Wenn das Internet zur Droge wird

Experten rechnen mittlerweile mit bis zu einer Millionen Internet-Abhängigen in Deutschland.

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Von
  • Tobias Schormann
  • dpa

Ihren 40. Geburtstag feierte Gabriele Farke in einem Chatroom. Leibhaftige Freunde hatten sich da längstvon ihr abgewandt. Zweieinhalb Jahre lang nutzte sie unter dem Namen "HexenKuss" jede freie Minute im Netz, bis sie schließlich durch ihr zwanghaftes Dauersurfen den Job verlor. Ihre Online-Sucht hatte sämtliche Zeit und Energie für andere Aktivitäten verschlungen, erzählt die Medientrainerin aus Buxtehude, die als ehemals Betroffene die erste deutsche Selbsthilfegruppe für Online-Süchtige leitete.

Kein Einzelschicksal -- Suchtexperten zufolge gibt es derzeit bis zu einer Million Internet-Abhängige in Deutschland. Wurde über das Thema noch vor wenigen Jahren gescherzt, warnen Beratungsstellen heute verstärkt vor den Gefahren der übermäßigen Internetnutzung und richten sich auf die Behandlung von Online-Süchtigen ein. Den ersten Schritt aber müssen die Betroffenen selbst machen -- und häufig fehlt den Internet-Süchtigen das nötige Problembewusstsein.

"2,5 bis 3 Prozent der Nutzer in Deutschland sind süchtig nach dem Internet", sagt Professor Matthias Jerusalem, Leiter einer repräsentativen Online-Studie des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie der Humboldt-Universität in Berlin, an der mehr als 10.000 Surfer teilnahmen. Ein besonders hohes Risiko für Internet-Sucht bestehe für männliche Jugendliche unter 20 Jahren und für Singles. "Gerade die allein Lebenden versuchen im Internet Kontakte zu knüpfen -- schließlich gibt es dort unzählige Kontaktbörsen und Chatforen", so Jerusalem.

Bei derzeit über 30 Millionen Internetnutzern in Deutschland seien das bis zu einer Million Süchtige, sagt Wolfgang Schmidt, Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren in Frankfurt am Main. Studien der Universität München und aus den USA kämen sogar auf noch höhere Prozentzahlen von Internet-Süchtigen. Die Zahl der Internetnutzer steigt zudem rapide -- für das Jahr 2003 rechnet der Branchenverband Bitkom mit einem Zuwachs auf 41 Millionen in Deutschland -- und damit auch die mutmaßliche Zahl der Süchtigen.

Das Verhalten von Online-Süchtigen lässt sich nach Angaben der Experten vergleichen mit dem von Alkohol- und Spielsüchtigen. Ab welcher Grenze die Internetnutzung zur Sucht werde, lasse sich anhand von fünf Diagnose-Kriterien ablesen, die in Anlehnung an die Kriterien stoffgebundener Süchte im Rahmen der Humboldt-Universitätsstudie verwandt wurden.

Auf eine Sucht deuten laut Professor Jerusalem zunächst psychische Entzugserscheinungen wie Unruhe, Reizbarkeit und Unzufriedenheit bei fehlender Internetaktivität hin. Von einer Abhängigkeit kann auch dann ausgegangen werden, wenn Nutzer nahezu ihr gesamtes Tageszeitbudget mit internetbezogenen Aktivitäten verbringen und trotz guter Vorsätze ihre Online-Aktivitäten nicht einschränken können. Online-Süchtige steigerten dabei die Dosis ihrer im Netz verbrachten Zeit stetig, um ihren Drang zum Internet zu befriedigen, so Jerusalem. Sie fielen durch soziale Probleme wie Ärger mit dem Arbeitgeber, der Schule, der Familie oder der Freundin im Zusammenhang mit ihrer Internetnutzung auf. Die Studie ergab zudem, dass ein Online-Süchtiger durchschnittlich 35 Stunden wöchentlich in der virtuellen Welt verbringt. Allerdings lässt sich nicht allein anhand der Zeit, die jemand im Internet verbringt, auf eine Sucht schließen: Sonst würde bereits jeder Mitarbeiter einer Internetfirma als abhängig gelten, gibt Jerusalem zu bedenken.

Vier Bereiche im Internet zögen Online-Süchtige besonders in ihren Bann: Chats und andere Internet-Kommunikationsformen, Sex-Angebote, Spiele und Online-Shops oder Auktionen, sagt Gabriele Farke. "Betroffene erleben meist einen völligen Realitätsverlust -- viele verharmlosen das zunächst und merken gar nicht, dass sie vom Internet nicht mehr loskommen", erzählt Farke.

Die Nachfrage nach professioneller Hilfe sei aber in den vergangenen Jahren stark gestiegen, sagt Werner Platz, Direktor der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie -- Suchterkrankungen an der Universitätsklinik der Humboldt-Universität in Berlin. "Vor fünf Jahren haben wir zum ersten Mal einen Online-Süchtigen behandelt - heute kommen sechs bis acht Betroffene pro Woche zu uns, um sich beraten zu lassen." Wer sich helfen lasse, habe gute Chancen, von der Sucht wieder loszukommen. Dabei sei in der Therapie neben der schrittweisen Verringerung der Internetnutzung eine psychotherapeutische Behandlung sinnvoll, rät Platz -- oftmals verbergen sich hinter der Online-Sucht Identitätsprobleme, Depressionen oder Manien. Wichtig seien aber zunächst die Einsicht und das Bekenntnis Betroffener, dass sie online-süchtig sind. Er fordert, dass Internet-Anbieter Warnhinweise zu den Suchtgefahren des Internet geben sollten. Betroffenen rät Gabriele Farke, ihren Internetzugang mit Kindersicherungsprogrammen einzuschränken und den Computer an einem möglichst ungemütlichen Platz aufzustellen.

Umfassende Informationen und Ansprechpartner zum Thema Onlinesucht findet man im Internet. Das Münchner Therapiezentrum für Internet-Abhängige bietet einen Online-Test zur Internetsucht an. (Tobias Schormann, dpa) / (see)