger genutzt werden, sodass wertvoller Phosphor nicht verloren ginge. Den hohen Energiebedarf will das Team gemeinsam mit Forschungspartnern noch reduzieren und ihn aus regenerativen Quellen decken.

Die Idee des Teams immerhin schaffte es kürzlich auf der Berliner Veranstaltung "Falling Walls" zu potenziell bahnbrechenden Vorhaben bis ins Finale. Geduld ist dennoch gefragt: Die Tests an den Prototypen – den kleinen Kunststoffklecksen im Labor in Halifax – sind aktuell eher der Grundlagenforschung zuzuordnen. Ob und, falls ja, wann Kunststoffe aus Stickstoff in ersten Produkten stecken werden, ist ungewiss. "Keines der Polymere aus unseren Publikationen wird schon zu einem Tisch oder Stuhl werden", betont Chitnis. "Aber wir konnten zeigen, dass die Idee funktioniert."

(anh)